Koalition der Unwilligen

Europäische Union. Der Brüsseler Gipfelkrimi zeigt wieder einmal: Europa kommt regelmäßig außer Tritt, weil Politiker daheim nur Applaus bekommen, wenn sie gegenüber den EU-Partnern die „nationale Ehre“ verteidigen. profil, 25. Juni 2007

Dass der EU-Gipfel von Brüssel nicht, wie planmäßig vorgesehen, in eineinhalb Tagen über die Bühne gehen würde, hatte Alfred Gusenbauer schon vorausgesehen. Sicherheitshalber hat er einen schönen Hemdenvorrat mit zum großen Geschacher genommen. „Sie können gewiss sein, dass die österreichische Delegation allen hygienischen Standards entsprechen wird“, scherzte der Kanzler noch vor der Abreise.

Doch schon Freitag Mittag musste Gusenbauer einsehen, dass man sich unmöglich auf alle Eventualitäten vorbereiten kann. Nachdem Frankreichs Neo-Präsident Nicolas Sarkozy während der nervenaufreibenden Verhandlungen regelmäßig bei Gusenbauer Zigarren geschnorrt hatte, war dessen Vorrat schon empfindlich geschrumpft, bevor es noch richtig los gegangen war.

Der übergroße Rauchwarenverbrauch war kein Zufall: Es war einer der brisantesten EU-Gipfel seit langem.

Angela Merkel, die Berliner Kanzlerin und amtierende EU-Ratsvorsitzende, hatte sich vorgenommen, so viel wie möglich von der EU-Verfassung zu retten, die seit den verheerenden Nein-Voten bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden praktisch politisch tot war. Von „Verfassung“ war dann schon zu Gipfelbeginn keine Rede mehr: nur mehr ein abgespeckter „Reformvertrag“ sollte beschlossen werden. Die EU-Partner haben es Merkel auch sonst nicht leicht gemacht: Niederländer und Tschechen nervten mit Forderungen, vor allem aber Polen und Großbritannien schalteten auf stur.

Nacheinander hatte Merkel ihre Kollegen zum Vier-Augen-Gespräch gebeten, den polnischen Präsidenten Lech Kaczynski sogar vier Mal. Nach dem dritten Privatissimum kamen erstmals konziliante Töne von polnischer Seite. „Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Polen und Deutschland sind nicht mehr sehr groß“, hieß es. Merkel hatte im Streit um die künftige Stimmgewichtung vorgeschlagen, die gegenwärtige Regelung – die für Polen deutlich günstiger ist als die im Verfassungsentwurf vorgeschlagene – einfach noch bis 2014 zu prolongieren. Als Zugabe winkte sie auch noch mit zusätzlichen polnischen Abgeordneten im EU-Parlament. Polen schien schon gewonnen, da hieß es plötzlich wieder: Scheitern wahrscheinlich. Pikantes Detail: Während Präsident Lech Kaczynski in Brüssel Einlenken signalisierte, fuchtelte sein Bruder Lech, der Premier, daheim mit dem Vetooption herum. Ein Spiel mit verteilten Rollen – guter Zwilling, böser Zwilling. Nach einem Ultimatum, das den Gipfel an den Rand des Scheiterns brachte, lenkte Polen in den frühen Morgenstunden ein.

Punkt für Punkt versuchte Merkel die Streitfragen abzuhaken. Es war ein Match mit vielen Variabeln – fast wie Schach. Durch die Annäherung mit Polen, beispielsweise, erweiterte Merkel ihren Spielraum: Tony Blair, der britische Premier, konnte dann nicht mehr insgeheim hoffen, dass eine Einigung möglicherweise an den Polen scheitern würde und er seinen Kampf um die britischen Sonderwünsche gewissermaßen aus der zweiten Reihe führen könne. Dann bot Merkel an, man müsse den künftigen EU-Außenminister ja nicht „Außenminister“ nennen. Man könne ihn doch auch „Hoher Repräsentant“ nennen, wenn er nur vergleichbare Kompetenzen habe wie der im Verfassungsentwurf vorgesehene „Mr. Europe“. Die Methode-Merkel, moderieren und gleichzeitig „Leadership“ zeigen, die schon beim jüngsten G-8-Gipfel funktioniert hatte, schien wieder zu klappen. Man hatte auch nichts anderes erwartet: „Wer, wenn nicht Angie?“ hatte die Hamburger „Zeit“ salopp gefragt, könnte einen Deal einfädeln. Merkel, die Frau mit viel emotionaler Intelligenz. „Sie macht das sehr, sehr gut“, war denn auch bald anerkennend aus Delegationskreisen zu hören.
Aber auch die Gegenseite wählte ihre Züge mit Bedacht, dem Motto entsprechend: Wer länger stur bleibt, holt am meisten heraus. Wie genau das Spiel ausgehen würde, war bei Redaktionsschluss dieser profil-Ausgabe völlig offen. Es war wie immer bei solchen Anlässen: Die Blockierer bestimmen das Spiel, die Integrationsbefürworter unter den Staats- und Regierungschefs sahen sich zu Randfiguren degradiert. Und Merkel kämpfte.

