Enteignet sie!

We Are All Socialists Now. Der Sozialismus kommt aber trotzdem nicht.

Der Freitag, 26. März 2009


Man reibt sich die Augen. „Moralisch und ökonomisch abscheulich“, nennt John Prescott, einstiger Vizepremier unter Tony Blair, das Verhalten der Bankmanager, von einem „Gipfel der Verantwortungslosigkeit“ spricht Barack Obama. So hätte das vor ein paar Monaten nicht einmal Sarah Wagenknecht zu sagen gewagt – der Verfassungsschutz wäre hellhörig geworden. US- Finanzminister Timothy Geithner legt derweil ein staatliches Zwei-Billionen-Dollar-Programm auf, dessen Konsequenz die faktische Verstaatlichung des gesamten amerikanischen Bankensektors sein könnte. Während Großbritanniens Banken vor der Zwangsverstaatlichung stehen, winkt die Bundesregierung ein Enteignungsgesetz durch das Kabinett. Derweil diskutiert man in Berlin schon die Für und Wider einer Verstaatlichung von Opel. Ein paar Ewiggestrige warnen zwar noch, dass der Staat ein schlechter Unternehmer sei. Aber viel Gehör finden sie nicht mehr. Man hat schließlich Bekanntschaft mit noch schlechteren Unternehmern gemacht.

We Are All Socialists Now“, titelte das US-Magazin „Newsweek“ vergangene Woche.

Galt unlängst noch, wer nur die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze um zwanzig Euro forderte, als verweichlichter Gutmensch und staatsgläubiger Kollektivist, so endet die neoliberale Dominanz mit der größten Nationalisierungswelle seit Wladimir Iljitsch Lenin. Verkehrte Welt, so hat man’s gerne. Mancher, der jüngst noch das hohe Lied von der Effizienz freier Märkte sang und uns mit jargonhaften Floskeln wie „Innovation“ und „schöpferischer Zerstörung“ behelligte, nimmt jetzt lässig das Wort „Enteignung“ in den Mund. Schadenfreude will zwar nicht recht aufkommen – schließlich ist der Schaden demokratischer verteilt als die Gewinne von gestern -, aber man fragt sich nicht ohne Faszination, wie sich Leute fühlen, die abends das exakte Gegenteil dessen sagen, was sie noch morgens verkündet haben. Hat es in ihrem Kopf einfach „klick“ gemacht? Wer leise anmerkte, ob sich etwas rechne sei nicht das einzige Kriterium für den Wert einer Sache, musste sich jahrelang anherrschen lassen, er solle doch bitte die wirtschaftliche Realität zur Kenntnis nehmen. Für die, die das sagten, darf man nun immerhin ins Treffen führen, dass sie jetzt ihrerseits ohne viel Zeitverzug bereit waren, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die wirkliche Wirklichkeit, gewissermaßen.

Jetzt purzeln auch die Begriff durcheinander. Ist „der Kapitalismus“ gescheitert, wird gefragt, wenn nun „verstaatlicht“ werde? Aber ist das dann kein Kapitalismus mehr? Und wenn: Was ist das dann? Von anderer Seite wird dagegen eingewandt, nicht „der Kapitalismus“ sei gescheitert, sondern ein auf Kreditaufblähung und künstlicher Nachfragesteigerung beruhendes System. Aber war das nicht eben jenes Arrangement, das der moderne Kapitalismus in den vergangenen fünfzehn Jahren entwickelt hat?

Der Kapitalismus ist nicht gescheitert. Und Notverstaatlichungen führen keinen Sozialismus ein. Gescheitert ist zunächst einmal eine Ideologie und ein auf dieser beruhendes institutionelles – oder besser: antiinstitutionelles – Arrangement. Die basale Idee lautete: Wenn auf möglichst unregulierten Märkten so viele Menschen wie möglich ihrem Eigennutz folgen, schlägt das in einer mirakulösen Operation zum Nutzen aller um. Dies war eine ökonomische Doktrin, aber auch eine moralische Erzählung, die natürlich eine hohe Anziehungskraft auf Egoisten aller Art hatte, erklärte sie ja, dass eine Untugend – die Eigennützigkeit – tugendhafte Resultate zeitigt. Erst diese moralische Erzählung machte es möglich, dass Leute, die sich Phantasiesummen an Gehältern und Boni gönnen, nicht als Plünderer erschienen, sondern sogar als Leute, die die Welt besser, weil reicher, machen. Im Umkehrschluss wurde mehr als nur insinuiert, dass Tugendhaftigkeit eine Moral für Idioten sei, die möglicherweise stets Gutes wollen, aber stets Schlechtes schaffen. Im Lichte des globalen Finanzmarktkollapses können das freilich nur mehr Phantasten behaupten. Das eigennützige Streben Einzelner ist nicht in einem allgemeinen Nutzen umgeschlagen, sondern in ein globales Großdesaster, das allen schadet – sogar den Gierigen. Die Untugend führte nicht zur Tugend, sondern zur Katastrophe. Damit ist aber nicht nur „irgendetwas“ schief gelaufen. Die Grundidee, die die Welt zuletzt regierte, ist in Trümmern.

