Die Linke und die Freiheit

Am 6. März war ich eingeladen, zur Eröffnung der Konferenz der Partei „Die Linke“ angesichts von 60 Jahren Grundgesetz in Leipig zu sprechen. Die Rede findet sich hier.

Ich habe zur Vorbereitung auf diese Tagung mein altes, zerschlissenes Exemplar des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zur Hand genommen und ich war, ich muss das so sagen, ergriffen von dem Pathos dieses Dokumentes. Es gibt in der Geschichte so etwas wie „konstitutionelle Momente“, also historische Augenblicke, in denen manches möglich, ja, zwingend ist, was nicht immer möglich ist. In Falle des Grundgesetzes ist das offensichtlich: Nach 12 Jahren Nazi-Regime hieß es „Nie Wieder!“, und angesichts des beginnenden Kalten Krieges und der Blockkonfrontation war der liberale Kapitalismus des Westens auf die demokratischen und soziale Prinzipien angewiesen, und sei es nur zur Selbstlegitimation. Bedenken wir nur, um dieses Pathos kurz hier noch einmal aufleben zu lassen, die Schlüsselformulierungen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“; das Bekenntnis „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“. „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Gewaltenteilung. Gleichheit. Meinungsfreiheit. Versammlungsfreiheit. „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Bis hin zum hochsymbolischen Artikel 16a. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“

 

Natürlich, wir wissen schon. Hehre Prinzipien verlieren sich in der Realität und in Durchführungsverordnungen. Wirtschaftlich Mächtige, Medienmonopole, traditionelle Eliten können das Prinzip der Gleichheit unterlaufen, auch das der Meinungsfreiheit und dann ist auch das demokratische Prinzip sklerotisch. Aber unterschätzen wir nicht das Gewicht des Symbolischen. Dieses Grundgesetz ließ sich immer auch den Mächtigen vorhalten, als uneingelöstes Ziel. Es bot, nach der Katastrophe des Nationalen, auch eine Möglichkeit zur affektiven Identifikation. Das ist der Hintergrund des Begriffs des „Verfassungspatriotismus“, der in den achtziger Jahren in linksliberalen Kreisen populär wurde. Angesichts dieser Bedeutung des Symbolischen ist es daher auch keine Kleinigkeit, einzelne dieser Prinzipien zu streichen, wie das in den neunziger Jahren mit dem Asylparagraphen geschah. Selbst wenn man der nicht unberechtigten Meinung ist, Deutschland könne nicht jeden aufnehmen, ist es doch ein Unterschied, ob in der Verfassung der Satz steht: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ und alles Nähere – das heißt alles Restriktivere – von einem Bundesgesetz geregelt wird oder ob man das Prinzip verabschiedet. Wer seinerzeit auf diesem Argument bestand, musste sich gelegentlich besserwisserisch anherrschen und sagen lassen, man sei ein weltfremder Phantast, übrigens, wenn Sie mir diese kleine Boshaftigkeit erlauben, auch vom damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten des Saarlandes. Also, das Grundgesetz ist ein Dokument der Freiheit und es ist keine Nebensache, seinen demokratischen Pathos durch Gelegenheitsänderungen zu zerzausen, noch ist es eine besonders kluge linke Strategie auf die bloße Oberflächlichkeit freiheitlicher Prinzipien in einer kapitalistischen Marktgesellschaft zu verweisen. Eine Ordnung, in der die Freiheit nicht einmal in der Verfassung steht, ist nichts, was sich die Linke wünschen kann. Aber eine Ordnung, in der die Freiheit in der Verfassung steht ist deswegen noch lange nicht das Paradies auf Erden. Darum möchte ich mein Thema breiter anlegen und über die Linke und die Freiheit grundsätzlich sprechen.

 

Es gibt eine unschöne Tradition in der linken Rhetorik in Hinblick auf Freiheitsrechte. Es ist da gelegentlich von „bloßen“ bürgerlichen Freiheitsrechten die Rede. Mit einer gewissen Herablassung wird gerne auch vom demokratischen Prinzip des allgemeinen, gleichen Wahlrechts geredet, das, unter Bedingungen kapitalistischer Vermachtung doch nur die Entscheidung zwischen verschiedenen Spielarten von Unterdrückern offen ließe, so von der Art, dass die Schafe eben zwischen konkurrierenden Schlächtern auswählen dürfen. Oft wird auch darauf hingewiesen, dass die Linke doch die „kollektive Freiheit“ hochhalte um Gegensatz zur „individuellen Freiheit“, dieser bürgerliche Freiheit. Gelegentlich ist da auch zu hören: „Was nützt einem Analphabeten die Pressefreiheit? Was nützt den Hungernden das Wahlrecht?“ Ich muss Ihnen gestehen, dass ich einen gewissen Widerwillen gegen Argumente wie dieses habe, und zwar nicht nur deshalb, weil es viel zu oft in der Geschichte schon dafür herhalten musste, nicht den Hunger, sondern das Wahlrecht abzuschaffen, sondern auch, weil es unterkomplex ist. Auch unter kapitalistischen Marktgesellschaften, hilft das Wahlrecht auch den Hungernden. Wer gewählt werden muss, ist auf Wählerstimmen angewiesen und wenn Hungernde das Wahlrecht haben, haben sie auch eine Stimme. In aller Regel – ich sage absichtlich: in aller Regel – gibt es in Gesellschaften mit Wahlrecht weniger Hungernde als in Gesellschaften ohne Wahlrecht. Das ist eine so simple Wahrheit, dass wir uns über sie nicht mit Begriffsscholastik herumdrücken sollten. Aber ich halte diese Argumente nicht nur für höchst fragwürdig, ich glaube auch, dass sie die „Linke“ beschädigen. Die Linke – und zwar nahezu alle Spielarten der Linken – haben den Freiheitsbegriff allzu kampflos der neoliberalen und neokonservativen Rechten überlassen. Und das ist fatal, angesichts dessen, welche zentrale Rolle das Pathos der Freiheit in der Geschichte der Linken spielte, angesichts der Bedeutung, die er stets für die Attraktivität der Linken hatte.

