Emergency Markets

Der Osten wird jetzt wieder rot – zumindest, was die Bilanzen in den Geschäftsbüchern angeht. Kontakt, März 2009

 

Die Welt des internationalen Business ist auch eine große Benennungsmaschine. „Emerging Markets“ war so ein Begriff, der irgendwann populär wurde und plötzlich aus keinem Wirtschaftsneusprech-Dialog mehr wegzudenken war. Die Wendung selbst trieft von Ideologie, ist sprachliche Manifestation eines Selbsttäuschungszusammenhangs. „Emerging Markets“, was klingt da an: dass da etwas Neues aufsteigt, mit Wucht, wie die aufgehende Sonne oder wie eine Insel, die sich aus dem Meer erhebt, zur Landmasse, ja bald zu einem regelrechten neuen Kontinent wird. Und das Neueste schlägt das Neue. Der „Emerging Market“ ist entschieden positiv konnotiert, winken in ihm doch große und unbekannte Geschäftsmöglichkeiten, ganz im Unterschied zum „Old Market“, in dem die Reviere abgesteckt sind, in dem es den satten Bürgern an Risikogeist und Möglichkeitssinn fehlt. Im „Emerging Market“ wird zwar auch gerechnet, aber es herrscht noch nicht die Buchhaltermentalität des Krämers mit seiner Pfennigfuchserei. „Emerging Markets“ sind etwas für Wirtschaftshelden mit Abenteuerlust.

Ein Land, das bislang in der internationalen Wirtschaftswelt als „Emerging Market“ galt, konnte das Attribut wie einen Adelstitel tragen. „Emerging Markets“ sind junge Märkte, und der Jugend gehört die Zukunft, das wissen wir seit den Zeiten des Sturms und Drangs und der Romantik.

Dabei ist es noch selten gut ausgegangen, wenn eine Region einmal als „Emerging Market“ apostrophiert wurde. Diese Lektion muss jetzt eine Reihe zentral- und osteuropäischer Gesellschaften lernen. Nur allzu schnell werden aus jungen Märkten „Emergency Markets“. Ungarn und die Ukraine wurden nur durch Nothilfen des Internationalen Währungsfonds vor dem Staatsbankrott gerettet, Bulgarien, Lettland, Litauen sind finanzielle Gefahrenzonen, die russische Wirtschaft ist im freien Fall (wenngleich die Regierung wegen der Währungsreserven, die aus dem Öl- und Gasgeschäft stammen, Handlungsspielraum hat). „Emerging Markets“ sind, das dürfen wir jetzt wieder lernen, neben allen anderen strukturellen Problemen, die jede einzelne Volkswirtschaft auch haben mag (strukturelle Probleme, die einander nicht immer gleichen), hochgradig verletzbar. Sie sind meistens relativ klein – jedenfalls was ihre ökonomische Bedeutung im globalen kapitalistischen System angeht -, sie sind von internationalen Kapitalinvestoren abhängig und haben zu wenige Ressourcen, um ihre Finanzmärkte zu verteidigen, wenn einmal Panik und Herdentrieb einsetzen. Der Osten wird jetzt wieder rot – zumindest, was die Bilanzen in den Geschäftsbüchern angeht.

Die osteuropäischen Volkswirtschaften kamen erst in den letzten Jahren einigermaßen auf die Beine und schon das ist eigentlich ein Phänomen, das nie richtig ins Bewusstsein geraten ist. Warum eigentlich gingen die postkommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa in den neunziger Jahren durch ein derart tiefes Tal? Wieso eigentlich kam es zum Totalkollaps der industriellen Infrastruktur, zu einem durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt-Absturz von minus zwölf Prozent zwischen 1990 und 1997, zur Halbierung der Wirtschaftskraft Russlands, zu dieser tiefen Depression mit allen bekannten sozialen Folgen wie Alkoholismus und Selbstmorden bis hin zu einem dramatischen Rückgang der Lebenserwartung? Retrospektiv kann man all die bekannten Gründe aufzählen, warum Osteuropa – in unterschiedlichem Ausmaß, gewiss – zum Mezzogiorno Europas wurde, aber es wäre doch theoretisch auch anderes vorstellbar gewesen. Dass der Kapitalismus diese neue Geschäftsmöglichkeit ergreift, dass Märkte entwickelt werden, kontinuierlich eine tragfähige Konsumnachfrage entsteht und sich lokale Produktion entwickelt. War dieses tiefe Tal tatsächlich historisch notwendig, also alternativenlos?

