Not finished

Happy Birthday, Israel, schön dass es Dich gibt. Feierstimmung will 60 Jahre nach der Staatsgründung kaum wo aufkommen. Dabei ist das reale Israel sehr wohl eine Erfolgsstory. Nur ist das Land für Freund und Feind Projektionsfläche von Phantasien, Sehnsüchten und Vorurteilen. Falter, 14. Mai 2008

 
„Is Israel Finished?“ fragt das US-Magazin „The Atlantic“ und das ist eine kluge Frage, ihres Doppelsinns wegen. Zwei Lesarten, und die eine bedeutet das pure Gegenteil der anderen. „Ist Israel am Ende?“ Oder: „Ist Israel fertig, also ein stinknormaler Staat?“ Sechzig Jahre nach der Staatsgründung sind diese Fragen nicht so leicht zu beantworten. Am ehesten lautet die Antwort: Weder noch. Israel existiert. Aber das Land hat keine sicheren Grenzen – weder von den Nachbarn anerkannte, noch wissen seine eigenen Bürger, wo das Land eigentlich aufhören soll. Was es somit nicht gibt ist eine gesicherte Identität. „Seht nur, was geschehen ist! Seht, was aus dem jungen, mutigen, enthusiastischen Staat geworden ist!“, schreibt David Grossmann, einer der der bedeutendsten israelischen Schriftsteller in seinem neuen Essay-Band.
 
Es ist nicht gerade eine Lobpreisung zum Geburtstag.
 
Streut denn gar niemand Rosen, will gar niemand ein Ständchen singen? „Israel“. Wo will man da anfangen? Kaum ein Land ist so sehr Projektionsfläche wie Israel. Die einen lieben Israel, weil sie die Muslime hassen, die anderen kritisieren Israel, weil sie die Juden nicht mögen, die einen klopfen den Israelis auf die Schultern, des deutschen, österreichischen, europäischen Schuldzusammenhangs wegen. Oder sie kritisieren Israel, eben dieses Schuldzusammenhangs wegen –  dann wird geraunt, „jetzt machen die das mit den Palästinensern ,genauso’“. Ohne Antisemitismus hätte es den Zionismus nicht gegeben, ohne Holocaust womöglich die Teilung Palästinas und die Gründung Israels nicht (wobei, nüchtern betrachtet, das nicht so sicher ist). Jedenfalls ist der Bezug auf die jüdische Katastrophe in Europa historische Raison d’ etre des jüdischen Staates. Aber nicht genug damit, schwingt noch anderes mit: Bibel, „Heiliges Land“, Jerusalem. Da hat jeder ein Narrativ im Kopf, und jeder Tonfall verrät irgendeine Form von Projektion.
 
Wird also von „Israel“ geredet, dann ist oft nicht von Israel die Rede sondern von den Bildern, Phantasien und Vorurteilen, die der Redende im Kopf hat.
 
Also, liebes Israel, sagen wir es möglichst nüchtern: Es ist gut, dass es Dich gibt. Natürlich nicht für jeden: Für die, die dort früher lebten, wo du errichtet wurdest, ist es weniger gut. Aber nimmt man die welthistorischen Pro und Kontras zusammen, ist das Bild eindeutig: Nach dem Holocaust war eine sichere jüdische Heimstatt ein Gebot der Stunde. Und aufgrund der Geschichte der zionistischen Einwanderung in Palästina vor dem Holocaust und der traditionellen, religiösen Sentimentalität der Juden gegenüber dem biblischen Israel lag nahe, dass diese Heimstadt in Palästina liegen wird. Ansonsten wäre es natürlich logischer gewesen, das Saarland, Bayern oder Salzburg zu nehmen. Weil, da haben sie schon Recht, die Palästinenser, die nicht verstehen können, warum sie für Verbrechen bezahlen, die nicht sie begangen haben. Und, ja, auch der Zionismus war eine Spielart des Nationalismus, mit seinem Homogenisierungspathos und all dem, was dazugehört, der in Europa mit und im Anschluss an die Romantik entstanden ist. Aber abgesehen davon ist Israel von Beginn an ein entschieden sympathisches Staatswesen gewesen. Der egalitäre Siedlerpathos, der (ost-)europäische Sozialismus, der Kibbuzmythos, kurzum: die Begeisterung, die den Pionieren Israels auf all den Fotos und Filmschnipseln, die man jetzt wieder zu sehen bekommt, ins Gesicht geschrieben steht, sie machten Israel zu mehr als einen „Staat“. Israel war auch ein bisschen Utopie. Sehnsuchtsland. Hinzu kamen die, ja, Legenden: die von „die Wüste urbar machen“ und vom „David gegen Goliath“.
 