 

Nehmen wir nur das berühmte Marx-Wort aus dem „Kommunistischen Manifest“, wonach es ihm um eine Assoziation gehe, „in der die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Ich will hier gar nicht in Begriffsscholastik verfallen und jedes Wort umdrehen. Marx hat seine Texte auch schnell hingeschrieben, er hat ja nicht gewusst, dass wir mal jedes Wort dreimal hin und her wenden werden. Aber der Geist dieses Satzes ist klar, auch wenn er vollgefüllt ist mit Paradoxa. Es geht um die Befreiung jedes einzelnen Individuums, die Möglichkeit, seine Talente voll zu entfalten, ohne manifeste Unterdrückung, aber auch ohne subtile Gängelung und die freiheitseinschränkenden Wirkungen, die von Armut, Elend und Chancenlosigkeit ausgehen. Die kollektive Befreiung ist die Bedingung für die individuelle Befreiung, aber es gibt auch keine kollektive Befreiung, die die individuelle Freiheit nicht schätzt. Wenn wir Linken die Gleichheit hochhalten, dann nicht, damit wir alle gleich aussehen, gleich denken, in gleichen Häusern wohnen und die gleichen Schuhe tragen – sondern damit alle die gleichen Chancen auf Freiheit und freie Entfaltung haben. Nicht, damit wir alle gleich und austauschbar und verwechselbar sind, sondern damit alle die Möglichkeit haben, ihr unverwechselbares „Ich“ zu entwickeln.

 

Nun ist es in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren so, dass die neukonservative und neoliberale Rechte die unternehmerische Freiheit hochhielten und mit dieser gelegentlich auch ein gewisses gesellschaftliches Laissez-Faire. Damit konnte diese Ideologie auch eine Anziehungskraft auf linksliberale Milieus entwickeln, die sehr angetan sind von der Idee, dass jeder sein Ding machen und nicht von staatlichen Reglementierungen behindert werden soll. Dies richtete sich nicht nur gegen das kollektivistische Ideal eines vulgären, orthodoxen Marxismus und die repressiven Dimensionen eines längst ideallosen Staatssozialismus, sondern auch gegen den Wohlfahrtsstaat westeuropäischer, sozialdemokratischer und linkssozialistischer Prägung. Ja, selbst letztere Kritik war nicht ganz unberechtigt, hat ja auch der Sozialstaat seine normierenden und formierenden Dimensionen. Sozialbürokratien sind, um das Mindeste zu sagen, nicht immer vom antiautoritären Geist durchweht, oft haben sie eine parternalistische Schlagseite. Es gab ja nicht zufällig in den siebziger Jahren auch eine linke Sozialstaatskritik. Während die Rechte also den Begriff der Freiheit hochhielt, bekümmerten die Linken vor allem die wachsenden Ungleichheiten. Dies führte dazu, dass sich die Linke und die Rechte die beiden Begriffe „Freiheit“ und „Gleichheit“, die beide immer zum konstitutiven Ideenfundus der Linken zählten, gewissermaßen teilten. Die Rechte begann für Freiheit zu stehen, die Linke für Gleichheit. Eine Entwicklung, die wir schleunigst rückgängig machen sollten. Dafür ist es als erstes notwendig, in einer Operation, die man klassisch ideologiekritisch nennen könnte, den Freiheitsbegriff der neuen Rechten zu dekonstruieren.

 

Ich will also im Folgenden einen produktiven linken Freiheitsbegriff im Kontrast zur konservativen Freiheitsrhetorik entwickeln.

 