Auf die erste Katastrophe folgt jetzt die zweite, sodass als Leitmotiv längst gilt: „Survive 2009″ – „2009 überleben“. Für alle Länder der Region gilt, egal ob sie eher Rohstoffe fördern oder schon avanciertere Produkte und Vorprodukte in ihrem Portfolio haben: Ein beträchtlicher Teil ihrer Produktion geht als Export nach Westeuropa, besonders nach Deutschland. Schmiert hier die Konjunktur ab, verkümmern dort die wenig widerstandsfähigen Pflänzchen des Wohlstandes. Gefährlicher noch ist der Mangel an Investitionskapital. Die Kreditmärkte sind in der Hand westlicher Banken. Diese sind wegen der internationalen Finanzkrise in einem Liquiditätsloch. Die Kreditvergabe wird schon aus diesem Grund restriktiver und selektiver. Die westeuropäischen Banken haben in ihren Büchern aber auch 1,6 Billiarden ausstehender Kredite, die sie in Osteuropa vergeben haben. Mit dem Zusammenbruch der Konjunktur in Osteuropa werden auch viele dieser Kredite selbst notleidend. Zahlreiche Kreditnehmer in Osteuropa haben zudem Darlehen in Fremdwährung laufen – massive Abwertungen der osteuropäischen Währungen führen automatisch zu steigenden Kreditkosten und zu noch mehr Ausfällen. Es ist dies die klassische Spirale nach unten: Ausfälle fauler Kredite führen zum Abzug von Kapital, Abzug von Kapital führt zu Abwertungsdruck auf die Währungen, krachende Unternehmen führen zu einer krachenden Konjunktur, noch mehr Kreditausfällen und so weiter. Und während die führenden kapitalistischen Nationen und Blöcke – vornehmlich die USA und die Europäische Union – bei aller Dramatik Spielraum genug haben, um massive Bankenrettungs- und konjunkturelle Stimulusprogramme zu starten, haben die osteuropäischen Regierungen (mit Ausnahme Russlands) diese Möglichkeiten nicht. Mehr noch: Je steiler die Abwärtsspirale, umso geringer diese Möglichkeiten. Staatsausgaben werden gekürzt, Renten gekappt, an allen Ecken gespart, was wiederum die Rezession verschlimmert. Während wohlhabende Staaten die Möglichkeit haben, antizyklisch zu agieren, müssen die „Emerging Markets“ prozyklisch agieren (man lasse sich in diesem Fall durch das irreführende makroökonomische „pro“ nicht täuschen – an dem „pro“ ist nichts gut): Läuft die Wirtschaft schlecht, muss man Sparmaßnahmen exekutieren, die weiteren Schaden anrichten. Und wenn Kredite am notwendigsten gebraucht werden, sind sie auch am schwersten zu bekommen.

In diesem Moment machen „Emerging Markets“ eine schmerzhafte Erfahrung: Bei aller Interdependenz des „globalen Kapitalismus“, bei aller Integration in die Europäische Union sind sich die führenden Volkswirtschaften im Augenblick der Krise doch selbst am nächsten. Sie hauen im Notfall „ihre“ Banken mit Milliarden Euro Finanzspritzen raus, aber sie werden nicht den Finanzplatz Osteuropa retten. Die Bank of America mag „too big to fail“ sein – die Ukraine oder Bulgarien sind es nicht. Für einzelne westeuropäische Länder, Österreich voran, würde das zwar gelten – Österreichs Banken haben 297 Milliarden Dollar an Krediten in Mittel- und Osteuropa ausstehen, was mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht – aber diese Länder sind wohl selbst zu klein, um im Extremfall die Katastrophe zu verhindern.

„Alles, was sie uns über den Kommunismus gesagt haben, war falsch, aber alles, was sie uns über den Kapitalismus gesagt haben, war richtig“, lautet ein neuerdings beliebtes Bonmot in den postkommunistischen Staaten. Darin steckt ein Kern von Weisheit. Andererseits ist anzumerken: Das haben sie über den Kapitalismus nicht gesagt, denn das konnten sie über den Kapitalismus noch gar nicht sagen. Der zeitgenössische deregulierte Finanzmarkt-Kapitalismus hat schlicht vor 20, 30 Jahren noch nicht existiert. Dass global agierende Investorenherden ihr Geld in „Emerging Markets“ anlegen, von denen man sich hohe Renditen verspricht, dann aber panikartig wieder abziehen und dabei verwüstete Landstriche hinterlassen, ist ein relativ neues Phänomen. Ebenso, dass dabei Summen im Spiel sind, die die betroffenen Länder völlig hilflos machen, auch nur irgendwie zu agieren. Es ist dies eine Erfahrung, die alle als „Emerging Markets“ apostrophierten Regionen in den vergangenen 15 Jahren machen mussten: Late
inamerika-Krise, Russland-Krise, Asien-Krise – das Muster war überall das gleiche. Oft reichten Kleinigkeiten, um einen Prozess in Gang zu setzen, der wie bei einer „Rückkopplungsschleife“ (Paul Krugman) im Kollaps ganzer Weltregionen endete.

Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen dem, was Asien oder Lateinamerika widerfuhr, und jenem, was jetzt Osteuropa droht: Die früheren Krisen spielten nur an der Peripherie und ließen die Finanzanlagezentren unberührt. So setzte sich in der internationalen Businesscommunity bisher immer die Interpretation durch, die betroffenen Länder seien selbst schuld: an der Lateinamerika-Krise der schlechte wirtschaftliche Zustand der Realwirtschaft in Argentinien oder Mexiko, an der Asien-Krise der „Crony Capitalism“, also Korruption und zu wenig Marktwirtschaft. Kein Mensch würde heute dagegen sagen, Lettland, Bulgarien oder Ungarn hätten das Schlamassel angerichtet. Man weiß, dass Wall-Street-Banker das Schlamassel angerichtet haben, die betroffenen Länder sind nur zu schwach, um die Folgen zu überstehen.

Das hat immerhin den Vorteil, dass den mittel- und osteuropäischen Staaten jetzt nicht das feindselige Misstrauen entgegenschlägt, mit dem Malaysia, Thailand oder Südkorea vor zehn Jahren zu kämpfen hatten. Wenn man genügsam ist, könnte man sagen, dass das immerhin schon einen Fortschritt darstellt.

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