Dialektik des Schweigens

Das Massaker von Rechnitz war lange ein verschwiegenes Verbrechen – doch gerade dadurch wurde der Ort berühmt. Rechnitz ist eine Metapher auf die Raison d’etre von Nachkriegsösterreich. taz, 30. Oktober 2007

 

„Das wird jetzt eine Gruselgeschichte mit Societyeinschlag“, sagt Paul Gulda sichtbar abgestoßen. Schnell fügt er aber hinzu: „Doch für uns ist das ja nicht schlecht.“ Mit „uns“ meint der weltbekannte Pianist den Verein „re.f.u.g.i.u.s“, der sich im burgenländischen Rechnitz um das kümmert, was man so „die Aufarbeitung der Vergangenheit“ nennt. „Jetzt wird jenen Rechnitzern, die noch etwas wissen und schweigen vielleicht klar, dass sie reden müssen. Sonst hängt dieses exemplarisch grausame Verbrechen für immer über ihren schönen Ort.“

 

Dort, wo vor 62 Jahren in den letzten Kriegstagen rund 180 Juden ermordet wurden, findet nunmehr schon seit mehr als zehn Jahren eine jährliche Gedenkfeier statt. Nicht zufällig nannte der Schriftsteller Robert Menasse die Rede, die er dabei in diesem Frühjahr hielt, „Über das Schweigen“. Menasse: „Noch nie in der Geschichte hat sich durch hartnäckiges Schweigen soviel historisches Wissen akkumuliert.“

 

Kaum wo ist diese These plausibler als hier. Rechnitz gilt als der paradigmatische Ort einer „Verschwörung zum Schweigen“. Und gerade das machte Rechnitz weithin berühmt, nicht erst, seit der Autor David R. L. Lichtfield in seiner zunächst im „Independent“, dann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen Kolportage über die Höllennacht am Schloss der Gräfin Margit Thyssen-Batthyany das Thema boulevardfähig gemacht hat.

 

Rechnitz liegt, wie man so sagt, am Ende der Welt, oder zumindest am Ende der österreichischen Welt. Hier ist der einzige Flecken, an dem das ansonsten so flache Burgenland nicht ganz flach ist. Der Naturpark Geschriebenstein erhebt sich hier. Der Stausee von Rechnitz, in dem im Sommer die Kinder baden, sieht fast aus wie ein Gebirgssee. Von dem kann man runterblicken in die Ebene. Viel los ist hier nirgends. Ein Gasthof pro Dorf, mehr nicht. Ein paar Minuten braucht man nach Oberwart, ein paar mehr nach Stinatz, auch Deutsch-Schützen ist nicht weit, vor allem, seitdem die Grenzlandförderung der EU kam und aus der holprigen Landstraße eine vierspurige Rennstrecke wurde.

 

Hier sprechen schon die Ortsnamen. Deutsch-Schützen sagt seit jeher, dass man hier auf das „Deutschtum“ hielt, weil es ja auch weniger selbstverständlich war als anderswo in Österreich. In Oberwart gibt es eine große Roma-Siedlung. Vor noch nicht einmal 15 Jahren wurden hier drei Roma bei einem rassistischen Bombenanschlag ermordet. Stinatz ist eine kroatische Siedlung, die deshalb berühmt wurde, weil es so viele, die hier Kinder waren, später weit brachten. Die Resetarits’ kommen von hier. Der Willy wurde zu einer Rocklegende („Schmetterlinge“, „Ostbahnkurti“), der Lukas zu einem Multistar („Kottan ermittelt“). Und die „Resi“, die hier als Kind durch die Gassen lief, saß später als Teresija Stoisits jahrelang für die „Grünen“ im Parlament in Wien.

