Alles relativ?

Werte zwischen Verfall und Leitkultur. Braucht eine moderne Gesellschaft moralische Normen und wie entstehen die? Ein Leitfaden für Wertedebattierer. Falter, 26. September 2007

 

 

Wenn Konservative öffentlich von „Werten“ reden, dann kennt man sich oft nicht aus. Schrecklich sei der Werteverlust, wird Tag für Tag festgestellt. Und dann wird gefordert, „sie“ sollen sich gefälligst zu „unseren“ Werten bekennen. Aber bitteschön, wie soll das denn gehen? „Sie“ sollen sich zu etwas bekennen, was „wir“ verloren haben? Klingt ziemlich –  wie sagt man heute? – artfremd.  Das ist in etwa so logisch wie die Aufrufe, „sie“ müssten sich an „unsere“ Spielregeln halten, ausgerechnet am Tag nach dem Aufmarsch des rechten Mobs vor einem türkischen Kulturzentrum in der Brigittenau. Das will ich mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn sich die Muslime an die Spielregeln der FPÖ- und ÖVP-Brigittenau hielten, vor Kirchen aufmarschieren und „Anzünden! Anzünden!“ schreien. Wir sehen also, da muss mehr Systematik rein! Wie ist das genau mit den Werten? Braucht der säkulare, weltanschaulich neutrale Staat „Werte“ um zu funktionieren? Und was hat das mit den Religionen zu tun?

 

Dass es einen Verfall der Werte gibt, wird ja schon beklagt, seitdem sich Werte ändern. Das Frauen gleichberechtigt im öffentlichen Leben agieren, wurde vor nicht allzu langer Zeit als Ausweis des Werteverfalls gesehen, ist aber heute einer der Werte, den „sie“ – also patriarchalisch geprägte Muslime – unbedingt akzeptieren müssen. Einer der heute am meisten gebrauchten Begriffe im Zusammenhang mit der Verfallsdiagnose ist der vom „Werterelativismus“. Joseph Ratzinger hat zur Eröffnung der Konklave, die er als Benedikt XVI. verließ, die „Diktatur des Relativismus“ angeprangert.

 

Ratzinger und andere Anhänger der Hypothese vom Werterelativismus sind dabei gar nicht der Meinung, dass die Menschen völlig ohne moralische Richtschnur durchs Leben gehen. Bloß folgten die Menschen nur mehr einer inneren Stimme. Und das Problem, schrieb Ratzinger schon 1993 in seinem Buch „Wahrheit, Werte, Macht“, sei, dass sich „Gewissensurteile widersprechen“, dass heute gewissermaßen jeder seine eigene Moral habe. Ganz offensichtlich teilen viele Menschen irgendwie diese Auffassung, dass der moderne Mensch nicht mehr weiß, woran er sich „zu halten hat“.

 

Doch daran schließen sich zwei Fragen an. Erstens: Ist das wirklich ein Problem? Zweitens: Ist das überhaupt wahr? Der viel gescholtene Werterelativismus, gibt der italienische Philosoph Paulo Flores d’Arcais zu bedenken, ist immerhin die „Basis für einen ethischen Pluralismus, ohne den demokratische Gesellschaften nicht existieren können“. Der Werterelativismus sei also gar kein Problem, oder besser: Wenn es ihn nicht gäbe, wäre das ein noch viel größeres Problem. Darüber hinaus, argumentierte unlängst der Soziologe Detlef Horster, ist die Relativismusdiagnose auch ziemlich unpräzise. Gewiss gibt es in modernen Gesellschaften viele schwierige moralische Abwägungsfragen, auf die man nicht sofort eine schlüssige Antwort zur Hand hat, denen gegenüber es oft mehrere moralische Haltungen gibt. Darauf stützt sich die Relativitätsdiagnose – meist nicht ohne den polemischen Hinweis, eine Haltung (meist die christlich-konservative) sei moralisch, alle anderen seien gefährlich relativ. Aber das heißt nicht, dass es keine Regeln, keine moralischen Normen gäbe, die weitgehend anerkannt sind – und die man erst dann spürt, wenn jemand gegen sie verstößt.