Gewiss, das war von Beginn an ein wenig krumm. Im „Unabhängigkeitskrieg“ 1947/48 war Israel nicht nur überlegen – es wusste auch, dass es überlegen war. Die meisten Einwanderer waren aus fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern gekommen – und die Waffen aus der Sowjetunion. Die Regierung von Ministerpräsident David Ben-Gurion nützte den Krieg, um das Land, wie man das heute nennt, „ethnisch zu säubern“. Radikale jüdische Milizen richteten Massaker an, die Araber flohen danach in Panik. Selbst Ben-Gurion war ein wenig erschüttert wegen dem „massenhaften Raub, an dem sich alle Teile der Bevölkerung beteiligten“. Über besonders brutale Massaker zeigte man sich im Kabinett „schockiert“, beschloss gerade deshalb aber, sie geheim zu halten. 600.000 Vertriebene waren die Folge. Hunderte Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, damit die Flüchtlinge gar nicht erst versuchen, zurück zu kommen.
 
Den Nachbarn zum Freund macht man sich auf solche Weise nicht. Aber auch das wusste man damals schon.
 
Der Zionismus als Idee hatte mit der Geburt Israels übrigens in gewissem Sinne seine Schuldigkeit getan. Eine Ideologie ist notwendig, „eine Staatsgründung zu legitimieren“, hat sich damit aber auch erledigt, meint Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems. Mehr noch, sie schadet. Loewy: „Ideologien sind gut für den Kampf, aber sie waren noch nie gut für den Frieden.“ Freilich, je länger Israel existiert, umso schriller wird das Ideologische. Nicht nur, dass der Holocaust immer mehr zum Gründungsmythos des Staates Israels wurde, ihm machte auch ein religiöses Narrativ Konkurrenz – beziehungsweise ergänzte ihn: Israel als Erfüllung der biblischen Prophezeiungen. Kein Wunder, dass das mit den Eroberungen im Zuge des Sechstage-Krieges 1967 an Macht gewann – ließ sich damit ja ein Anspruch auf das gesamte „gelobte Land“, auf „Judäa“ und „Samaria“ begründen.
 
Jedes Gemeinwesen hat so etwas wie eine „Idee“, mag sie impliziter oder expliziter sein. Israel ist so gesehen jedoch besonders ideologisiert. Seine Staatsidee wird von Gott abgeleitet. Und vom größten Verbrechen, das die Menschheit je begangen hat. Auf das bestrittene Existenzrecht Israels wurde aus dieser Perspektive immer geantwortet: Israel hat ein Recht zu existieren, wegen des Holocausts; oder weil Gott das Land den Juden versprochen hat. Dagegen gäbe es freilich, hat der deutsch-israelische Historiker Dan Diner einmal angemerkt, eine einfachere, aber letztlich komplexere Begründung, und womöglich auch zeitgemäßere: Israel habe „ein unumstößliches Anrecht auf Existenz alleine schon deshalb, weil es existiert“. Bei „normalen“ Staaten ist das ja so, dass sie ein Lebensrecht genießen, „weil sie existieren und eben nicht, weil sie eine welthistorische Mission erfüllen“ (Loewy).
 
