Europa hat schon bessere Tage gesehen

Am 19. und 20. März nahm ich an der Tagung über das Revolutionsjahr 1989 der Heinrich Böll Stiftung in Berlin teil. Vorab publizierte die Stiftung diesen Text von mir zur Einstimmung.

Auch Optimisten, die schwer zu deprimieren sind, warf die Entwicklung Europas in den vergangenen zwanzig Jahren oft ordentlich aus der Bahn. Dieses Europa hat realpolitisch Bemerkenswertes geleistet: den Euro eingeführt, sich in gemessener Geschwindigkeit institutionell organisiert, hat mehr als ein dutzend weitere Mitglieder in die Europäische Union aufgenommen. Und doch herrscht schon seit einiger Zeit Katzenjammer. Die großen Hoffnungen des Jahres 1989 sind schnell verflogen. Gut, viele dieser Hoffnungen waren dem Pathos der ersten Stunde geschuldet, den elektrisierenden Momenten. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich als junger Reporter eines Abends im Prager Revolutionsherbst im Keller des Theaters Laterna Magica saß. Vaclav Havel und Jiri Hajek waren auf der Bühne. Dann kam ein Mann, flüsterte Havel etwas ins Ohr. Dann sagte Havel: Ich habe gerade erfahren, dass das Politbüro des Zentralkomitees der KPC geschlossen zurückgetreten ist. Berichterstatter und Revolutionäre lagen sich in den Armen. Ein paar Tage davor war schon die Berliner Mauer gefallen. Kurz danach stellten die Rumänen Nicolae Ceaucescu vor ein Erschießungspeleton. Und irgendwann stand Boris Jelzin dann auf einem Panzer und vertrieb die Putschisten mit dem Megaphon. Was für eine große Zeit.

Vorbereitet war das von einer „europäischen Idee“, die umso glanzvoller strahlen konnte, als sie sich nicht in der Realität beweisen musste. „Mitteleuropa“ als historischer Raum faszinierte die Intellektuellen und nach dem Fall des Eisernen Vorhanges setzten sich Twenty- und Thirtysomethings in Züge mit vergammelter Patina, die nach seltsamen Zigarettensorten rochen und fuhren nach Prag, Breslau, Königsberg.

Diese westliche Mitteleuropa-Idee war getragen von der  melancholischen Liebe zu morschen Kastenfenstern, bröckelndem Kalkputz, moosbewachsenen Dachschindeln. Währenddessen träumen die Menschen in diesen Häusern nicht selten von Plastikfenstern mit Dichtheitszertifikat, Isolierputz und industriell gefertigten Badezimmerfliesen.

Für den Westen war der Osten der Traum von der Flucht aus der Postmoderne, der man langsam überdrüssig geworden war (auch wenn kurzfristig aus dem Traum ein Alptraum wurde, weil in den historischen Regionen plötzlich alter ethnischer Wahnsinn wucherte). Für den Osten war der Westen der Traum von Konsum und Wohlstand. Für den Westen war der Osten der Kontrast zu glatter Düsseldorfigkeit. Nicht wenige im Osten hätten Düsseldorf dagegen für das Synonym für das Paradies gehalten. Für den Westen war der Osten ein großes Freilichtmuseum mit Einwohnern, die man für glückliche, freilaufende, vom Kommerz, Werbung und Konsum noch nicht so entfremdete Menschen hielt, ähnlich den Hühnern am Biobauernhof. Im Grunde hätte man sich gewünscht, dieser History-Park würde weiter bestehen. Aber dessen Einwohner wollten aus irgendwelchen unverständlichen Gründen werden wie wir.

So erlebten wir, als 2004 zehn neue Mitglieder in die Europäische Union aufgenommen wurden – acht davon waren mittel- und osteuropäische Staaten -, eine paradoxe Situation. Im Westen herrscht das Gefühl vor, es geschehe doch damit nichts Bedeutendes, jedenfalls nichts Großartiges – allenfalls beginne ein ökonomisch riskantes Abenteuer. Im Osten wiederum spüren die Leute natürlich, dass diese supranationale Entität, der man demnächst zugehört, den Beitritt allenfalls als technisches Ereignis betrachtet. Pathos war da und dort keiner aufkommen. Dabei markiert dieser 1. Mai 2004 einen triumphalen ersten Höhepunkt einer fast unglaublichen Success-Story. Alle neuen EU-Mitgliedsstaaten haben in weniger als 15 Jahren ausreichend stabile demokratische Institutionen aufgebaut, ihr administratives Regelwerk dem der Europäischen Union angeglichen und ein politisches Personal herausgebildet, das mit Ansprüchen an politische Professionalität in modernen westlichen Demokratien mitzuhalten vermag, auch wenn es da und dort noch irritierende Korruptionsanfälligkeit und auch noch überdurchschnittliche Instabilität geben mag. All dies wäre ohne den Magnetismus der Europäischen Union nicht möglich gewesen.

Aber doch hatte die europäische „Idee“ als sie zu einer Realität werden hätte müssen, an Elan verloren. Auch das „alte“ Westeuropa war plötzlich von Selbstzweifel gepackt. Man erinnere sich noch an die zweite Hälfte der neunziger Jahre: In langen Nachtsitzungen in Brüssel wurden die letzten Details für die Einführung des Euro ausgehandelt. Elf der damals 15 EU-Regierungen waren sozialdemokratisch geführt. Blair, Schröder, Jospin, Persson und wie die Premiers damals alle hießen – sie alle standen modernen Mitte-Links-Regierungen vor.  Für einen historischen Augenblick waren alle europäischen Staatsführer, was immer sie sonst voneinander getrennt haben mag, auf einen Ton gestimmt. Es schien möglich, dass der nächste Level im Aufbau der supranationalen Entität „Europäische Union“ errichtet wird, eine neue Art von „Staatlichkeit“ und Europa ein Modell werden könnte. Kontrastprogramm zum neoliberalen Marktgesellschaftsmodell der USA und zum autoritären Staatskapitalismus, der sich gerade in Asien zu entwickeln begann.

