Gott schütze uns – vor den Religionen

Der taz-Leitartikel zum 6. Jahrestag des 11. September

 

 

 

So paradox das klingen mag: Am 11. September 2001 war die Welt noch in Ordnung. Und auch die Anschläge von Osama bin Ladens Todessekte brachten die Welt noch nicht vollends aus dem Lot. Noch einige Zeit konnte man sich darauf einigen, ein neuer Totalitarismus, der „Islamismus“, habe die freie Welt ins Visier genommen. Also: Nicht Kampf der Kulturen. Sondern Kampf der Freiheit gegen die Kräfte der Unfreiheit.

 

 

Sieben Jahre später haben wir den täglichen Kleinkrieg der Kulturen – mit allerlei Überspanntheiten, aber auch mit Mordversuchen, wie der jüngsten Messerattacke auf einen jüdischen Rabbiner in Frankfurt. Ein Einzelfall? Einzelfälle kommen hier nicht aus dem Nichts.

 

Man kann sich die Sache noch immer, ja, fast möchte man sagen: schönreden. Dass dies eben die Pathologie radikaler Muslime allein ist. Aber längst hat das Reden von den „Kulturen“, den „Identitäten“ und von der „Rückkehr der Religionen“ eine viel tiefer gehende gesellschaftliche Pathologie zur Folge. Die postmodernen Ideen von den Patchwork-Identitäten und den Bastel-Biographien, sie sind fast vergessen. Menschen, wie komplex ihre Leben auch sein mögen, gelten wieder zuvorderst als Produkte ihres religiösen Herkommens. Sie werden anhand kultureller Bruchlinien sortiert und sortieren sich selbst.

 

Muslime stehen unter Generalverdacht. Die christlichen Kirchen sehen ihre Chance in der Abgrenzung – und behaupten im selben Atemzug, sogar die Aufklärung sei Folge des „jüdisch-christlichen Erbes“. Das ist nicht nur abstrus, weil alles an zivilisatorischen Fortschritten den Kirchen abgerungen wurde, sondern hat einen eifernden Subtext: „die Anderen“ passen eben nicht „zu uns“. Ein Echo des Eifers, wie er die großen Monotheismen seit jeher eigen war, trotz säkularer Tarnung. Noch im Versuch, die Leidenschaften zu zähmen, hofft man auf die Religion: Kein Round-Table zur Integrationspolitik ohne Imam, Bischof, Rabbi.

 

Das ist es, das 9/11-Syndrom: die Rückkehr der religiösen Identitäten in den öffentlichen Diskurs. Gott schütze uns vor der Renaissance der Religionen.

2 Gedanken zu „Gott schütze uns – vor den Religionen“

  1. Mit Verlaub, aber mein Eindruck nach der Lektüre Ihres Artikels ist, dass Sie nicht ausreichend informiert sind. Einerseits beklagen Sie den Epochenbruch, den der Elfte September ausgelöst hat. Und andererseits scheinen Ihnen die Basics zur Analyse der politischen Situation unserer Zeit zu fehlen. Was ich damit meine? Nun, schauen Sie sich doch mal an, wie die Junge Welt heute über den sechsten Jahrestag berichtet hat.
    http://www.jungewelt.de/2007/09-11/004.php
    Dort wird nämlich Daniele Ganser vorgestellt, ein Schweizer Historiker, der anders als Sie seine Informationen über 9/11 und die Zeit danach nicht aus der Mainstream Presse bezieht, sondern sich stattdessen die Mühe macht, deklassifizierte Dokumente in Nato Archiven zu studieren. Aber bei einer solchen Herangehensweise müsste man ja nachdenken und womöglich lieb gewonnene Weltanschauungen aus den 90er Jahren in Frage stellen. Nach der Lektüre Ihres Artikels überwiegt bei mir jedoch das Gefühl, dass Sie dafür vielleicht schon zu alt sind.
    H. Ritz