Den Krimi, mit schweißtreibenden Nachtsitzungen, Verlängerung bis in die frühen Morgenstunden, verlangt die Dramaturgie solcher Ereignisse. Ebenso, dass im Vorfeld die Staats- und Regierungschefs jeden Kompromiss blockierten. Denn die Politik ist ein Schauspiel, und die Akteure spielen auch für die Galerie. Auf der sitzt: Ihr Heimpublikum. Wer den Poker am längsten durchhält, gilt als harter Verteidiger nationaler Interessen, wer zu früh aufgibt, als Weichei. Marathonsitzungen haben daher im EU-Geschäft einen fixen Platz: Legendär ist etwa das Gezerre, das Frankreich, Deutschland und Großbritannien 1998 vor Einführung des Euro veranstalteten. Helmut Kohl, Jacques Chirac und Tony Blair machten damals die Frage, wer für wie lange Zeit erster Präsident der Euro-Zentralbank wird, in den frühen Morgenstunden unter sich aus, während ihre Kollegen zum Daumendrehen verurteilt waren. Im Jahr 2000, als in Nizza der bisher geltende EU-Vertrag zusammen geflickt wurde, war es nicht anders. Wichtige EU-Entscheidungen fallen nie bei Tageslicht – oder höchstens mit den ersten Sonnenstrahlen.

Die inszenierte Dramatik ist besonders dann gefragt, wenn sachliche Dispute zu nationalen Symbolfragen überhöht werden. Das war auch diesmal wieder so. Das Verhalten von Polens regierenden Zwillingen – Präsident Lech und Premier Jaroslaw Kaczynski –  lässt sich wohl am besten als auftrumpfendes Minderwertigkeitsgefühl beschreiben. Die Polen reagieren auf jede Zurücksetzung nervös, und fürchten stets, sie würden als Schlüsselmacht in Europa nicht ernst genommen. Die Botschaft: Wir wollen wichtig sein. Deshalb das Tauziehen um die Stimmgewichtung: Die im Verfassungsentwurf vorgesehene Regelung würde den Spielraum Deutschlands tatsächlich erheblich ausweiten – Berlin kann, wenn die Neuregelung in Kraft tritt, leichter mit Hilfe von wenigen Verbündeten Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat durchsetzen. Allerdings wäre die Regelung auch gerechter: Gegenwärtig hat Deutschland nur 8,4 Prozent der EU-Stimmen, während es Polen auf 7,8 Prozent bringt. Und das, obwohl Deutschland mehr als doppelt so viele Einwohner zählt. Außerdem lässt sich die Stimmrechts-Regelung, wie sie der ursprüngliche Verfassungsvertrag vorgesehen hat, nur im Kontext verstehen. So haben die Großen, die bei der Stimmrechts-Frage gewonnen haben, bei der Neuregelung der EU-Kommissionsposten nachgegeben. Hinzu kommt noch: Polen erhält in den nächsten sechs Jahren 50 Milliarden Euro aus den Brüsseler Töpfen – während Deutschland der größte Nettozahler ist. Kein Wunder, dass die Integrationsbefürworter unter den EU-Granden den Kaczynski-Zwillingen seit Wochen schon klarmachten, fortgesetzte Sturheit würde künftige Finanzplanungen nicht gerade entspannen. Ein Hinweis, dessen unverhohlen drohender Unterton die Spannungen nicht unbedingt entschärfte.

Doch mag der chronische nationale Minderwertigkeitskomplex der Polen stetige Spannungen begünstigen, so ist die Sache in dem Fall wenigstens ambivalent: Die Polen fühlen sich von den westlichen Partnern zwar schlecht behandelt und die Regierungsgeschäfte in Warschau werden von Europaskeptikern geführt, anderseits hat Polen eine der am meisten proeuropäischen Bevölkerungen.