Was meinen Konservative, wenn sie „Freiheit“ sagen? Nun, zum Teil das selbe wie Liberale, Progressive oder Sozialdemokraten, was damit zusammen hängt, dass heute über ein paar Dinge, wie eine lebenswerte Gesellschaft strukturiert sein soll, im Westen Konsens besteht. So meinen Konservative und Progressive, dass die parlamentarische Demokratie, die jedem Bürger eine Stimme gibt, die beste Regierungsform ist, dass es möglich sein soll, eine Regierung abzuwählen und sie sind der gemeinsamen Überzeugung, dass Presse- und Meinungsfreiheit hohe Güter sind. Darin besteht kaum mehr ein Unterschied. Sie sind sich auch darüber einig, dass „Freiheit“ nicht notwendigerweise heißen kann, dass jeder tun darf, was er will. Weder Konservative noch Progressive vertreten die Auffassung, dass man die „Freiheit“ haben soll, den Nachbarn zu ermorden, und auch für die „Freiheit“, Passanten ins Gesicht zu spucken, setzt sich niemand ein, der bei Trost ist. Üblicherweise lernen schon die Zehnjährigen im Unterricht, dass die Freiheit dort enden muss, wo mein Verhalten die Freiheit eines anderen einschränkt. In der Praxis ist die Sache natürlich komplizierter, weil wir nicht immer direkt, sondern auch indirekt, durch allerlei Fäden, mit anderen verbunden sind. Wenn ich Auto fahre, ohne mich anzuschnallen, hat es wenig Sinn, mich auf meine „Freiheit“ zu berufen, wenngleich dieser riskante Lebensstil niemandem direkt schadet: Wenn ich unangeschnallt gegen einen Baum fahre, sterbe nur ich, und wenn ich in ein entgegenkommendes Auto rase, stirbt möglicherweise ein anderer Autofahrer mit mir, aber nicht deshalb, weil ich nicht angeschnallt war. Dennoch nimmt sich das Parlament heraus, eine Gurtenpflicht zu erlassen, weil etwa die Gesundheitssysteme dafür aufkommen müssen, wenn ich mich unnötig schwer verletze, was wiederum allen anderen Einzahlern Kosten aufbürdet.

 

Nichtsdestoweniger ist der Freiheitsbegriff der Konservativen etwas obskur. Zunächst war das Wort „Freiheit“ historisch ja nicht gerade eine zentrale Parole des Konservativismus. Der ältere Konservativismus favorisierte „Ordnung“ und damit meinte er meist das exakte Gegenteil von Freiheit. Ordnung hieß, dass sich die niedrigen Stände nicht heraus nahmen, frech zu werden. Man könnte also mit etwas Sarkasmus anmerken, dass der Konservativismus erst die „Freiheit“ auf seine Fahne geschrieben hat, nachdem andere sie erkämpft haben. Tatsächlich gilt ja, abseits aller Ironie, bis in unsere Zeit: Es gibt kaum ein Freiheitsrecht im Westen, das nicht gegen die Konservativen erkämpft worden wäre, vom allgemeinen, gleichen Wahlrecht über die Aufhebung der Rassentrennung in den USA bis zur rechtlichen Gleichstellung der Frauen in praktisch allen Ländern Europas. Heute noch kämpfen Konservative etwa dafür, dass die Homosexuellen-Ehe verboten bleibt. Und ohnehin steht die hohe Freiheitsrhetorik der Konservativen in einem seltsamen Missverhältnis zu dem moralisch-sittlichen Verbotsjargon, den sie stets und reflexartig anschlagen. So fordern Konservative, dass der Staat nicht in das Leben seiner Bürger eingreifen soll, was ja nur einen Sinn ergibt, wenn man der festen Überzeugung ist, dass niemand das Recht hat, über den Lebensstil eines Menschen zu urteilen, aber gerade Konservative nehmen sich natürlich sehr gerne dieses Recht heraus: Laissez-Faire in lebenskulturellen Fragen ist ihre Sache keineswegs. Konservative lieben die doppelte moralische Buchführung. Kluge Neukonservative wie der US-Soziologe Daniel Bell, geben offen zu: Sie wollen „einerseits wirtschaftliche Freizügigkeit, andererseits Moralvorschriften“.

 

Der Freiheitsbegriff der Konservativen meint vor allem die Freiheit des privaten Eigentums. Jeder politische Begriff ist in einem bestimmten Sinn „polemisch“, insofern, als er sich gegen einen anderen Begriff wendet: Und der Freiheitsbegriff, wie ihn die Konservativen verstehen, wendet sich gegen den Kollektivismus. Die neuen Konservativen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht nennenswert von den Neoliberalen. Aber wenn Neokonservative „Freiheit“ sagen und die Meinung vertreten, der Staat solle möglichst nicht in das Leben der Bürger eingreifen, dann meinen sie in aller Regel, der Staat solle so wenig wie möglich die freie wirtschaftliche Tätigkeit der Bürger als Wirtschaftssubjekte behindern. Ein aktiver Staat, der etwa versucht, soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, aber auch einer, der eine ambitionierte Bildungspolitik verfolgt und ein dichtes Netz an Wohlfahrtsprogrammen auflegt, die Menschen in Not oder anderen schwierigen Situationen helfen, bedroht diese „Freiheit“, sind Konservative überzeugt und sie haben sich dafür eine Reihe von Argumenten zurecht gelegt, die manchmal mehr, manchmal weniger logisch aufeinander Bezug nehmen.

 

Zunächst gehen sie davon aus, dass der Wettbewerb privater Wirtschaftssubjekte die effizienteste Art ist, eine Volkswirtschaft zu organisieren. Die Anreizstruktur, die den privatwirtschaftlichen Kapitalismus charakterisiert, sei auch die beste Methode, dafür zu sorgen, dass sich Menschen anstrengen. Die „Freiheit“ des Marktes sei auch die beste Voraussetzung dafür, die Talente von möglichst vielen Bürgern zu entwickeln.

