„Achtundsechzig liquidieren“

Zwischenbilanz des Revoltejubeljahres: Zum 40-Jahr-Jubliäum wurden die ’68er flächendeckend niedergemacht. Fast scheint es, sie wären an allem Schuld – an Werteverfall, Kindermangel, Konsumismus und Hedonismus. Wider das Revolten-Bashing.  

 
„1968 war ein Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Faulheit, Mittelmaß. Wir leiden noch immer darunter. 1968 bestimmt unser Leben bis in die letzen Fasern“, schreibt Kai Dieckmann, der „Bild“-Chefredakteur in seinem Pamphlet „Der große Selbstbetrug“. Die Revolte, assistiert der deutsche Verfassungsrichter Udo di Fabio, einer der Stars der dortigen Neurechten, griff „Ordnungsgeist und Pflichtethik an, rückte die gerade erst wieder erstarkten Institutionen in ein Zwielicht, attackierte bürgerliche Lebensformen, die Ehe, die Familie, den Karrierewillen, aber auch Kirchen, Parteien, Staat, Unternehmen, bürgerliche Kulturformen“. An allem, was die westlichen Gesellschaften liberaler und lebenswerter machte, hätten die Achtundsechziger „keine besonderen Verdienste“, meint auch der Historiker Götz Aly, seinerzeit selbst mit Mao-Bibel unterwegs, heute nach Konvertitenart ein besonders verbissener Kritiker aller Weltverbesserer. Achtundsechzig, trommelte schließlich Nicolas Sarkozy im jüngsten französischen Präsidentschaftswahlkampf, habe den „Zynismus in die Politik und Gesellschaft gebracht“, sei schuld an Familienzerfall, Börsenspekulation und Turbokapitalismus. Deshalb sei das Ziel seiner Präsidentschaft, „den Geist von 68 zu liquidieren“.
 
Kurzum: 1968 – das muss wirklich eine schlimme Zeit gewesen sein damals.
 
Vierzig Jahre ist das nun her. Aber zum Jubiläum gab es diesmal keine sentimentale Erinnerungsprosa, sondern erbitterte Kampfschriften. Schützengrabenprosa, als wäre es gestern gewesen. Nichts ist beliebter in neukonservativen Kreisen als das 68er-Bashing. Selbst der „Spiegel“, einst von leiser Sympathie für Rudi Dutschke und seine rebellierenden Mitstreiter beseelt, übertitelte seine Jubiläumsnummer noch kurz vor der Jahreswende mit den Worten: „Es war nicht alles schlecht.“ Fast so, als ginge es um die Nazis, denen man die Autobahnen zugute hält.
 
Liest man all dies, was da geschrieben stand in diesem Frühjar, macht sich der Eindruck breit, die Achtundsechziger hätten jedes Übel dieser Welt zu verantworten. Ob sinkende Geburtenraten, orientierungslose Jugendliche, schrankenloser Hedonismus, feministische Zerstörung der Mutterschaft, ob antriebslose Arbeitslose, Computerspiele, Konsumwahn, Werteverfall, Pisa-Katastrophe und Budgetdefizit – die 68er sind irgendwie „an allem Schuld“, sagt Joschka Fischer, und fügt mit sarkastischem Seitenhieb auf den 68er-Kritiker Kai Diekmann hinzu: „Auch, dass die ‚Bild’-Zeitung so ist, wie sie ist.“
 
Gute Nachrede haben die 68er jedenfalls keine. Das liegt vielleicht daran, dass die 68er auch ein leichter Gegner sind. Selbst junge kritische Geister wollen von Achtundsechzig wenig hören: Viele der ergrauten Rebellen nerven einfach mit ihren Heldengeschichten, andere wiederum scheinen ihre Ideen verraten zu haben (und gelten deshalb als prinzipienlos), aber auch die, die ihre Ideen nicht verraten haben, wirken nicht gerade anziehend (die erscheinen dann nämlich als altmodisch). Und auf den graustichigen Videoclips mit Rudi Dutschke sieht man einen hageren Mann mit struppiger Popperfrisur, der wirres Zeug redet.
 