 

Fairnessregeln etwa. Vergeht sich jemand schroff gegen Fairnessregeln, ist ihm die Verachtung seiner Mitbürger gewiss. Da der Geist der modernen Gesellschaft (wenngleich nicht die gesellschaftliche Realität) heute viel egalitärer ist als etwa vor hundert Jahren, wird Verhalten, das früher noch akzeptiert worden wäre, heute nicht mehr akzeptiert. Auch Gewalt ist weniger akzeptiert – Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder. Die modernen Gesellschaften werden moralischer, auch wenn das die Bürger nicht so empfinden mögen, wie viele Studien zeigen. So wurden in Deutschland 1993 666 Morde begangen, im Jahr 2002 waren es schon nur mehr 421. Die Bürger hatten aber das subjektive Empfinden, die Zahl der Morde habe sich in etwa verdoppelt. Die These vom Werteverfall lässt sich also kaum halten. Aber es gibt nicht nur moralische Individuen, sondern auch eine objektive Moral, moralische Regeln, und die Bürger sind nicht frei, sich ihre eigene „Präferenzskala moralischer Regeln zu bilden“ (Detlef Horster). Wenn von konservativer Seite also der Werteverfall beklagt wird, dann können sie höchstens meinen, dass die heute geltenden moralischen Regeln nicht mehr mit den konservativen Normen identisch sind.

 

Wenn es also noch geltende Werte gibt, heißt das, dass die modernen westlichen Gesellschaften ein Gerüst an Normen haben, denen sich Migranten anpassen müssen? Ja und Nein. Diese Diskussion wird ja seit zehn Jahren regelmäßig geführt. Erst tauchte der Begriff „Leitkultur“ in den Feuilletons auf, bis ihn im Jahr 2000 der damalige deutsche CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz als Kampfbegriff in die Integrationsdebatte einführte, interessanterweise um ein Adjektiv ergänzt: „deutsche Leitkultur“ – ein Wort, dass im Jahr 2000 lustigerweise sowohl zum „Wort des Jahres“ wie zum „Unwort des Jahres“ gekürt wurde.

 

Abgesehen von der Kuriosität, dass von konservativer Seite die Anpassung an Werte gefordert wird, deren stetiger und unaufhaltsamer Verfall dauernd beklagt wird, ist die Frage natürlich komplizierter. Schließlich sind moralische Normen in einer Gesellschaft nicht fix, sondern verändern sich und sind auch umkämpft. Also: Die gesellschaftliche Moral würde, spielte eine wachsende muslimische Community tatsächlich eine nennenswerte öffentliche Rolle, auch verändert. Zweitens ist es schwierig, eine Menschengruppe auf moralische Normen zu verpflichten, von denen sie den Eindruck hat, sie würden ohnehin dauernd verletzt – gerade Einwanderer finden ja meist zu Recht, dass die proklamierten Fairnessregeln stetig missachtet würden, sie Objekte von Doppelmoral und Heuchelei seien. Und drittens ist es natürlich auch vorstellbar, dass eine Gesellschaft mit einem gewissen Grundbestand an moralischen Normen auskommt, während in gesellschaftlichen Submilieus – den berühmten „Parallelgesellschaften“ – ein detaillierterer Satz an moralischen Regeln diesen „Grundbaukasten“ überragt. Das muss kein Problem sein, vorausgesetzt, diese „Spezialregeln“ widersprechen nicht den „Grundregeln“, etwa den Freiheitsnormen.

 

Über all das kann man diskutieren. Wenn man dabei Selbstgerechtigkeit und Überlegenheitsgesten vermeidet, kann eine solche „Wertedebatte“ sogar fruchtbar sein. Bestimmt wäre es auch am Sinnvollsten, dabei gerade nicht die Repräsentanten der Religionsgemeinschaften zu involvieren. Schließlich geht es um das Selbstverständnis des weltanschaulich neutralen Staates, und es ist eher ein Fluch als ein Segen, dass heute Community-Identitäten nur als religiöse Identitäten im öffentlichen Diskurs Gehör finden. Aber selbst wenn man den „Dialog der Kulturen“ als religiösen Dialog aufzieht, wird man so manche Überraschung erleben. Dass beim Religions-Dialog vergangene Woche im Kanzleramt nur die männlichen Bischöfe, Imams und Rabbis das Sagen hatten, stieß so manche Beobachterin sauer auf.

 

Hörbarer Protest kam aber nur von der Vertreterin der Musliminnen.

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