 

Ein aktiver Staat und eine Sozialpolitik, die etwa Arbeitnehmerrechte gesetzlich schützt, sind darum in zweifacher Hinsicht für Konservative ein Übel: Erstens, weil die staatlichen Regeln den freien Wettbewerb tendenziell ausschalten oder zumindest behindern. Und zweitens, weil ein aktiver Staat ja Mittel für seinen Aktivismus benötigt: Er braucht Ministerien, Behörden, Beamte, die die Gesetze ausarbeiten, deren Einhaltung überwachen, er benötigt Sozialversicherungensapparate, die die staatlichen Hilfen auszahlen. Und er braucht Geld, um das alles zu bezahlen. Dafür muss er Steuern einheben.

 

Mit den Steuern ist das so eine Sache. Steuern sind ja Gelder, die die freien Wirtschaftsbürger durch eigenen Fleiß und Antrieb verdient haben und die ihnen der Staat weg nimmt. Ist das nicht schon ein Angriff auf die Freiheitsrechte, auf die Rechte des Individuums, die kein anderer oder keine Gruppe von anderen verletzen darf? Ultrakonservative Philosophen wie Robert Nozick beantworten schon diese Frage mit „Ja“. „Die Besteuerung dessen, was ein Mensch durch Arbeit erworben hat, ist gleichbedeutend mit Zwangsarbeit. Das ist, als würde man eine Person dazu zwingen, n Stunden für den Nutzen eines anderen zu arbeiten.“[i]

 

So weit gehen die allermeisten Neukonservativen nicht. Was die meisten Neukonservativen empört, sind nicht Steuern an sich, sondern der Umstand, dass Wohlhabendere wegen der Progression, die die meisten Steuergesetze kennen, höhere Steuersätze bezahlen als die Geringverdiener. Aber die Einhebung von Steuern über das Minimum hinaus ist in den Augen der Neukonservativen nicht nur eine Freiheitseinschränkung, weil Menschen ihr „Eigentum“ weg genommen wird, sondern weil mit dem Geld ja staatliche Behörden finanziert werden. Und selbst wenn diese die Gelder in einer Weise verwenden, die einen positiven Zweck verfolgen, also von der Mehrheit der Bürger akzeptiert werden, so können diese Zwecke „nur durch Verwaltungsakte, durch Ausweitung bürokratischer Macht der Gesellschaft erzielt werden“ (Daniel Bell)[ii]. Der Ausweitung der staatlichen Wirtschaftsaktivität ist ein „Weg in die Knechtschaft“.

 

So hat das vor über sechzig Jahren der Wirtschaftnobelpreisträger Friedrich August von Hayek in seinem gleichnamigen Buch formuliert, das heute so etwas wie eine Bibel aller Neukonservativen und Neoliberalen ist. Hayek hat sein Buch 1944 Angesichts der NS-Diktatur und des Sowjetkommunismus geschrieben, aber auch vor dem Hintergrund erster Schritte zum Aufbau eines Wohlfahrtsstaates in Großbritannien, in den USA und in Skandinavien. Und für Hayek waren all diese unterschiedlichen „Regimes“ nur Spielarten ein und der selben Tendenz: des Untergangs von Freiheit und Individualismus. Allen Ernstes betrachtete er die Sozialreformen als schwere Niederlagen für die Freiheit, weil der Staat seine Wirtschaftsaktivität ausweite: eine „breite Heerstraße in die Knechtschaft“[iii]. Nun, die USA, Großbritannien und Skandinavien sind auch heute noch liberale Gesellschaften. Und wenn die „Freiheit“ in diesen Gesellschaften ernsthaft bedroht wurde, dann von Mistreitern Hayeks beim „Verteidigen der Freiheit“ wie den antikommunistischen US-Senator Joseph McCarthy. Zwar hat sich bald erweisen, dass Hayeks Verfallsphantasie exakt nichts mit der historischen Wirklichkeit zu tun hat, doch hält dies seine Epigonen bis heute nicht davon ab, seine Thesen nachzubeten.

 

Grundsätzlich sind Neukonservative der Ansicht, dass wir alle bessere Güter und Dienstleistungen zur Verfügung haben werden, wenn überall so viel Wettbewerbsgeist wie möglich herrscht und wenn nicht so sehr entscheidet, ob jemand einer Dienstleistung oder eines Gutes bedarf, sondern ob er es bezahlen kann. In vielen Fällen ist das so selbstverständlich, dass es trivial ist: Ein Friseur schneidet nicht prinzipiell zuerst jenen Menschen die Haare, die seine Dienste am notwendigsten haben, wie etwa zotteligen Langhaarigen – sondern jenen Menschen, die in seinen Laden kommen und ihn dafür bezahlen. Für Neukonservative ist sonnenklar, dass man dieses Prinzip auf so viele Bereiche wie möglich ausweiten sollte, und damit beginnen die Fragwürdigkeiten: Ob etwa Privatfernsehkanäle, die miteinander in einem harten Wettbewerb stehen, dazu geführt haben, dass wir „bessere“ Güter zur Auswahl haben, ist ja wohl kaum behaupten. Manche radikale Ideologen legen das freie Wettbewerbsprinzip auf ganz eigentümliche Weise aus: Warum sollen Ärzte denen helfen, die es gerade am Nötigsten haben? fragt Robert Nozick. „Muss denn ein Gärtner seine Dienste auf jene Grünflächen richten, die es am Nötigsten haben? Aber inwiefern unterscheidet sich die Situation des Arztes von dem des Gärtners?“[iv] Ist es nicht ungerecht, von einem Arzt zu verlangen, er solle einen Hungerleider retten, nur weil der gerade abzuleben droht, wenn er gleichzeitig einer wohlhabenden Witwe eine Schönheitsoperation verpassen könnte? Wie kann man von einem Arzt etwas verlangen, was man von einem Friseur nie zu fordern wagen würde? Eine solche Auffassung kann selbstverständlich auch in neukonservativen Kreisen als etwas exzentrisch gelten, wenngleich sie doch stets argumentieren, jedes gesellschaftliche Problem sei schlicht darauf zurückzuführen, dass die Marktanreize einfach nicht funktionieren, eines falsch verstandenen Egalitarismus wegen.