Ganz im Gegensatz zu Großbritannien. Während Warschaus Präsident Kaczynski im Wesentlichen mit nur einer Forderung – der Neuverhandlung der Stimmengewichtung – nach Brüssel fuhr, hatte Londons Premier Tony Blair gleich einen fetten Forderungskatalog mit im Gepäck. Und das, obwohl er den Ursprungsvertrag selbst 2004 feierlich in Rom mit unterzeichnete. Blair galt deshalb schon zum Gipfelauftakt vielen EU-Diplomaten als das eigentliche Sorgenkind.

Blair übergibt die Regierungsgeschäfte kommende Woche an seinen Nachfolger Gordon Brown, und der fürchtet die antieuropäische Grundstimmung der Briten. Proeuropäische Nachgiebigkeit würde von den konservativen Torys für heftige Angriffe benützt, die Londoner Revolverblätter geißeln ohnehin jedes Stück „mehr Europa“ als Verrat an nationalen britischen Interessen. Blairs Wunschliste hatte es in sich: Weder dürfe der EU-Außenminister „Außenminister“ heißen, noch dürfe er über einen funktionsfähigen diplomatischen Dienst verfügen; weder in der Außen- noch in der Sicherheitspolitik wollte London Souveräntitätsrechte abtreten, noch akzeptieren, dass sich die EU-Grundrechtscharta auf nationale Gesetze auswirkt; auch dass die EU als eigene Rechtspersönlichkeit international bindende Verträge schließen kann, wollte Blair nicht mehr akzeptieren; in keiner halbwegs wichtigen Frage dürfe das britische Parlament überstimmt werden. „Alle zeigten auf die Polen“, sagte der grüne Europa-Abgeordnete Johannes Voggenhuber, der im Verfassungskonvent federführend war. „Dabei waren es die Briten, die eine Fronde gegen Europa organisiert haben.“

Darum, was vernünftig wäre und was nicht, ging es bei dem Geschacher schon längst nicht mehr. Sondern eher um kollektive Befindlichkeiten der Wähler daheim. Und das ist letztendlich das Grunddilemma der Europäischen Union – bei diesen kollektiven Befindlichkeiten handelt es sich immer um europaskeptische Reflexe, nie um proeuropäische. Man spielt für die heimische Galerie, und von der gibt es nur Applaus, wenn Lösungen blockiert werden. Verhindern wird zu einer Frage der nationalen Ehre erklärt. Für Kompromisse dagegen, die Europa voran bringen, gibt es höchstens wohlwollende Leitartikel in der Qualitätspresse – und auch das nicht immer. So bleibt Europa, auch wenn am Ende Notkompromisse als Erfolge verkauft werden, doch immer eine Art Koalition der Unwilligen.

Das Paradoxe daran: Gerade das hätte mit dem ehrgeizigen – ja: historischen – Projekt EU-Verfassung beendet werden sollen. Ziel war nicht nur, dass die Europäische Union als „Staat eigener Art“ demokratischer und die Institutionen der EU funktionstüchtiger werden sollten, es sollte auch ein Dokument entstehen, mit dem sich die Bürger der Union identifizieren könnten. Mit Europa als Idee – Flagge und Hymne inklusive.

Doch daraus wurde nichts. Schon der reichlich überfrachtete Text verhinderte das, das zornige Nein der Bürger bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden machte die schöne Phantasie zunichte. Wenn auch das Dokument im Ratifizierungsprozess von den meisten Parlamenten durchgewunken wurde – Europaeuphorie kam nirgends auf. Was bleibt, ist irgendwann ein „Reformvertrag“, der auch das künftige Funktionieren der Unionsinstitutionen garantiert. Die Details, auf die sich der Brüsseler Gipfel nicht einigen konnte, sollen nun auf einer „Regierungskonferenz“ von hohen Diplomaten geklärt werden. Spaziergang wird das keiner. „Polen hat dann die Chance, sich bei der Regierungskonferenz im Herbst dem europäischen Konsens anzuschließen“, sagte Angela Merkel in einer dramatischen Erklärung während der hektischen Nachtstunden.

„Eine Res Publica wollten wir aus Europa machen“, sagte Verfassungsarchitekt Voggenhuber in den Gipfel-Couloirs mit mehr als leiser Melancholie. Mit Sarkasmus fügt er hinzu: „Was haben wir uns bemüht.“

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