Wenn der Papst Hesses „Steppenwolf“ liest

Über die narrtive Konstruktion des "Ich". Theorie & Technik, die taz-kolumne, 8. Mai 07

 

 Einst, als ich noch sexuell aktiver war, hatte ich die Gewohnheit, bei neuen Bekanntschaften zunächst – das heißt, als drittes oder viertes – einen Blick auf das Bücherregal zu werfen. Das gab wenigstens einen groben Eindruck, an wen man denn jetzt wieder geraten war. Diese vergessene Gewohnheit kam mir in den Sinn, als ich unlängst in „Vanity Fair“ las, der Papst sei, als er noch der Priester Joseph Ratzinger war, ein eifriger Leser von Romanen gewesen. „Hesse, Kafka, Thomas Mann“. Päpstlicher Nachsatz: „Mein Lieblingsbuch von Hesse ist ‚Der Steppenwolf’“.

Da habe ich schon ein bisschen geschaut. Hesses Romantraktat über die Niedrigkeiten der bürgerlichen Welt, darüber, wie der wirkliche Mensch von „Scheinmenschen“, vom Bürger „erdrückt und gefangen gehalten“ werde, dieses frühe egoexistenzialistische Manifest: Eines von Ratzingers Lieblingsbüchern? Dieses „Gegen-die-Welt“-, „Gegen-den-Mainstream“-Pamphlet? Seit Generationen schon ist es für 14jährige das Eintrittsticket in etwas ungezieltes Rebellentum und Fixbestand dessen, was der Frühadoleszent, der irgendwie „dagegen“ ist, durchzunehmen hat: Hendrix, Hesse, Guevara. Übrigens: Kann man den Steppenwolf gut finden und sagen, „du sollst Vater und Mutter ehren“?

Interessant ist das alles ja nicht deswegen, weil es etwas über den Geschmack einer Person aussagt, welche Bücher sie gut findet, oder weil ein Buch wie der „Steppenwolf“ etwas über moralische und weltanschauliche Präferenzen desjenigen aussagt, der es schätzt. Nein, ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Es sind ja solche Bücher, mit Hilfe derer jemand sein Ich modelliert. Kurzum: Es ist nicht so, dass zuerst das „Ich“ ist und dann die Lektüre – dieses „Ich“ wird in der Lektüre erst produziert.

Ganz früher nannte man das „Herzensbildung“ und die sollte der Integration in die bürgerliche Welt dienlich sein. Aber auch die gegenkulturellen Milieus hatten ihre „Herzensbildungs-Lektüre“, nur war und ist die in der Regel eine gegenstrebige Herzensbildung: die handelt vom Ich, das sich gegen die Welt stellt. Von Hesses Harry Haller bis zu J. D. Salingers Holden Caulfield ist die Weltliteratur voller solcher Gestalten.

Wie es der Zufall so will, fiel mir, gerade als ich die päpstliche Selbstauskunft in „Vanity Fair“ las, der Aufsatz „Don Quixote and The Narrative Self“ in die Hände, den der norwegische Philosophieprofessor Stefán Snaevarr für das Magazin „Philosophy Now“ geschrieben hatte. Darin stellt er, in Anschluss an die Theorien Alasdair MacIntyres und Paul Ricoeurs Überlegungen zur narrativen Konstruktion des Ichs an. Literarische Role-Models sind natürlich nur einen Teil des Geschichten-Fundus’, mit Hilfe derer sich Individuen entwerfen. Das, was wir so „Individuen“ nennen, sind immer Produkte von (Selbst-)Erzählungen. Und es sind immer Geschichten, die die Individuen, zumindest als Rohmaterial, schon vorfinden. Im Extremfall spielen sie vorgefundene Geschichten nach, wie der traurige Don Quichotte, der so viele Rittergeschichten gelesen hat, dass er sich einbildete, er wäre selbst einer. Aber in einem gewissen Sinne sind wir alle Don Quichottes – wir haben Geschichten im Kopf, die nicht von uns stammen, sondern von denen vielmehr unser Ich abstammt. So gesehen ist unser „Ich“ immer ein „Anderer“.

Die Pointe daran: Ohne diesem „Anderen“ wäre ein „Ich“ schlechterdings undenkbar, wie wir seit Ricoeurs Narrativitäts-Studien wissen. Ohne kohärente Erzählung wäre das, was wir so ein Leben nennen, nur eine chaotische Serie von Ereignissen. Erst das, was wir uns über diese Geschehnisse selbst „erzählen“, verleiht diesen Geschehnissen Struktur, sodass ein „Leben“ daraus wird, also – im besten Fall – eine Biographie mit innerer Logik. Andererseits kann ein guter Plot noch den disparatesten Lebensgeschichten Sinn verleihen. Mit einer prima Geschichte kann sogar ein Straßenkämpfer erklären, warum er Außenminister werden musste, und dabei auch noch „er selbst“ blieb. Nur, wo diese narrative Konstruktion nicht mehr funktioniert, pflegt man zu sagen, jemand sei „ein anderer Mensch geworden“ – allerdings, selbst dann lassen sich meist logische Gründe für diese Umkehr finden. Und in der Zeit von „Patch-Work-Biographien“ wird es eher noch entscheidender, dem Leben narrative Kohärenz zu verleihen.

Die Geschichten, die jemand präferiert, sagen etwas darüber aus, wer er denn sein will. Übrigens liefert Ratzingers Selbstauskunft über seine „Steppenwolf“-Lektüre auch einen Schlüssel für sein neues Jesus-Buch. Dem Mann ist es ernst damit, die Machtinstitution, der er vorsteht, als Reich „nicht von dieser Welt“ zu etablieren – als geistige Gegenwelt zur Niedrigkeit der Realwelt. Was die Kraft von Erzählungen betrifft, kann man ihn ohnehin als Profi betrachten. Denn wer sollte besser über die Macht der Literatur Bescheid wissen als der Chefexeget einer der Buchreligionen?

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