Weil es das neoliberale Einheitsdenken seit Beginn der neunziger Jahre vermochte, „den Kapitalismus“ mit seiner radikal individualistischen und marktgesellschaftlichen Variante zu identifizieren, scheint „das System“ als solches delegitimiert. Dabei erweist sich freilich noch im Moment des Kollapses, dass Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ nicht vollends unrecht hatte. Fukuyama behauptete ja nicht, dass es keine historischen Ereignisse mehr gäbe, sondern dass keine historische Alternative in emphatischen Sinn zum westlichen marktwirtschaftlichen System existiert. Einfach abtun lässt sich das auch heute nicht. Mag das „Schattenbankensystem“ (Paul Krugman) aus Investmenthäusern, Hedge- und Private Equity Fonds mit Hilfe von Allan Greenspans billigem Geld den Kapitalismus gegen die Wand gefahren haben, ein historisches Alternativsystem hat weder Oskar Lafontaine in der Tasche noch der Papst unter der Soutane. Eher ist noch ein Totalkollaps, der Zusammenbruch des gesamten globalen Finanzsystems mit Staatsbankrotten und endemischem Chaos vorstellbar als eine ganz andere, neue Ordnung. So erweist sich noch in der schwersten Krise die umfassende Hegemonie des marktkapitalistischen Modells. Der Staat, der in der Not nationalisiert, ist nicht die Verkörperung einer anderen Logik, sondern der Retter, der den Zusammenbruch verhindern soll.

Womöglich ist das ein weniger unerhörter Vorgang als das uns, die wir inmitten des Tsunamis stehen, erscheint. Das westliche kapitalistische System war nach dem zweiten Weltkrieg von zwei Großarrangements geprägt. Das erste war das keynesianisch-fordistische Modell mit seinen großen industriellen Konglomeraten, relativ geschlossenen Märkten und „Big Government“, das zweite das neoliberal-postfordistische Modell, das auf dem Aufstieg neuer Informationstechnologien, deregulierten Märkten und privater, teilweise kreditfinanzierter Konsumnachfrage beruhte. Jedes dieser Modelle prägte die kapitalistische Welt rund dreißig Jahre lang. Was, wenn das einfach die natürliche Lebensdauer sozialökonomischer Modelle ist?

Wie aber kann das künftige sozialökonomische Modell aussehen? Am Ende dieses Jahres werden die global wichtigsten Banken wahrscheinlich auf irgendeine Art und Weise nationalisiert sein – einfach, weil die Alternative dazu die Insolvenz wäre. Wohlgemerkt: Wenn wir Glück haben, werden sie nationalisiert sein. Wenn wir Pech haben und die staatlichen Rettungskapazitäten überfordert sind, werden sie nicht mehr existieren. Ohnehin ist der Finanzsektor systemisch ungeeignet, nach privatwirtschaftlichen Kriterien geführt zu werden. Denn zur „Effizienz“ freier Märkte gehört das Risiko des Scheiterns dazu. Banken aber können de facto nicht bankrott gehen. Wenn sie „too big to fail sind“, und das sind praktisch alle, dann haben sie eine implizite Staatsgarantie, weil die Kosten eines Kollapses exorbitant höher sind als die Kosten einer Rettung. Wenn ich aber bei hohem Risiko astronomische Gewinne erzielen und im Verlustfall auf staatliches Bailout vertrauen kann, wird das meine Risikostrategie beeinflussen. Banken haben, anders als Reifenfabrikanten und Zahnstocherproduzenten, deshalb einen ökonomischen Anreiz zur Verantwortungslosigkeit. Daraus folgt nicht, dass Finanzakteure im staatlichen Eigentum sein, sondern dass sie strenger, möglichst rigider Regulierung unterliegen müssen. Der künftige Finanzsektor wird, wie der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch unlängst in einem Essay in „The Political Quarterly“ prognostizierte, „von einer geringeren Anzahl großer Player dominiert sein, die direkten Zugang zu den Regierungen haben werden, ja
, die oft von den Regierungen erst geschaffen worden sind“.

