„Sexualität ist fein“

Tariq Ramadan über Lust und Begehren, den westlichen Hedonismus, religiöse „Sinnsuche“ und warum er für einen „Euroislam“ plädiert, statt den Glauben einfach an den Haken zu hängen.

 

 

Tariq Ramadan, 45, ist einer der umstrittensten, aber auch einer der brillantesten muslimischen Intellektuellen in Europa. Ramadan gilt als Hoffnungsträger für eine muslimische Reformation, doch manche Islamkritiker sehen in ihm auch einen „Wolf im Schafspelz“, einen verkappten Islamisten. Sein Großvater war der Gründer der Ägyptischen Moslembrüder. Gegenwärtig ist Ramadan Forschungsstipendiat an der Universität Oxford. Vergangene Woche war er auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

 

Herr Ramadan, es ist viel von der Rückkehr der Religionen die Rede. Was suchen beispielsweise junge Leute, die sich für den Islam begeistern?

 

Ramadan: Also, das ist ja nicht nur eine Sache der Muslime. Wir können das auf der gesamten Welt feststellen: Man wendet sich der Religion zu, weil man Sinn sucht. Es gibt eine Sehnsucht nach den spirituellen Dimensionen des Daseins.

 

Und mit den jungen Muslimen ist das das gleiche?

 

Ramadan: Ja, aber es gibt noch ein paar zusätzliche Gründe: Es gibt die spirituellen Bedürfnisse, es gibt den Druck aus der Gesellschaft, die dem Islam ein derart negatives Image verleiht, dass viele sagen: „Dann will ich erst recht ein Muslim sein.“ Soziale Probleme spielen eine Rolle. Das ist sehr komplex. Aber was mir wichtig ist: Wenn sich Muslime dem Islam wieder verstärkt zuwenden, dann muss das und darf das nicht heißen, dass sie die Fäden mit der sie umgebenden Gesellschaft abreißen. Und das ist ja auch gar nicht der Fall. Ein großer Teil derer, die sich der Religion zuwenden, sind Studenten.

 

Vielleicht ist ja gerade das das Problem. Intellektuelle begeistern sich dann nicht für den traditionellen Alltagsislam, sondern neigen zu Rigorosität, zu Eiferertum.

 

Ramadan: Ja, das kann sein. Die Leute, die in terroristische Akte involviert waren, sie waren gut ausgebildet, sie waren sozial integriert, sie waren kulturell integriert…

 

…teilweise waren sie nicht einmal als Muslime geboren…

 

Ramadan: …einige, ja. Aber wir sollten auch hier bei den Fakten bleiben: Die meisten, die sich der Religion zuwenden, studieren fleißig weiter und werden keine Terroristen. Sie entfremden sich keineswegs der Gesellschaft.

 

Die Frömmler in allen monotheistischen Religionen – nicht nur im  Islam, aber aktuell im Islam besonders -, haben diese Haltung: Die Gesellschaft, in der wir leben, ist niedrig. Überall nur Suche nach Spaß, nach Lust. Jeder ist getrieben von Hedonismus und  sexuellem Appetit. Meine Frage: Was ist so schlecht am sexuellen Appetit?

 

Ramadan: Nichts ist schlecht am sexuellen Appetit. Da haben Sie ganz recht. Sexualität ist kein Problem. Spaß und Lust sind kein Problem. Phantasien sind kein Problem. Menschen sollen ihre Natur akzeptieren, aber sie brauchen auch eine ethische Basis. Das ist ein ganz wichtiges Prinzip, nicht nur für die Religionen, auch für jede humanistische Philosophie.

 

Aber sind diese Religionen, mit ihrer Gewaltgeschichte, mit ihren mordlüsternen „Heiligen Schriften“, tatsächlich Ressourcen für Moral? Glauben Sie das wirklich?

 

Ramadan: Aber sicherlich!

 

Das sind doch Gewalt verherrlichende Schriften!

 

Ramadan: Aber es kommt darauf an, wie wir sie lesen. Jedes Buch, das wir auf dogmatische Weise lesen, kann verdammt gefährlich werden. Wir müssen sie als ethischen Leitfaden lesen, den Menschen sagen: „Sexualität ist fein. Aber folge doch ethischen Prinzipien, wenn Du ein praktizierender Muslim bist.“

 

Wozu braucht diese Ethik Religiosität? Welche ethischen Werte können Sie nicht haben, wenn Sie nicht religiös sind?