 

In letzter Konsequenz sollen alle rhetorischen Verrenkungen der Konservativen die These untermauern, es sei keineswegs gerecht, mehr Gleichheit unter den Menschen herzustellen, und abgesehen davon würden alle Versuche in diese Richtung ausschließlich kontraproduktive Wirkungen haben. Die neokonservativen Ideologen tragen diese Meinung mit großem Getöse und scheinlogischen Ableitungen vor, wie obskur sie ist, ist freilich leicht durchschaubar. Zunächst weisen sie zurück, dass mehr Gleichheit überhaupt ein erstrebenswertes Ziel sei. Schließlich seien die Menschen alle unterschiedlich und es sei doch schön, dass die Welt bunt sei. Alle Versuche der Progressiven, für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, seien deshalb „Gleichmacherei“. Der Wert der „Gleichheit“ stehe im Gegensatz zur „Freiheit“, denn man könne Menschen nur gleicher machen, wenn man ihre Freiheit einschränkt.

 

Die Einwände gegen alle Versuche, mehr Gleichheit zwischen den Bürgern einer Gesellschaft herzustellen, machen das Herzstück des konservativen Denkens aus. Die Angriffe auf das Gleichheitsprinzip – oder umgekehrt: die Verteidigung gesellschaftlicher Ungleichheiten -, sind derart zentral in der Weltanschauung der Konservativen, dass sie eine ganze Reihe elaborierter Argumente vorbringen, die sich um zwei Basispostulate gruppieren. Erstens: Materielle Ungleichheiten, mögen sie auch noch so schroff sein, sind gar nicht ungerecht. Zweitens: Die Ungleichheiten zwischen den Menschen, mögen sie vielleicht auch ungerecht sein, sind funktional für eine prosperierende Gesellschaft und, umgekehrt seien alle Versuche, Ungleichheiten einzuebnen, dysfunktional.

 

Ungleiche Verteilung, so eines dieser Argumente, könne nur dann als „ungerecht“ charakterisiert werden, wenn sie auf illegitimen Wegen zustande gekommen ist. „Was immer aus einer gerechten Situation mit gerechten Zwischenschritten erwächst ist selbst gerecht“, postuliert der Philosoph Robert Nozick[v]. Selbst die gröbsten Ungleichheiten, mögen sie auch die Folge einer Anhäufung von Reichtümern seit Generationen auf der einen, eine Folge von Niederlagen auf der anderen Seite sein, seien gerecht, solange sie unter Einhaltung der Spielregeln hergestellt wurden. Darum ist eines der Lieblingsschlagworte der Konservativen das der „Meritokratie“. Es lautet, dass diejenigen voran kommen sollen, die es verdienen. Eine gerechte Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass man Gleichheit unter Ungleichen herstellt, aber auch nicht dadurch, dass diejenigen viel Macht haben, denen sie in den Schoß gelegt wurde – etwa durch das Erbprinzip in Monarchie und Feudalismus. Der Fluchtpunkt dieses Arguments ist natürlich, dass eine freie marktwirtschaftliche Gesellschaft genau eine solche gerechte Meritokratie ist, dass also diejenigen, die viel haben und damit materielle, soziale und politische Macht konzentrieren, wohl diejenigen sind, die das verdienen. Das Praktische an diesem Prinzip ist natürlich, dass der materielle Egoismus moralisch aufpoliert wird. Helmut Dubiel erinnert in diesem Zusammenhang an die Beliebtheit der „Rennbahnmetapher, mit der die Idee der Meritokratie von Seiten ihrer Verteidiger oft illustriert wird“, das Bild von den Läufern, „die auf derselben Linie gestartet sind“[vi]. Dass der, der schneller vorwärts kommt, dann der Gewinner ist, ist ja nur allzu gerecht. Die Lehre von der Meritokratie hat die leicht durchschaubare „ideologische Pointe, dass sie denen, die ohnehin das Privileg eines hohen Status und eines komfortablen Lebens besitzen, zusätzlich noch das Gefühl vermittelt, all das auch verdient zu haben“[vii].