 

Es ist, wie man so sagt, eine raue Gegend. Man muss nicht lange hier sein, bis man hört, hier gibt es ein „dunkles Geheimnis“. Es ist ein seltsames Geheimnis. Ein Geheimnis, weil es mit Schweigen zu tun hat, aber auch kein wirkliches Geheimnis, weil es ziemlich bekannt ist. Denn die Fakten sind klar, nicht nur für Insider. Schließlich kommen zu den alljährlichen Gedenkfeiern Superintendenten, Minister, Bischöfe, Oberrabbiner, Ex-Bundeskanzler. 1944 und Anfang 1945 wurden in dieser Gegend tausende ungarische Juden auf Todesmärschen herangetrieben, um Kriegsgefangene und „Fremdarbeiter“ bei Grabungen zum Südostwall zu unterstützen. In der Nacht vom 24. zum 25. März wurden beim Kreuzstadl, einer Scheune, die heute eine Gedenkstätte ist, rund 180 Juden ermordet, weil sie als „arbeitsunfähig“ eingestuft waren. Das Erschießungskommando rekrutierte sich aus dem Kreis der Teilnehmer eines Nazi-„Kameradschaftsfestes“, das in dieser Nacht am Thyssen-Schloss stieg. Es war sicher eine seltsame Art von Party, wohl eher ein apokalyptisches Gelage – die Rote Armee stand nur mehr 15 Kilometer entfernt. 40 bis 50 Personen nahmen an diesem „Last Waltz“ teil, 15 von ihnen hat der Gestapomann von Rechnitz, Franz Podezin, für das Peloton ausgewählt. „Die Opfer mussten zuerst (…) ihre Überkleider ausziehen und sich an den Rand einer auf freiem Feld in der Nähe des Schlachthauses bereits ausgehobenen Grube setzen; (…) dann wurden sie erschossen, ein Teil von ihnen vielleicht auch erschlagen“, hieß es später in den Gerichtsakten. Die Toten wurden erst notdürftig verscharrt. Anderntags wurde ein Massengrab ausgehoben – von anderen Zwangsarbeitern, die ihrerseits wieder ermordet wurden.

 

Der Schrecken dieser Nacht hängt deshalb heute noch über dem Landstrich, weil die Sache später „aktiv vergessen“ wurde. Zwar wurden nach 1945 in Österreich „Volksgerichtshöfe“ eingerichtet, die die Naziverbrecher bestrafen sollten, die zu Beginn auch entschieden arbeiteten (das organisierte Begnadigen kam erst später), und auch in diesem Fall gab es zwei Prozesse. Doch zwei potentielle Hauptverantwortliche waren nicht greifbar – der Haupttäter Podezin hatte sich ebenso wie der Gutsverwalter der Thyssens aus dem Staub gemacht –, zwei Beschuldigte starben, einige wurden angeklagt und verurteilt. Dem Nazi-Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka, konnte eine Mitverantwortung nicht nachgewiesen werden. Zeugen meldeten sich nicht oder widerriefen ihre Aussagen und zwei wurden ermordet, sodass, wie die Historikerin Eva Holpfer nahe legt, wohl auf „Einschüchterung durch Terror“ zu schließen ist. Dafür spricht, dass schnell merkbar wurde, dass die Verurteilten auf Unterstützung ihrer Dorfhonoratioren zählen konnten. Man hält ja zusammen, und wer hart bestraft wurde, galt als Opfer. Bald machten Sozialdemokraten und christdemokratische Volkpartei Eingaben („…bezeugen, … dass wir ihm absolut nicht zutrauen können, sich jemals eine strafbare Handlung zuschulden kommen lassen könnte… Die Eltern sind alte, ehrsame, ansässige Bürger..“.). Der Oberwarter Naziführer Nicka war schnell wieder obenauf. Und der berüchtigte Gauleiter des Burgenlandes, Tobias Portschy, lebte bis 1996 in Rechnitz – zumindest bis in die achtziger Jahre als respektierter alter Mann. All das macht Rechnitz zu mehr als den Ort eines Massakers – sondern zu einer Metapher von Nachkriegsösterreich. Das Massengrab hat man nie gefunden. Man hat es gesucht. Anfangs. Dann legte sich bleischweres Vergessen über die Gegend.