All das würde aber noch nicht erklären, warum der revolutionäre Mai ’68 heute zu einem „imaginären Hauptfeind“ (Liberation) wurde – zu dem historischen Datum schlechthin, das es in den Augen der neokonservativen Diskursstrategen zu delegitimieren gilt. Dass solche ideologische Kampfansagen große Wirkungen haben können, ersieht man, wenn man nur einen Blick über den Atlantik wirft. In den USA war der Triumph des Neokonservativismus, der im ersten Wahlsieg Ronald Reagans kulminierte, schon früh mit einem Angriff auf 68, auf die Anti-Kriegsbewegung, auf Hippies und Rebellen verbunden. Die wurden so lange als weltfremd und vorgestrig beschrieben, bis nur mehr durchgeknallte Exzentriker stolz darauf waren, dabei gewesen zu sein. In Europa war das bis dato anders. Diese Abrechnung soll nun auch in hiesigen Breiten nachgeholt werden.
 
Natürlich, das ist keine bewusste, mehr eine instinktive Strategie. Solche Diskurse laufen selten geplant, nie gesteuert und Argumentationswellen breiten sich eher in einem osmotischen Prozess aus. Aber 68er wird zum Chiffre eine Role-Backstrategie, wie Alan Posener schreibt – paradoxerweise in der „Welt“, dem Zentralorgan der Neo-Bürgerlichkeit. „Heute werden die 68er für alles verantwortlich gemacht, was Kleinbürgern an der Moderne nicht passt: freizügige Sexualität, selbstbewusste Frauen, freche Jugendliche, Kinderlosigkeit, Autoritätsverfall und Regietheater. Eine klassische Verschwörungstheorie.“ Dass im Bus niemand mehr für Oma aufsteht – auch irgendwie ein Erbe von Achtundsechzig.
 
Gewiss hat all das auch etwas obskures, hilfloses, lächerliches. Denn der Hass, der sich mit dem Chriffre Achtundsechzig verbindet, meint alle Prozesse, die sich seither an Auflösung unhinterfragter Autoritäten und traditioneller Bindungen, am Verschwinden von Gewissheiten und Sicherheiten zeigten. Die „konservative Fundamentalkritik“, schreibt Stefan Reinecke in der Berliner „taz“, sagt „Achtundsechzig“, meint aber „viel mehr“. Sie richtet sich gegen „die Freiheitsgewinne des individualisierten, flexiblen Kapitalismus insgesamt“, also gegen einen mächtigen Modernisierungs- und Wandlungsprozess. Die Revolte gegen hergebrachte, verknöcherte Strukturen war in diesem gewiss auch ein Moment, aber eher ein Symptom. Schließlich sind die Auflösungserscheinungen, die von konservativer Seite beklagt werden, Resultat dessen, was der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter mit dem berühmten Wort von der „schöpferischen Zerstörung“ beschrieb, und die hat der High-Tech-Kapitalismus noch einmal verschärft. Wenn die Neubürgerlichen „Achtundsechzig“ sagen, meinen sie also Coca-Cola, Lifestylkapitalismus, Amerikanisierung und Globalisierung. Und sie tun so, als könne man beides haben: einen brummenden Kapitalismus, in dem stets „alles Ständische und Stehende verdampft“ (Karl Marx) – und die moralische Ordnung der fünfziger Jahre.
 
So ist in gewisser Weise das Anti-68er-tum eine Art des Antikapitalismus der dummen Kerls. Das ist schon ein wenig kurios: Man macht die antikapitalistischen Rebellen für die Auswüchse des Kapitalismus verantwortlich.
 
