Blairs Vision – Ten Years After

Mit der Niederlage bei den Regionalwahlen beginnt für Tony Blair der Countdown zum Abschied. Immerhin: Es wurde kein vollendetes Debakel, Blair kann also erhobenen Hauptes gehen. Aus diesem Anlass: Hier das "profil"-Interview, das ich gemeinsam mit Kollegin Palme 1998 mit Tony Blair in London führte. Darin spricht er über den Euro, die „neue“ Sozialdemokratie und das Leben als Polit-Ikone.

profil: Mister Prime Minister, die EU-Präsidentschaft Ihres
Landes neigt sich dem Ende zu. Sie hatten die Einführung des Euro zu
präsidieren, doch paradoxerweise gehört Großbritannien nicht zur
Euro-Zone. Sie stehen draußen und blicken hinein – glauben Sie, daß
das der richtige Platz für Ihr Land ist?

   Blair: Ja, für Großbritannien ist das der richtige Platz. Das
hindert uns nicht an konstruktiver Arbeit für Europa. Wir haben
während unserer Präsidentschaft den Euro erfolgreich auf den Weg
gebracht – trotz des eher schwierigen Brüsseler Wochenendes. Meine
Regierung trifft alle nötigen Vorkehrungen, der Euro-Zone
beizutreten, für den Fall, daß wir das wollen. Es gibt bereits eine
sehr gesunde Debatte in Großbritannien, in der Industrie etwa, über
die Vorteile eines Beitritts. Während unserer Präsidentschaft wurde
außerdem der Startschuß zur EU-Erweiterung gegeben, hier gibt es
sicher einige Schwierigkeiten, doch entscheidend ist auch in diesem
Fall: Das ist in Angriff genommen. Und in der Frage der europäischen
Beschäftigungspolitik ist ebenfalls einiges weitergegangen. Also:
Nicht nur Großbritannien ist am richtigen Platz, auch Europa bewegt
sich in die richtige Richtung.

   profil: Großbritannien ist sehr auf seine nationale Souveränität
bedacht. Hat die Einführung des Euro nicht notwendigerweise ein
starkes, bundesstaatliches Europa zur Folge?

   Blair: Niemand will die Identität der Nationalstaaten
untergraben. Doch die Menschen wissen, es ist ein Glück, daß es
einen gemeinsamen Markt und bald auch eine gemeinsame Währung gibt.
Damit die Währungsunion aber funktioniert, braucht es so etwas wie
eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik – so müssen wir die
Fähigkeiten unserer Beschäftigten verbessern, sodaß die, die heute
arbeitslos sind, überhaupt erst wieder beschäftigbar werden, wir
müssen die kleinen Unternehmen ermutigen, die
Innovationsbereitschaft in Europa fördern.

   profil: Für all das braucht es aber ein starkes,
entscheidungsfähiges, supranationales Zentrum.

   Blair: Nun, die Zins- und Wechselkurspolitik, die Europäische
Zentralbank also, funktioniert auch bei den gegenwärtigen
Bedingungen. Aber ich stimme Ihnen zu, es braucht eine Vision für
dieses Europa, die über die bloß ökonomische Perspektive hinausgeht.
Das wird die kommende Debatte in Europa. Bevor wir sehr
ausgeklügelte Verträge verhandeln, müssen wir uns prinzipiell
überlegen: Was ist das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und
dem Zentrum Europas und den verschiedenen EU-Institutionen, wie
machen wir sie den Menschen gegenüber rechenschaftspflichtig?

   profil: Teil dieser Vision muß dann doch aber eine wirkliche,
kontrollierbare EU-Regierung und ein richtiges, kontrollierendes
Parlament sein.

   Blair: Nicht unbedingt. Wir brauchen mehr Integration in
bestimmten Bereichen und mehr Subsidiarität in gewissen anderen.
Denn die Angst, daß Europa zu zentralistisch organisiert sein
könnte, geht doch in jedem europäischen Land um.

   profil: Mister Prime Minister, es gab einige Kritik an Ihrem
Management des Brüsseler Euro-Gipfels. Vor allem die Vertreter der
kleinen Länder waren frustriert.

   Blair: Es gehört zum Job der EU-Präsidentschaft, daß man solche
Kritik annimmt. Aber die Kritik wäre wohl viel stärker und
berechtigter gewesen, wenn wir früher zu einem Ergebnis gekommen
wären – denn das wäre dann nämlich ein schlechtes Ergebnis gewesen;
oder wenn wir, was manche vorgeschlagen haben, die Entscheidung über
den EZB-Präsidenten um ein paar Wochen verschoben hätten. Das wäre
doch ein totales Desaster gewesen, mit allen möglichen Reaktionen
der Finanzmärkte. Wir haben die richtige Entscheidung herbeigeführt:
Herr Duisenberg hat doch immer gesagt, er will gar nicht für acht
Jahre im Amt bleiben. Die Frage war nur: Wird ihm ein
Rücktrittsdatum vorgeschrieben, oder bleibt es seine Entscheidung,
wann er geht? Nach elf Stunden war letzteres das – gute – Ergebnis
der Debatte. Außerdem stimmt es nicht, daß nur die großen
europäischen Mächte involviert waren – Holland etwa war in jedem
Augenblick in die Debatte einbezogen. Doch um ganz ehrlich zu sein:
Natürlich waren das auch für mich elf recht schmerzhafte Stunden,
aber es hat sich gelohnt, sich die Zeit zu nehmen.

   profil: Eines bleibt jedoch unbestritten: Großbritannien ist
nicht von Beginn an bei den elf Ländern Eurolands dabei.