Sechzig Jahre Israel – das heißt auch: sechzig Jahre neurotische Bezüge auf dieses Land. Und das Neurotische wird eher stärker als schwächer. Zunächst im Land selbst: Israel ist die stärkste Militärmacht der Region, ist seit dem Sechstagekrieg 1967 Okkupationsmacht, die über Unterworfene regieren muss, sieht sich aber stets „bedroht“. Dies ist halb real, halb imaginiert. Einerseits gibt es all die Selbstmordattentate und Katjuscha-Raketen wirklich, die in Israel detonieren, andererseits sind sie in eine Erzählung eingebettet – in die vom kleinen, freundlichen David, der nichts Böses will, aber von Feinden umzingelt sei. Legende und PR sind da nicht immer leicht zu trennen. Israels Politik schielt stets mit einem Auge darauf, wie man die eigenen Handlungen international „verkaufen“ kann und wie man, umgekehrt, Kritik delegitimieren kann. Indem man alle Kritiker, Gegner oder auch nur die Leute, die man vertrieben hat, zu Antisemiten erklärt. Und wie immer, ist es mit Legitimationsdiskursen eine komplizierte Sache: Man beginnt sie vielleicht zynisch und instrumentell, aber irgendwann einmal glaubt man selbst daran. Gesund ist das freilich nie. Andererseits: Manche von denen, die von Israel als Antisemiten bezeichnet werden, sind wirklich welche. Und: Trotz Kriegsneurose, trotz Belagerungsmentalität, trotz der Verrohung, die Besatzung für den Besatzer garantiert, ist Israel eine Demokratie geblieben, mit einer einigermaßen lebendigen demokratischen Öffentlichkeit. Das, man soll das nie vergessen, ist nicht so selbstverständlich.
 
Sechzig Jahre Israel, das heißt schließlich auch: sechzig Jahre eines komplizierten Verhältnisses des jüdischen Staates zu den jüdischen Diaspora-Gemeinden in Europa, den USA und anderswo. Dabei geht es ja immer auch um eine Konkurrenz zweier Konzepte des „jüdischseins“. Es ist so etwas wie Israels „Staatsdoktrin“, dass echtes, volles jüdisches Leben nur in Israel möglich ist. Die, die in Europa oder Amerika bleiben, sind aus solcher Perspektive irgendwie „schlechte“ oder unernste Juden. „Diasporajudaismus ist wie masturbieren“, formuliert der israelische Schriftsteller Abraham B. Yehoshua, aber in Israel leben „ist he real thing“ – soll heißen: „wie echter Sex.“ Bei den Juden in der Diaspora wiederum wird eine solche Deutung nicht einfach abgelehnt – sie löst eher ein schlechtes Gewissen aus. Peinliche Betretenheit. Überidentifikation. Schrille Rundumverteidigung Israels, der Versuch von amerikanischen, deutschen, französischen, österreichischen Juden, als „Botschafter“ Israels zu agieren, erklärt sich daraus.
 
Israel hat es, kurzum, auch nach sechzig Jahren nicht leicht. Israel hat Feinde. Schlimmer als die sind manchmal die Freunde. Seitdem der „Krieg gegen den Terror“ in den Köpfen tobt, hat die Vernunft eine schlechte Zeit. Da wird eine Weltlage imaginiert, in der „der Westen“ gegen den „Islamofaschismus“ steht – und Israel und die Bush-USA als Frontkämpfer der „Freiheit“. Radikale christliche Frömmler, etwa in den USA, entdecken ihre Liebe zu Israel. George Bush, Henryk M. Broder, Pat Robertson, Christian Ortner, die „antideutsche“ Bomb-Iran-Fraktion, die „Islam-ist-Faschismus“-Sekte, Silvio Berlusconi – wer solche Freunde hat, braucht eigentlich keine Feinde mehr. „Auf Israel wird etwas projiziert, was erstens mit der realen Weltlange nichts zu tun hat – und zweitens ist natürlich die reale Weltlage selbst total ideologisiert“, meint der Tel Aviver Historiker Moshe Zuckermann.
 
So ist es ein eher depressiver Geburtstag. Und was ist die gute Nachricht? Die Lage mag nicht gut sein, aber so schlecht wie die Stimmung ist sie nicht. Israel isn’t finished yet.

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