 

Konservative mit etwas mehr Wirklichkeitssinn sind durchaus bereit, die meritokratischen Prinzipien zu relativieren. Sie räumen ein, dass sich ungerechte Privilegierungen und ungerechte Benachteiligungen über lange Zeit hinweg, über den Lauf der Generationen, zu groben und nachhaltigen Startvorteilen und Startnachteilen entwickeln können; ja, dass das meritokratische Prinzip in jeder Generation neu herausgefordert wird. Denn selbst wenn totale Chancengleichheit herrschte, manche einfach weil sie geschickt und talentiert sind, mehr Reichtümer anhäufen und andere weniger, wäre diese Ungleichheit im Ergebnis von heute die Chancenungleichheit von morgen: Die Kinder der Gewinner von heute gingen eben nicht zeitgleich mit den Kindern der Verlierer über die Startlinie. Die Unterscheidung zwischen „Chancengleichheit“ und „Ergebnisgleichheit“ ist deshalb zwar modisch, aber letztlich „fiktiv“, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman darlegt: „Eine Gesellschaft, in der die Ergebnisse sehr ungleich sind, ist mehr oder weniger unvermeidlich eine Gesellschaft, in der auch die Chancen sehr ungleich sind.“[viii]

 

Tatsächlich kann man den Aufstieg der neuen Konservativen nicht verstehen, wenn man ihn nicht als Angriff auf das Gleichheitsideal versteht. Als nach 1945 begonnen wurde, im Westen Wohlfahrtsstaaten aufzubauen, wurden die Gesellschaften zunehmend „gleicher“. Auch die unteren Schichten wurden am Wohlstand beteiligt, und das ging nicht ohne Umverteilung von Oben nach Unten. Dies betrifft die Wohlfahrtsstaaten Europas in ähnlicher Weise wie die USA, die zwar nie zu einem vollständig ausgebauten Sozialstaat wurden, aber seit der Zeit des New Deals der Dreißiger Jahre bis in die siebziger Jahre die gleiche Richtung einschlugen. Doch seit dem Aufstieg des Neokonservativismus, von Thatcherismus und Reaganomics, geht die Schere wieder auf. Der Aufstieg einen aggressiven, kompromisslosen Konservativismus und das Wachstum der Ungleichheit gehen Hand in Hand.

 

Dass der Frontalangriff der Gleichheitsfeinde in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren so erfolgreich sein konnte, ist durchaus erstaunlich. Denn grundsätzlich ist das Gleichheitsideal allgemein anerkannt. Die allermeisten Menschen wollen nicht ungleich behandelt werden und haben einen wachen Instinkt für Ungerechtigkeiten. Keineswegs lässt sich behaupten, dass das Gleichheitsideal an Überzeugungskraft verloren hat. Eher das Gegenteil ist der Fall: Vor hundert, zweihundert Jahren, als die Menschen noch in ihren traditionellen Gesellschaften lebten, mit Königen, Fürsten, Aristokraten oben, den einfachen Leuten unten, waren die Bürger seit Generationen darauf trainiert, diese Ordnung anzuerkennen. Es kam zwar zu Rebellionen und Revolutionen, wenn die Lage der Unterprivilegierten allzu drückend war, aber ganz generell war die hierarchische Ordnung eher respektiert. Heute ist das nicht mehr der Fall. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa die Londoner Philosophieprofessorin Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (,Wieso glaubt er, etwas besseres zu sein als ich?‘; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?‘), sie sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“[ix]

 

Die Ungleichheit ist, anders als die konservativen Prediger uns Glauben machen wollen, keineswegs nützlich. Relative Gleichheit hat sich historisch als durchaus funktional erwiesen – funktionaler als grobe Ungleichheiten. Seinerzeit, als die Ungleichheiten nach und nach geringer wurden, entstand ein breiter Mittelstand, konnten Familien ihren Kindern eine bessere Ausbildung garantieren, als sie sie selber noch genießen durften, es wuchs die gesellschaftliche Nachfrage nach Gütern, es stiegen die Fertigkeiten der breiten Masse, was sich als Voraussetzung für eine wissensbasierte Ökonomie erwies. Resultat: Die Wirtschaft brummte, die Wachstumsraten waren kontinuierlich stabil. Niedrige Löhne für die Schwachen, sinkende Steuern für die Reichen und die Unternehmen führen eben nicht zu mehr Prosperität, sondern erzeugen soziale Kosten. Gerade relative Gleichheit ist die Voraussetzung für die Mobilität, die dynamische Gemeinwesen benötigen. Ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und Teilhabe am Reichtum ist Voraussetzung dafür, dass jemand Risiken eingehen oder einfach seine Talente entwickeln kann, argumentiert der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel: „Kann ein Arbeiter, von dem man Flexibilität erwartet, vielseitige Einsatzbereitschaft, Verantwortungsbewusstsein, Eigeninitiative und die Fähigkeit, sich ständig an Veränderungen anzupassen, all dies ohne ein Mindestmaß an Absicherung überhaupt leisten?“[x], fragt Castel. Die Erosion des Wohlfahrtsstaates und die Ausbreitung von prekären Lebenssituationen führt eben nicht zu „weniger Kollektivismus“ und „mehr Individualismus“, wie uns die neuen Konservativen Glauben machen wollen. Und umgekehrt war auch der Sozialstaat die Vorbedingung für die zeitgenössische Individualisierung, wenn man so will, für eine „Massenindividualität“, wie Robert Castel in Anlehnung an Marcel Gauchet ausführt: „So wie der klassische Wohlfahrtsstaat einen Klassenkompromiß bewerkstelligt, genauso treibt er zugleich auch die Individualisierung voran. Wenn man die Individuen mit einem so vorzüglichen Fallschirm ausstattet, wie ihn die Gewissheit der Fürsorge darstellt, dann ermöglicht man ihnen, sich in allen erdenklichen Lebenssituationen von den Gemeinschaften, allen möglichen Zugehörigkeiten, angefangen bei den elementaren Solidaritäten der Nachbarschaft, abzunabeln. Der Wohlfahrtsstatt ist ein mächtiger Faktor des Individualismus.“[xi] Es ist, fügt Castel hinzu, durchaus „paradox … Man lebt und erlebt seine eigene Individualität um so leichter, wenn sie sich auf objektive Ressourcen und kollektive Sicherheiten stützt“[xii].