Doch dann setzte, warum auch immer, eine neue Phase der Eurosklerose ein. Die Bevölkerungen begannen, Abschottungspolitiken zu favorisieren. Die politischen Eliten trugen dem Rechnung und errichtete neue Zäune und, was noch schlimmer wiegt, sie schlugen den Jargon der Kleingeistigkeit an. Die Idee von den Doppelidentitäten der europäischen Bürger – Bürger ihrer Nationalstaaten und Bürger Europas zugleich – blieb eine schöne Phantasie. Man verzettelte sich im Europäischen Verfassungsprozess und, bis die Franzosen und Niederländer den neuen EU-Vertrag ablehnten. Das Europäische Sozialmodell wurde plötzlich nicht mehr als das gesehen, was Europa positiv von anderen Teilen der Welt unterschied – sondern als Standortnachteil. Auch in den europäischen Bevölkerungen machte sich Verzagtheit breit. Ökonomische Instabilitäten breiteten sich aus, gesellschaftliche Ungleichheit wuchs wieder und viele sahen plötzlich in der Europäischen Union nicht mehr das Instrument, ein neues progressives Sozialmodell zu entwickeln, sondern im Gegenteil ein Arrangement, das dazu betrug, das alte Sozialmodell abzuwracken. Und im Nachbarn den Konkurrenten – personifiziert durch den „polnischen Klempner“. Viele identifizierten mit dem Synonym „Europa“ die Elitenveranstaltung, die dazu beitrug, den normalen Leuten das Leben zu erschweren. Wer die Europäische Union verteidigte, tat das meist mit Hinweis auf ihre pragmatische Nützlichkeit. Die paar, die noch mit Pathos die historische Chance und das unerhörte Neue an dieser Form supranationaler Governance herausstrichen, die konnte man bald fast an den Fingern einer Hand abzählen. Lebendige Europäische Politik entwickelte sich nicht. Die Wahlen zum Europäischen Parlament werden in aller Regel zu populistischen Abrechnungen im Kontext der jeweiligen nationalen politischen Diskurse missbraucht. Die Repräsentanten dieses Europas – Kommissionspräsident, Kommissare – machten sich die Regierungen unter sich aus. Wie die Wähler auch immer votierten, auf die Zusammensetzung dieser „Regierung Europas“ hatte das wenig Auswirkung. Dieser Mangel an demokratischer Legitimation übersetzte sich direkt in einen Mangel an Identifikation der Bürger mit diesem Europa. Die Welle an negativen Voten über den EU-Reformvertrag brachte das Europäische Projekt endgültig in die Sackgasse.

Von Begeisterung ist keine Spur mehr, auch wenn die Europäische Union in den vergangenen Monaten wieder an Zustimmung gewonnen haben mag. Gerade in der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise wurde die EU oft wieder und mit Recht als Schutz gesehen – vor allem die Währungsunion. Jeder konnte deutlich sehen, dass kleine nationale Volkswirtschaften mit eigener Währung der Talfahrt der Märkte hilflos ausgesetzt sind, besonders dann, wenn sie auch noch mit spekulativen Attacken konfrontiert sind. Gleichzeitig sorgt freilich auch diese Währungsunion für Ungleichgewichte. Deutschland hat in den vergangenen Jahren seine Wettbewerbsposition gegenüber anderen EU-Ländern verbessert – ohne dass die nun mit Währungsabwertungen darauf reagieren könnten. Vor allem krisengeschüttelte Länder wie Spanien bringt das in Kalamitäten. Andererseits stünden diese gebeutelten Ökonomien ohne Euro heute wohl viel schlimmer da. Hätten sie noch nationale Währungen, diese würden ins Bodenlose fallen. Selbst das britische Pfund sackte auf einen historischen Tiefstand und ist gerade noch 1,1 Euro wert. Ohne Euro wären Länder wie Spanien und Griechenland gefährdet, dem isländischen „Modell“ nachzueifern.

Aber diese „Vorteile“ sind heute beinahe wie eine Metapher für die höchstens pragmatische Zustimmung zur Europäischen Union. Die meisten Bürger sehen sie als die bessere von zwei schlechten Alternativen. Und die Bürger der anderen EU-Staaten betrachtet man nicht als „Mitbürger“ eines gemeinsamen Gemeinwesens, sondern als Leute, mit denen man sich zum wechselseitigen Vorteil verbunden hat, aber mit denen einem ansonsten eigentlich nicht viel verbindet. Europa hat schon bessere Tage gesehen.

Ein Gedanke zu „Europa hat schon bessere Tage gesehen“

  1. europa? ist doch im schnitzelland auch nur ausland!
    hier:
    http://www.picfront.de/d/KaBkh2kVrhz/Bild4.png
    ein ausschnitt aus der orf.on berichterstattung. das böse ausland europa hat die glühbirne verboten! skandal! schlagzeile!
    solange die schnitzellandmedien so sind wird ausserhalb der aktiv denkenden minderheit kein europa bei uns entstehen – das gefühlte europa ist ausland, das echte europa wird uns bald als exotischen zoo innerhalb er eigenen grenzen betrachten. zu recht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.