„’68 liquidieren“

Nicolas Sarkozy stilisierte den „Geist von ’68“ zum Hauptfeind. Auch eine Art Antikapitalismus für dumme Kerle. taz, 9. Mai 07

 

Die Klimax der letzten Wahlkampftage hat sich Nicolas Sarkozy für einen speziellen Gegner aufgespart – so als wäre der der eigentliche Feind, den es zu schlagen gilt: der „Geist von ’68“. In seinen letzten Wahlkampftagen geriet der Mai ’68 zu einem „imaginären Hauptfeind“ (Liberation), vor dem sich seine reale Rivalin klein und unbedeutend ausmachte. Wegen ’68 gäbe es „keinen Unterschied mehr zwischen Gut und Schlecht“, trommelte der Kandidat, ’68 habe „den Zynismus in die Gesellschaft und die Politik“ gebracht. An allen Übeln der Welt, so Sarkozy, sei ’68 schuld, an der Verächtlichmachung von Staat und Familie, aber auch am Turbokapitalismus und an der Börsenspekulation – denn das „Anything Goes“, das die Revolte durchgesetzt habe, würde nun von gierigen Kapitalisten ausgenützt. Sein Ziel als Präsident sei nichts weniger, als den Geist von 1968 zu „liquidieren“. Man reibt sich die Augen: Ein Datum, das fast 40 Jahre zurückliegt, wird zum zentralen Wahlkampfthema. So als wäre ’68 der Schlüsselmoment der jüngeren Geschichte und alles andere ein Klax – von Kaltem Krieg bis Mauerfall und 9/11.

 

Ist ’68 wirklich so schrecklich? Oder spinnt der Mann nur? Natürlich hat das 68er-Bashing heute seinen fixen Platz im rhetorischen Fundus radikaler Neokonservativer. Und in gewissem Sinne ist ’68 auch ein einfacher Gegner, weil der „Geist von 68“ längst von den 68ern selbst delegitimiert wurde. Von denen, die ihre Ideen verraten haben (die erscheinen als prinzipienlos), und denen, die sie nicht verraten haben (die erscheinen als altmodisch). Gewiss auch führen viele Spuren von ’68 als Schlüsselmoment der Sechziger-Jahre-Modernisierung weg. Die verallgemeinerte Konsumkultur, Hedonismus statt Traditionsorientierung ist eine dieser Spuren – aber nur eine unter mehreren. Die Bobos und die Yuppies sind auf ihre Art auch Erben des Aufbruchs, da hat er schon Recht, der Sarkozy.

 

Doch der Widerspruch in dieser Argumentationsreihe ist: Wenn man ’68 in einem derart weiten Sinne interpretiert, verliert das Datum augenblicklich die Signifikanz, die ihm gerade noch zugeschrieben wurde. Dann ist es ein letztlich unerheblicher und von seinen Akteuren (und seinen Gegner) maßlos überbewerteter Augenblick im Wandlungsprozess des alten, formierten Kapitalismus zum modernen, postfordistischen Konsumkapitalismus. Weil sie den Konsumkapitalismus nicht angreifen wollen, hauen die Neocons auf die ’68er ein, als könne man beides haben: einen brummenden, globalisierten Kapitalismus und die moralische Ordnung der fünfziger Jahre. So gesehen ist das Anti-68er-tum heute eine der vielen Spielarten des Antikapitalismus der dummen Kerls.

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