 

Also, und damit bin ich bei meinem Ausgangspunkt zurück: Soziale Gleichheit ist die Bedingung für individuelle Freiheit, nicht ihr Gegenteil. Darf ich Sie an dieser Stelle nur noch einmal erinnern an das Marx-Wort, wonach in der von ihm angestrebten Gesellschaft „die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Staatliche Maßnahmen, die den Schwachen helfen und eine egalitäre Kultur führen nicht zu  weniger Individualismus, sondern zu mehr, und sie führen auch nicht zu weniger Wohlstand, wie die Konservativen meinen, sondern zu mehr. Gute Schulen, die die Ungleichheit nicht reproduzieren, sondern die ungerechte Chancenverteilung auszugleichen versuchen, führen zu einem allgemeinen Wachstum des Bildungsniveaus

 

In einer Gesellschaft mit einem schwachen Staat, in der Ungleichheiten akzeptiert werden, wird auch akzeptiert, dass ein Teil der Gesellschaft nicht mitkommt. In einer solchen Gesellschaft werden Talente vergeudet. Oder, um das in den Worten des großen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu sagen: „Dass rücksichtloser Egoismus in moralischer Hinsicht falsch ist, wussten wir schon; jetzt wissen wir, dass er auch in wirtschaftlicher Hinsicht falsch ist.“[xiii]

 

Wenn wir es zulassen und akzeptieren, dass sich wieder eine breite Unterschicht bildet, die von der Teilhabe am Wohlstand ausgeschlossen ist, die regelrecht „befallen“ (Robert Castel) ist vom Virus chronischer Aussichtslosigkeit und die kaum eine Chance hat, in den Mittelstand aufzusteigen, dann ist das auch demotivierend für die Menschen. Wenn viele Menschen nur geringe Lebenschancen haben, dann hat das negative Auswirkungen – auf diese Menschen, aber auch auf uns alle. 8,2 Prozent der deutschen Kinder werden ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt geschickt, weil kaum etwas dafür getan wird, die Chancen der Unterprivilegierten zu erhöhen. Weil es nicht genug Kindertagesstätten gibt, werden weniger Kinder geboren und es sind deutlich weniger Frauen erwerbstätig, als möglich wäre. Würde man energische Maßnahmen setzen, um diese Ungerechtigkeiten zu beheben, Deutschland würde nicht nur gerechter – das Bruttosozialprodukt läge wohl um hundert oder zweihundert Milliarden Euro höher. Mehr Menschen könnten einen qualifizierten Job ausüben und weniger Niedrigqualifizierte wären arbeitslos ohne realistische Aussicht auf ein Auskommen.

 

Die Gleichheit ist also nicht der Antipode der Freiheit, sondern ihr Zwilling. Die vielbeschworene „Optionen- und Risikogesellschaft“ bedeutet in der Realität: Optionen für die Einen, Risiko für die anderen. „Freiheit“ unter den Bedingungen von grober Ungleichheit heißt Freiheit für die Begüterten, aber Optionenmangel für die Unterprivilegierten. Dass eine egalitäre Gesellschaft nur auf Kosten der „Freiheit“ zu haben ist, ist vielleicht die allergrößte Lüge der neuen Konservativen. Gleichheit heißt nämlich, dass alle die „Freiheit“ haben, aus ihrem Leben etwas zu machen. Und Ungleichheit hat freiheitseinschränkende Wirkungen für die Unbegüterten, weil eklatanter materieller Mangel mit eklatantem Mangel an Optionen einher geht.[xiv] „Nichts versagt dem einzelnen so radikal jegliche Entfaltungsmöglichkeit wie die völlige Mittellosigkeit oder beeinträchtigt sie so sehr wie relative Einkommensarmut“[xv], schrieb der große amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraight.

 

Gleiche Lebenschancen geben allen Menschen die Freiheit, aus ihrem Leben etwas zu machen. Davon haben sie nicht nur als Individuen etwas, sondern wir alle: Es gibt mehr Menschen, die zum Wohlstand unserer Gesellschaften beitragen. Soziale Sicherheit garantiert nicht nur den Individuen ein Leben ohne Angst und Bedrückung – sie können sich dann auch fortbilden, sie können jene Jobs wählen, die ihnen Spaß machen und in denen sie dann wohl auch mehr leisten werden. Und sie können so manches „Wagnis“ eingehen.