 

Ende der sechziger Jahre wurden, eher zufällig, Opfer gefunden. 18 Leichen wurden exhumiert und am Grazer jüdischen Friedhof bestattet. Eine neue kritische Generation suchte nach Spuren. Eine Initiative, aus der der Verein re.f.u.g.i.u.s entstand, erwarb den Kreusstadl, initiierte Grabungen, suchte Zeugen.

 

Es hat sich viel verändert, seit Christine Teuschler und andere Rechnitzer begannen die Fakten zusammen zu tragen. „Aber es gibt noch immer einige, die dezidiert schweigen“, erzählt sie. Freilich, die „Schweigekultur“, wie sie Österreich geprägt hatte, ist auch in Rechnitz aufgebrochen. Der Bürgermeister nimmt an den Gedenkstunden teil. Das örtliche Denkmal für die gefallenen Soldaten ist heute auch ein Mahnmal für die gefallenen des Widerstandes, die ermordeten Juden und die Opfer des Massakers.

 

Um die Verantwortung der Gräfin Thyssen-Batthyanny hat man sich dabei nicht wirklich primär gesorgt. Man wusste, beim Fest war sie dabei. Später hat sie sich in die Schweiz davongestohlen, nachdem sie den Nazi-Führern als Quartiergeberin gedient hat. Ob sie das Massaker in den frühen Morgenstunden lachend guthieß oder vielleicht sogar schon geschlafen hat – wie das jetzt in der von Litchfield losgetretenen Debatte in Deutschland im Zentrum steht – „das wird sich schwer klären lassen“, sagt Paul Gulda.

 

Nur: Podezin und seine Mittäter waren österreichische Nazis, die von österreichischen Gerichten laufen gelassen wurden oder laufen gelassen werden mussten, weil ihnen österreichische Nachbarn offenkundig die Stange hielten (wobei Podezin selbst erst nach Deutschland und in den sechziger Jahren nach Südafrika geflohen war). Das Bedürfnis, einen grotesk übertriebenen Anteil der Schuld auf eine deutsche Großbürgerstochter zu schieben, die sich in ungarisches Grafengeschlecht hochgeheiratet hat, ist unter Österreichs antifaschistischen Historikern nicht extrem stark ausgeprägt – schließlich war es ja die Raison d’etre der Nachkriegsrepublik, dass „die Deutschen“ Schuld waren. Es war diese Haltung, gegen die sich Aufklärung durchsetzen musste.

 

Man wundert sich deshalb jetzt ein wenig in Rechnitz. Und Verwunderung ist nur ein Hilfsausdruck angesichts eines Mannes wie Wolfgang Benz, der immerhin einen Lehrstuhl für Antisemitismusforschung bekleidet und im Radio hinausposaunt, die Massakerparty habe es bestimmt nicht gegeben, weil den Nazis sicher nicht zum Feiern zumute war so kurz vor Kriegsende. Und die Erde ist eine Scheibe. Auch verbeamtete Professoren sollten sich gelegentlich per Google mit der Faktenlage vertraut machen, bevor sie im Radio drauflos schwadronieren.

 

Heute ist Rechnitz berühmt, fast zu einem Synonym geworden, weil alle versucht hatten, die Erinnerung an dieses Verbrechen zu tilgen – was für eine schöne Dialektik des Schweigens! Immer wieder kommt es zu Grabungsaktionen, erst 1990 bis 1996, dann im Jahr 2001, zuletzt 2006. Neue geographische Methoden und avancierte Bohrtechnologien werden eingesetzt. Wohl jetzt schon ist es eines der bestdurchscannten Erdreiche Österreichs.

 

Mittlerweile gäben wohl auch die örtlichen Honoratioren viel dafür, würden die Gebeine der Massakrierten gefunden. Die Verdrängung hat den Schrecken bewahrt und jetzt kriegt man ihn nicht mehr los.

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