 

Ramadan: Das sage ich doch gar nicht. Ich kenne viele Leute, die Agnostiker sind, die Humanisten sind und sehr moralische Menschen. Aber Sie fragen von außerhalb des religiösen Feldes. Ich sage von Innen: Die Religiosität ist meine Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Und auf Basis dieser Antwort formuliere ich eine Ethik, die mir und anderen religiösen Menschen erlaubt, mit Ihnen zusammen zu leben. Ich frage Sie ja auch nicht: Warum brauchen Sie die den agnostischen Rationalismus?

 

Sie reisen herum als Modell für den Euroislam. Warum sagen Sie Ihren Leuten nicht: Vergessen wir das mit der Religion!

 

Ramadan: Aber ich bin doch ein Gläubiger!

 

Finden Sie nicht auch die  Überbewertung der religiösen Identitäten im öffentlichen Diskurs beunruhigend? Plötzlich heißt es: „Wir“ gegen „Sie“. Die religiösen Diskurse vergiften doch alles.

 

Ramadan: Grundsätzlich vergiften sie gar nichts. Ich glaube an diese Religion, an ihre Riten und ihre Werte. Das sage ich zu meinen Mitbürgern in Europa: Fordert mich nicht auf, dass ich weniger Muslim sein muss um mehr ein Bürger zu werden. Wir müssen einen Zustand akzeptieren, den es gibt, ob Sie oder ich das wollen oder nicht. Ich plädiere für ein „neues Wir“. Wir teilen gemeinsame Werte und wir können uns als Bürger verständigen, davon bin ich überzeugt. Das Hauptproblem ist Dogmatismus auf beiden Seiten. Wir haben Menschen, die in diese Gesellschaften einwandern, mit ihren Kulturen, mit ihren religiösen Traditionen. Die neuen Generationen sind einfach sichtbarer als die Einwanderer vor dreißig Jahren. Auf der einen Seite redet man über Integration, auf der anderen Seite haben die Menschen eine Identitätskrise und suchen Halt bei der Religion. Diese objektiven historischen Faktoren führen zu dieser Debattenlage. Wir können nicht sagen: Weg mit der Religion. Wir können aber auf beiden Seiten den Dogmatismus bekämpfen, der zur Polarisierung führt.

 

Dass sich ein Einwanderer primär als „Muslim“ versteht, ist doch überhaupt nicht selbstverständlich, dass er primär als „Muslim“ wahrgenommen wird, ebenso wenig. Diese Zuschreibungen sind doch Ideologie und keineswegs etwas Notwendiges, Objektives.

 

Ramadan: Jeden Tag in meinem Leben höre ich das Wort „Integration“. Wenn immer das Wort „Integration“ fällt, sendet man eine Botschaft an jemanden, dass er noch einen weiten Weg zu gehen hat bis er dazu gehört. Die Leute haben Arbeit, sie leben hier, aber man sagt, sie gehören nicht dazu. Warum gehören sie nicht dazu? Wegen ihrer Religion, wegen ihrer Kultur. Die wird dann auch zur Selbstabgrenzung benutzt. Wir haben hier einen Teufelskreis. Wir beleben damit die religiösen Diskurse. Es gibt Probleme? Ja. Aber essentialisieren wir sie nicht, islamisieren wir nicht soziale Probleme. Das wird dann zu einer negativen, sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Und dramatisieren wir die Probleme nicht. Die Dinge bewegen sich doch in eine positive Richtung. Innerhalb von zwei Generationen haben sich die muslimischen Communities unglaublich verändert. Die Frauen arbeiten, sie übernehmen Verantwortung in den Communities, sie engagieren sich für mehr Freiräume und Liberalität in den Communities, sie führen das Leben, das sie für richtig halten. Das muss nicht immer das Leben sein, das ein agnostischer Rationalist für richtig hält, aber das ist dann auch ihre freie Wahl, die freie Wahl der Frau. Die Dinge bewegen sich.

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