 

Es ist eine der großen Grotesken der Geschichte, dass sich die neuen Konservativen als Protagonisten der „Freiheit“ präsentieren und die progressiven Kräfte zu Befürwortern der Gängelung stilisieren. Freilich, die Linke ist daran nicht ganz unschuldig, und zwar nicht nur deshalb, weil manche linke Parteien, allen voran die Kommunisten in Osteuropa, die demokratischen Freiheitsideale verraten haben. Ein bisschen sind die progressiven Kräfte in Westeuropa und in den USA aber auch in die Falle der Konservativen gegangen: Weil letztere die Werte der Freiheit und die der sozialen Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt haben, betonten die Progressiven primär den Wert der Gerechtigkeit, haben über den der Freiheit aber nicht mehr viele Worte verloren. In den meisten Fällen deshalb, weil sie der Meinung sind, dass ein Mangel an Freiheit in den gefestigten westlichen Demokratien kein wirkliches Problem mehr ist, wohingegen die soziale Ungleichheit zu einem immer stärkeren Problem wurde – in manchen Fällen vielleicht auch, weil sie die Auffassung vertreten, dass soziale Gerechtigkeit wichtiger als Freiheit ist. Das war ein schwerer Fehler. Erstens deshalb, weil, wie wir gesehen haben, weniger Gleichheit immer auch weniger Freiheit nach sich zieht, und zweites, weil die Linke immer die Kraft der Freiheit war. Viele Menschen haben sich leidenschaftlich für die Linke engagiert, weil sie gegen Unterdrückung, Diktatur und undemokratische Machenschaften aufgetreten ist. Das war vor 150 Jahren so, als die frühen Sozialisten in der Revolution von 1848 den Kampf für Freiheitsrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit und demokratische Wahlen führten, ein Kampf, der damals noch von Kaiser- und Königtum niedergeschlagen wurde. Das war so, als die ersten Gewerkschaften das Recht der Arbeiter erkämpften, sich mit ihresgleichen zusammenzuschließen. Das war am Ende des Ersten Weltkrieges so, als in den meisten Ländern Europas die Monarchien stürzten und es oft die Anführer der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien waren, die demokratische Republiken ausriefen, in denen das freie und gleiche Wahlrecht garantiert war. Das war in den dreißiger Jahren so, als es vor allem die progressiven Kräfte waren, die sich gegen den Aufstieg des Faschismus auflehnten und, wie etwa im spanischen Bürgerkrieg, beherzt für die Freiheit kämpften. Das war in den sechziger Jahren in den USA so, als die Bürgerrechtsbewegung ihren Kampf gegen die rassistische Diskriminierung der Schwarzen führte. Und das war noch in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Europa so, als einerseits sozialdemokratische Politiker wie Willy Brandt oder Bruno Kreisky den konservativen, beengenden Mief ausfegten und andererseits unorthodoxe Bewegungen und Gegenkulturen versuchten, freie und unkonventionelle Lebensformen zu entwickeln. Und das war immer auch so, wenn linke Parteien, zu Staatsparteien erstarrt, das Freiheitsideal aus den Augen verloren oder gar mit Füßen getreten haben. Libertäre Sozialisten, wie George Orwell, Victor Serge und viele, viele andere haben dann darauf bestanden, dass eine gerechtere Welt ohne Freiheit nicht zu haben ist – aber dass Freiheit auch ohne Gerechtigkeit nicht zu haben ist.

 

Gewiss, das Freiheitsstreben hat historisch verschiedene Betriebsmodi. Aktuell tritt es auch in Gestalten auf, die nicht immer leicht mit traditionellen linken Konzepten kompatibel scheinen. Viele Menschen sind heute auf ihre Autonomie bedacht, sie wollen arbeiten, ohne einen Boss über sich zu haben; sie wollen ihr Ding machen. Wenn wir heute von „Prekarität“ sprechen, dann denken wir immer rasch an Unsicherheit, aber oft ist die Prekarität auch selbst gewählt, von Menschen, die für sich oder kooperativ mit anderen arbeiten wollen und nicht im Apparat einer Firma, mit ihren starren Hierarchien. Lebensentwürfe differenzieren sich aus. Vielfältigkeit lässt sich aber nicht so leicht sozialversicherungstechnisch absichern, denn Systeme brauchen Normierbarkeit. Eine Linke, die ihren Namen verdienen will, muss solches Freiheitsstreben zu ihrer Sache machen.

 

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrücklich unterstreichen, was mir am wichtigsten erscheint. Die progressiven Kräfte waren immer von der Gewissheit getragen: Ein anderes, ein freieres Leben ist möglich. Die Unterprivilegierten haben sich gegen ihre Armut aufgelehnt, aber auch gegen Drangsalierung, Rassismus, Versklavung und Unfreiheit. In all diesen Jahrzehnten und Jahrhunderten waren die linken Bewegungen die Speerspitze der Aufklärung. Sie waren der Meinung, dass auch Arme und Ungebildete das Recht und die Fähigkeit besäßen, selbst zu denken – jeder einzelne von ihnen. Sie waren, so gesehen, deshalb auch eine mächtige Kraft des Individualismus.

 

Überlassen wir den Freiheitsbegriff nicht den Erben jener, die immer auf der anderen, der falschen Seite standen.

Ein Gedanke zu „Die Linke und die Freiheit“

  1. Zunächst einmal: Sehr schöner Artikel. Du hast wirklich Ahnung wovon du sprichst, du drückst dich professionell aus. Ich wünschte, ich könnte das auch.
    Zu Michael: In dem ganzen Artikel geht es um den Freiheitsbegriff. Wenn du sagst, dass man vor der ehemaligen SED nicht über Freiheit reden dürfe, dann hast du glaube ich nicht ganz verstanden worum es in diesem Artikel geht.
    Liebe Grüße
    Fabian

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