Dass sich dieser Hass auf die Moderne derart auf 1968 fokussiert, zeigt aber auch, welch ein Schock die Rebellions-Ekstase der späten sechziger Jahre für konservative Milieus gewesen sein muss – und wie unfähig diese sein müssen, diesen Schock zu verdauen. Höchstens zähneknirschend haben sie sich mit einem Wertewandel abgefunden, der es Frauen gestattet, ein eigenständiges Leben zu führen und der es Schulkindern erlaubt, neugierige Fragen zu stellen. Und was man auf der eher linksliberalen Seite schon fast aus dem Gedächtnis verloren hat, das ist auf der anderen Seite offenbar noch lange nicht vergessen: dass Achtundsechzig auch gezeigt hat, dass eine Revolte wie aus dem Nichts entstehen kann, dass immer alles möglich ist, dass das, was Unverrückbar erscheint, nie ganz sicher ist.
 
Vielleicht ist das das nobelste Vermächtnis von Achtundsechzig.
 
Dass darüber hinaus das Chiffre ’68 tatsächlich für eine Reihe von Paradoxien steht, darüber muss ohnehin nicht mehr diskutiert werden. Dass mit antikapitalistischem Pathos ein Modernisierungsschub angestoßen wurde, mit dem die Lifestyle-Industrie gut leben konnte, ist eine diese Ambivalenzen. Die westlichen Gesellschaften wurden liberaler, an ihren Utopien sind die 68er aber gescheitert. Auch der Nonkonformismus und die Gegenkultur, die seinerzeit als Nukleus allgemeiner Emanzipation gesehen wurden, führten nur zu einer Aufspaltung in immer mehr Lebensstil-Gruppen, die heute auch nichts anderes als Zielgruppen für gevifte Markenartikler sind. Die Konformisten-Gesellschaft hat sich aufgelöst, heute herrscht nicht Otto-Normalverbraucher, sondern „Otto-Normalabweichler“ (Jürgen Klaube) vor. Vom Jugendkult, den die Poprevolution der sechziger Jahre einführte, lebt das Wellness-Business inzwischen prächtig. Wer einst Uschi Obermaier nacheiferte, der kauft heute Anti-Aging-Cremes. Und was die Aussteiger mit den Kratzpullis begannen, ist dreißig Jahre später ein Bio-Segment, das im Öko-Supermarkt einkauft.
 
„Wir haben gewonnen“, sagt denn auch Daniel Cohn-Bendit, als Dany le rouge legendärer Anführer der Pariser Mai-Revolte. Gewiss ist das jene Art von Siegen, die nicht vollends glücklich macht. Weil das Erreichte beträchtlich ist, aber gemessen an den Zielen ernüchternd. Und weil 68 auch zu so etwas wie der Blau-Pause für Rebellentum und gesellschaftliche Aufbrüche wurde. Eine grandiose Party, deren Protagonisten aber dann doch an der Anpassungsfähigkeit „des Systems“ scheiterten, und anrannten, wie der Tobende in der Gummizelle. Das hat für alle, die später kamen, auch etwas Entmutigendes gehabt. Wie rebelliert man noch, wenn der Rebellengestus derart in den gesellschaftlichen Zeichenfundus eingegangen ist wie in den vergangenen 40 Jahren?
 
Das Ergebnis dieser Paradoxien hat selbst etwas Kurioses: Während die Neurechten auf ’68 einprügeln, verteidigen echte Linke ’68 nur höchst halbherzig. So sind heute die eloquentesten Verteidiger der Sechzigerjahre-Revolte noch am ehesten moderate Linksliberale, die den Aufbruch als Beginn einer toleranten, aufgeklärten „Zivilgesellschaft“ deuten.
 
Trotz all diese Ambivalenzen gilt freilich: Nur weil ’68 ein welthistorischer Moment war, scheidet er heute noch die Geister. Es war nicht alles schlecht mit Dutschke, Stones, Woodstock und Mai-Revolte? Daran war, verdammt noch mal, ganz schön viel wirklich gut. Das muss auch einmal gesagt werden.
 

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