   Blair: Okay, aber bedenken Sie doch, was sich in dem einen Jahr
der Labour-Regierung verändert hat. Wir reden gerade über den
jüngsten Gipfel, wo Großbritannien zwischen verschiedenen
europäischen Ländern vermittelt hat. Das ist ja nicht gerade die
Rolle, die wir in den vergangenen Jahren, als wir sehr isoliert
waren, gespielt haben. Aber wir haben die Entscheidung, nicht von
Beginn an dabeizusein, aus guten politischen, vor allem aber aus
ökonomischen Gründen getroffen. Es handelt sich um eine Wirtschafts-
und Währungsunion, die kann nur funktionieren, wenn sie ökonomisch
funktioniert. Großbritannien hat immer noch einen anderen
Konjunkturzyklus als Frankreich oder Deutschland. Wir sind am
Höhepunkt des Aufschwungs, vielleicht haben wir ihn schon hinter
uns, während er in Frankreich und Deutschland gerade erst beginnt.
Eine Währungsunion würde für uns ökonomisch deshalb noch nicht
funktionieren.

   profil: Das hängt auch mit dem engen Verhältnis Großbritanniens
mit den USA zusammen. Daran wird sich doch in Zukunft nichts ändern.
Dieses Argument würde Sie also auch künftig außerhalb der elf
Euroländer stellen.

   Blair: Nein, daß wir uns entscheiden müßten zwischen unserer
Bindung an die USA und unserer Bindung an Kontinentaleuropa, ist
eine ganz lächerliche Frontstellung. Unsere Bindung an die USA ist
genauso stark wie unsere Bindung an Europa – zu unser aller Vorteil.
Ich habe auf die Fortschritte hingewiesen, die wir im letzten Jahr
in unserem Verhältnis zur Europäischen Union gemacht haben. Unserem
Verhältnis zu den USA hat das nicht geschadet.

   profil: Aber warum sagen Sie dann nicht, daß Großbritannien
sicher der Euro-Zone beitreten wird?

   Blair: Wir haben prinzipiell klargemacht, daß wir gerne Teil
einer erfolgreichen Währungsunion wären. Nur haben wir keinen
Zeitplan aufgestellt, wann der richtige Moment für einen Beitritt
ist. Das ist hier eine sehr sensible Angelegenheit.

   profil: Herr Blair, lassen Sie uns über New Labour sprechen. Es
gibt da eine gewisse Konfusion der Kommentatoren in Europa. Für
manche ihrer Ideen erhalten Sie Applaus von links, für andere
Applaus von rechts.

   Blair: Vielleicht ist das gar keine Konfusion, sondern notwendige
Folge dessen, was moderne Politik heute sein muß. Vor zehn Jahren
hätten die Leute gesagt: Die Wirtschaftskompetenz haben die
Konservativen. Nun sehen Sie sich an, was seitdem in Holland, in
Portugal, in Österreich geschehen ist, sehen Sie sich New Labour an
oder Bill Clintons Budgetpolitik. Wenn die Linke verantwortungsvolle
Politik macht, heißt es, sie verrät ihre Prinzipien. Doch es ist
nicht die historische Aufgabe der Linken, machtlos, aber reinen
Gewissens zu sein. Auch wenn wir über entschlossene
Verbrechensbekämpfung reden, dann ist das keine rechte Politik. Wenn
ich in die ärmsten Gegenden meines Landes gehe, dann höre ich, daß
die Menschen dort von mir erwarten, daß ich die Kriminalität in
ihren Vierteln bekämpfe. Nur: Ich kann die jungen Leute, die einer
alten Dame die Handtasche rauben, ins Gefängnis stecken oder aber
ihnen eine Ausbildung und die Chance auf einen Job geben. Und
letzteres ist das, was ich New Labour nenne.

   profil: Würden Sie sich als Sozialisten bezeichnen?

   Blair: Wenn Sozialismus ein System von Werten ist, dann ja. Wenn
es eine Organisation des Wirtschaftslebens meint, Nationalisierungen
etwa oder staatliche Kontrolle der Ökonomie, dann nein. Heute ist
Konsens, daß wir eine Marktwirtschaft brauchen. Die Frage ist nur,
regelt der Markt alles, oder spielen Regierungen noch eine Rolle.

   profil: Die Sozialisten haben immer für die gesprochen, die „am
Markt“ nicht so erfolgreich sind. Wer nimmt sich derer künftig in
Großbritan-nien an?