Wie ein radikaler Systemwechsel erscheint das auf dem ersten Blick nicht gerade. Aber die ideologische Legitimation des Systems wird weniger mit Begriffen wie „freier Markt“, „Deregulierung“ und „unternehmerisches Risiko“ verbunden sein als mit Begriffen wie „Verantwortlichkeit“ und „staatlicher Aufsicht“. „Staat“ wird nicht mehr mit Vokabeln wie „bürokratisches Monster“ assoziiert sein, eher mit dem Bild vom „ehrlichen Makler“. Bloße Worte? Die Welt wird nicht zuletzt von Metaphern regiert. In den vergangen Jahrzehnten wurde der raffinierte Investor, der wendige Zocker, regelrecht zur Kultfigur. Der smarte Banker war in dieser „Madoff-Economy“ die paradigmatische Leitfigur eines halben Zeitalters. Risikogeist wurde mit Individualität verbunden. Gerissenheit wurde zur Tugend erklärt, und der Gerissene war, wenn er zu Reichtum gelangte, nicht nur reich, er galt, „Leistungsträger“ genannt, sogar als moralische Autorität. Politiker orientierten sich am Role-Modell des flotten, wendigen Managers. Heute wissen wir: der biederste Attac-Aktivist hatte ein sachkundigeres Bild von den Finanzmarktrisiken als die meisten Finanzminister.

Jetzt stehen wir da, mit leeren Händen. Instinktiv greift man zu den alten Begriffen. Sozialismus? Auf den kann man lange warten. Hat jemand eine neue Erzählung? Wer werden ihre Leitfiguren sein? Wir brauchen sie dringend, und sei es bloß, weil irgendjemand doch die Henkels und Sinns in den Talkshows ersetzen muss.

4 Gedanken zu „Enteignet sie!“

  1. das Gute an der Krise: dass man solche Dinge jetzt aussprechen kann und die realistische Möglichkeit besteht, dass man nicht ins ideologische Eck abgeschoben wird, sondern einem sogar ein paar Leute zuhören. DANKE für diesen Post und besonders für diesen einen Satz: „Die basale Idee lautete: Wenn auf möglichst unregulierten Märkten so viele Menschen wie möglich ihrem Eigennutz folgen, schlägt das in einer mirakulösen Operation zum Nutzen aller um. Dies war eine ökonomische Doktrin, aber auch eine moralische Erzählung, die natürlich eine hohe Anziehungskraft auf Egoisten aller Art hatte, erklärte sie ja, dass eine Untugend – die Eigennützigkeit – tugendhafte Resultate zeitigt.“

  2. „Wie aber kann das künftige sozialökonomische Modell aussehen?“
    Wir sind davon überzeugt das es langfristig nur über aktive Teilhabe, mit den Bürgern geht. So eine Art Mischung aus: „Ökonomie ist ein Spiel für Alle Bürger.“ und „Das was mir Freude bereitet, erfülle ich mit nachhaltiger Substanz.“.
    Es würde mich tatsächlich sehr freuen wenn Sie unser Modell durch ihre Kritik würdigen würden. Ihr Beitrag über die Frage ob der Kommunismus besser sei auf Youtube hat mir sehr gefallen 🙂

  3. Brrrr. Ein künftiger Finanzsektor, der „von einer geringeren Anzahl großer Player dominiert sein, die direkten Zugang zu den Regierungen haben werden, ja, die oft von den Regierungen erst geschaffen worden sind“? Too big to fail ist too big to fail. Da hilft auch kein Staatsmonopolkapitalismus 2.0.
    Das schöne an der Krise ist allerdings: dadurch dass a) kaum einer weiss, was los ist und b) erst recht keiner weiss, wie’s weitergehen soll (Hauptsache, dass), können wir jetzt eine offene Runde Wünsch-Dir-Was spielen. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, was wir eigentlich wollen.
    Ein entökonomisiertes System, wir sammeln lieber Karmapunkte? Eine Diktatur des Proletariats, aber diesmal ohne Diktatur (und ohne Proletariat)? Neofeudalismus, mit Gated Communities für den Geldadel (dubai sein ist alles)?

  4. Es war – wie richtigerweise festgestellt – Big Business, das mit billigem Geld von und der Duldung sowie Förderung durch Big Government die Krise ausgelöst hat. Die Lösung liegt folglich nicht in einem Mehr, sondern konsequenterweise in einem Weniger: weniger Big Government, weniger Big Business. Am besten keins mehr von beidem. Nur so kann Neues entstehen. Alles andere ist business as usual unter anderen Vorzeichen.

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