Moskau, 7. November 1917

90 Jahre wird die Oktoberrevolution. Und niemand will feiern. taz, theoriekolumne, 6. November 2007

 

 

Kollege Fritz Ostermayer hat mir eben eine CD mit allen Versionen der „Internationale“ geschenkt, deren er habhaft werden konnte. Das trifft sich gut, die leg ich gleich ein, skippe über die Billy-Bragg-Version und drehe die Aufnahme des namenlosen Sowjetchors hoch. Also Haltung, Genossinnen und Genossen, Kopf hoch, Kinn raus, die Faust geballt. Schließlich ist heute der 6. November und morgen jährt sich zum 90. Mal die glorreiche russische Oktoberrevolution, die ja bekanntlich im November stattgefunden hat. Ach was haben wir sie geliebt, die Revolution.

 

Aber ja, ich weiß schon. Wir wissen nicht nur, was aus ihr geworden ist, wir wissen auch, wie es kam, dass wurde, was wurde. Der große emanzipatorische Versuch, der vom bösen Stalin allein an die Wand gefahren wurde (with a little help der „objektiven Bedingungen“) – diese pausbäckige Erklärung haben wir längst verräumt. Im Leninschen Parteikonzept war die „Diktatur des Proletariats“ schon als „Diktatur über das Proletariat“ angelegt, die Idee der „historischen Notwendigkeiten“ legitimierte tendenziell alles. Terrorherrschaft, nach dem Motto: „Wo gehobelt wird, da fliegen Späne.“ Lenin war ein großer Fan des Füsilierens und der Erschießungspelotons. Und die Revolution selbst keine Volkserhebung, sondern mehr ein Putsch. Sturm auf’s Winterpalais, ein paar Bewaffnete an alle Schlüsselposten, schon war sie kollabiert, die morsche, alte Macht. Von dem Sieg sollte sich der Kommunismus nie mehr erholen. Wissen wir alles. Machen wir nie wieder so. Versprochen! Abgesehen davon, dass wir auch grade keine Revolutionspartei bei der Hand haben, was sich auf absehbare Zeit nicht ändern wird.

 

Und doch ist da ein seltsames historisches Verlustgefühl, das sich nicht als bloße Nostalgie postmoderner Dekadenzler abtun lässt. Was die russische Revolution so lange zu einem Orientierungspunkt machte, war das, was man die „Idee der Revolution“ nennen könnte. Die Idee, dass man in die Geschichte eingreifen, dass man dem Rad der Zeit in die Speichen fassen kann. Dass die Geschichte gegensätzliche Optionen offen hält und dass entschlossen (meinetwegen: heroisch) handelnde Subjekte die Möglichkeit haben, ihr an einer Weggabel einen Rempler zu geben – hier geht’s lang, Menschheit! Diese schiere Idee der Revolution ist heute ziemlich in Vergessenheit geraten. Das ist nicht nur das Ende einer Illusion, sondern eben auch das Ende eines produktiven Wirklichkeitsverhältnisses. Ohne diese Idee des Eingriffs in die Weltläufe wird die Zeit zur homogenen, leeren Zeit, zur kontingenten Abfolge von Ereignissen ohne größeren Sinn. Der Signifikant „Lenin“ steht für diese voluntaristische Selbstermächtigung der handelnden Menschen: dass ein „Augenblick“ da ist, in dem das Subjekt eine Chance hat, eine Spur zu hinterlassen. Wenn ich ihn recht verstehe meinte Slavoj Zizek das in seinen Versuchen über Lenin, als er schrieb, dass „darin ein utopischer Funke war, der es wert ist, bewahrt zu werden“.

 

Urszene der „Weltrevolution“, nichts weniger, sollte sie sein. Ja, lacht nur. Klar, kleinere Brötchen kriegt man leichter gebacken.

 

Als Chiffe steht „Russische Revolution“ noch für eine Reihe anderer historischer Arrangements, deren Verlust nicht nur eine Befreiung ist. Etwa für die Idee der Partei, in der sich Menschen unterschiedlichster Herkunft – Intellektuelle, Arbeiter, einfache Leute – um ein ehrgeiziges Ziel zusammenschließen, die Vereinzelung überwinden. Gewiss, eine solche Partei ist immer auch ein Disziplinierungs- und Unterdrückungsorgan eigener Art, aber sie ist eben auch mehr als das. Sie ist auch mehr als die Addition der Kräfte derer, die in ihr organisiert sind. Sie hatte Integrations- und Erziehungsaufgaben und machte aus verlausten, halb illiteraten Arbeitern stolze Proletarier und aus freischwebenden Intellektuellen Leute mit „Commitment“.  Damals hat man sich die Unterschichtdebatten, die wir heute führen, sparen können.

 

Man muss nur einen Blick in die eben erschienen Memoiren von Rossana Rossanda werfen, der großen alten Dame der italienischen Linken, dann sieht man: die Linke hat mit dem Untergang jener Idee, die mit dem Chiffre „Russische Revolution“ verbunden war, mehr verloren als ihre Ketten. Noch die Illusion war „eine starke Illusion und eine solide Verblendung“ (Rossanda), die produktiv auf die Realität zurückwirkte. Barbarisches ist im Namen dieser Idee geschehen. Aber es ist gewiss auch kein Zufall, dass viele der bedeutendsten kulturellen Leistungen der vergangenen hundert Jahre untrennbar mit dieser Idee verbunden sind.

 

Billy Bragg singt im Hintergrund die „Internationale“. Ich summe leise mit und hebe mein Glas.

2 Gedanken zu „Moskau, 7. November 1917“

  1. „Mit vierzig bricht um Mirabeau in Frankreich eine jener ungeheuren Ideenanarchien aus, in denen sich die Gesellschaft bilden, die ihre Zeit bestimmen. Mirabeau ist ihr Herr.“ Aus Victor Hugos „1793“
    Da ich gerade an einem mehrbändigen Buchprojekt über die französische Revolution arbeite, glaube ich sagen zu können, dass die „Idee der Revolution“, also „Ideenanarchie“ in Frankreich viel ungebändigter hervortritt als in Russland des Jahres 1917.
    „Die Revolution hat unsere Fähigkeit, unsere Ausbildung überholt.“ Graf Mirabeau im Juni des Jahres 1789:

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