  2. Lieber Herr Misik,
    Sie schaffen es, mich immer wieder auf´s Neue zu verärgern – obwohl oder vielleicht gerade deshalb, weil Sie stets das Immergleiche fabrizieren. Ihre immer wieder angewandten – Strategien sind Verallgemeinerung und Gleichsetzung, noch ehe Phänomene in ihrer Eigenheit erfasst sind, womit sie sich aber jeder kritischen Reflexion über die jeweiligen Phänomene bequem entziehen.
    Aber genau darum geht es Ihnen ja offenbar nicht: Kritik. Vielmehr geht es Ihnen um die billige Befriedigung der Bedürfnisse der sich links wähnenden mitteleuropäischen Durchschnittsleserschaft und vermutlich auch derjenigen Nicht-Linken, die bereit wären, ins linke Gemein-Boot zu steigen, wenn man ihnen so weit wie möglich entgegenkommt. Sie sehen es offenbar als Ihre Aufgabe an, linke Gesinnung zu popularisieren und sie möglichst vielen Personen verständlich zu machen – wie bei allen (miesen) Popularisierern auf Kosten von Begriffsbildung und Kritik, letztlich des Denkens.
    So können Sie natürlich beim Thema 09/11 gar nicht anders als, anstatt das Problem in der mörderischen islamistischen Ideologie, die zu den barbarischen Anschlägen des 11. 9. 2001 geführt hat, zu sehen, Religion allgemein zu kritisieren – und damit einfach über die Spezifika des Djihadismus, ohne die das Charakteristikum der Anschläge nicht begreifbar ist, hinwegzusehen. Sie beklagen stattdessen, dass Menschen wieder in kulturelle Identiäten gepresst werden, ohne zu fragen, ob es zwischen diesen Identitäten, zwischen Westen und Orient, Christentum und Islam qualitative Unterschiede gibt. Die Kategorie Kultur mag problematisch sein und vieles nicht erklären bzw. in verzerrtem Licht darstellen, aber sie ist zumindest ein Instrument, um objektive Unterschiede – wie ideologisch auch immer – festzuhalten, von denen Sie in nichts wissen wollen. Offenbar wollen Sie auch nicht sehen, was der 11. September tatsächlich in den westlichen Staaten bewirkt hat. Nämlich nicht, dass Muslime „unter Generalverdacht“ stünden, wie sie, die jeder Grundlage entbehrende „Islamophobie“-Klage übernehmend, behaupten – Ressentiments gegen Muslime sind nach wie vor durch Rassismus und Xenophobie und nicht durch Islamophobie motiviert – nämlich einen klassen- , alters- und weltanschauungsübergreifenden, antisemitisch aufgeladenen Antiamerikanismus und eine Verharmlosung der islamistischen Barberei – entweder in Form offener, meist als plump-materialistische Erklärung vorgebrachter Affirmation ihrer Greueltaten wie aus dem antiimperialistischen Lager oder dem rechten Stammtisch („Verzweiflungstaten“, „keine andere Chance, sich zu wehren“) oder in Form eines Äquidistanz-Gestus, wie er in der von ihnen betriebenen Gleichsetzung von „Imam, Bischof, Rabbi“ zum Ausdruck kommt.
    Äquidistant – so verhalten Sie sich auch gegenüber der „Israel-Lobby“ und ihren Kritikern in ihrer neuesten profil-Story, in der Sie mit keinem Wort das iranische Atomprogramm erwähnen, das für Israel eine ernsthafte Bedrohung darstellt (und lediglich von den USA ernsthaft abgelehnt wird, während das von Ihnen als Israel-freundlich gerühmte Deutschland – wie auch Österreich – mit dem Iran weiter munter Handelsbeziehungen pflegt) und von der Ihnen klar sein müsste, dass sie Wasser auf die Mühlen des in Österreich noch immer sehr lebendigen Antisemitismus ist. Aber das ist – wenngleich Sie auch hier das Immergleiche fabrizieren – eine andere, noch viel ärgerlichere Geschichte.
    Gott schütze uns vor einem Journalismus, der nicht mehr als ein – bei näherer Betrachtung recht perfides – „Einerseits-Andererseits“-Geschwätz, das stets darauf hinaus läuft, dass doch alles seine guten und schlechten Seiten hat, um schließlich noch für das Schlechteste Verständnis zu haben, zu bieten hat.
    Alain Roquefort

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