   Blair: Das tun wir doch. Wir haben das umfassendste Programm für
die Langzeitarbeitslosen und die Jungen ohne Job gestartet, das es
in diesem Land jemals gegeben hat. Wir haben einen Mindestlohn
eingeführt. Wir stellen Geld für Ausbildung und für die
Gesundheitsversorgung zur Verfügung, helfen den ärmsten Rentnern.
Aber wir tun es auf eine Art, die einer dynamischen Wirtschaft nicht
Schaden zufügt. Und wir sagen vor allem: Mit den Leistungen für die
Wohlfahrt übernehmen die Leute auch eine Verantwortung. Wenn ich
Geld für die Ausbildung ausgebe, dann erwarte ich, daß die Eltern
sich darum kümmern, daß ihre Kinder in die Schule gehen, ich
erwarte, daß Lehrer diszipliniert unterrichten – und daß unfähige
Lehrer gar nicht mehr unterrichten. Ich erwarte, daß straffällige
Jugendliche die Chancen nützen, die man ihnen einräumt. Und wenn man
jungen Leuten die Möglichkeit gibt, in der Privatwirtschaft
Bildungsprogramme zu erhalten, dann erwarte ich, daß sie diese
Möglichkeit wahrnehmen.

   profil: Deshalb meinen manche Ihrer sozialdemokratischen
Kollegen, Ihre Ideen zur Reform des Wohlfahrtsstaates hätten einen
autoritären Zug.

   Blair: Die wirklichen Feinde des Wohlfahrtsstaates sind nicht die
Rechten, die ihn hassen, sondern die Linken, die jede Reform
ablehnen. Das Geld für die Wohlfahrt muß an die Leute gehen, die es
wirklich brauchen, nicht an jene, die das System ausnützen. Wenn man
den Menschen Chancen bietet, haben sie die Pflicht, sie zu nützen –
das ist heute die einzige Möglichkeit, den Konsens für den
Wohlfahrtsstaat in unseren Gesellschaften zu erhalten. Wenn Sie mich
fragen, wer spricht für die Armen, dann sage ich: Wir sprechen für
die Armen!

   profil: Herr Blair, Sie sind bereits so etwas Ähnliches wie eine
Ikone, sogar vom Blairismus ist bereits die Rede. Gibt es ein
Blair-Modell für die europäische Sozialdemokratie – und wie fühlt
man sich als Ikone?

   Blair (lacht): Eine Grundregel der Politik ist: Wer hoch fliegt,
stürzt tief. Ich werde von all dem Lob sicher nicht größenwahnsinnig
oder irre im Kopf. Es wird schon noch weniger Erfreuliches auf mich
zukommen. Aber ich schlage eine grundsätzliche Perspektive vor – Sie
können das einen „dritten Weg“ nennen, New Labour oder wie immer Sie
wollen. Und ich glaube schon, daß das etwas ist, was sich die
Menschen erwarten und erhoffen – das ist wohl der Grund für diese
erstaunliche Resonanz. Denn die Menschen wissen sehr gut: Es gibt
einen massiven Wandel – einen Wandel der Technologien, am
Arbeitsplatz, in der globalen Wirtschaft -, eine unglaublich
dramatische Phase der Entwicklung. Demgegenüber gibt es nun drei
mögliche Positionen. Die erste, die viele der alten Linken vertreten
haben, ist: Bekämpft den Wandel! Die Haltung der Konservativen ist:
Der Wandel passiert, was immer man tut. Unser „dritter Weg“ ist, daß
man die Menschen auf den Wandel vorbereiten muß, wirtschaftlich,
indem man in Ausbildung und Infrastruktur investiert, sozial, indem
man die gemeinschaftlichen Strukturen, die Communities,
wiederaufbaut, und politisch, indem man sich global engagiert und
nicht isoliert.

   profil: Um Ihre Partei für eine solche Politik reif zu machen,
mußten Sie beinahe das gesamte alte linke Ideengebäude abreißen. Ist
Labour jetzt noch Labour?

   Blair: New Labour ist ein Prozeß, in dem unsere Grundwerte
wiederentdeckt – nicht aufgegeben! – werden. Soziale Gerechtigkeit,
Solidarität ist für mich so wichtig wie je. Die Labour Party hat
sich dramatisch verändert – das hat sie auch gebraucht. Viel
wichtiger als die alten Institutionen ist der Kampf der Ideen.

   profil: Mister Prime Minister, eine Frage haben wir bisher
vergessen: Wer wird Fußballweltmeister?

   Blair: England, selbstverständlich. Und ich habe keinen Zweifel,
daß sich im Finale England und Schottland gegenüberstehen werden.

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