Ketchup-Ökonomen

Paul Krugman und Francis Fukuyama untersuchen den „intellektuellen Kollaps“ der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft. Das „Atlantic Monthly“ fragt, wie sich eine Wirtschaftskrise eigentlich anfühlt. taz, 12. Oktober & Falter 14. Oktober 2009 

 

Irgendwie sieht die Krise anders aus, als man sich eine Krise immer ausgemalt hat: Nirgendwo rauchende Ruinen, auch Massenelend ist nicht von einem Tag auf den anderen ausgebrochen. Gewiss: Millionen Jobs sind verloren gegangen. Noch sind viele Beschäftigte in Kurzarbeit geparkt, kleine Ladenbesitzer stöhnen, dass die Geschäfte schlechter gehen und die vielen Freelancer in der Kreativwirtschaft machen ein säuerliches Gesicht, weil die Aufträge ausbleiben. Es gibt genügend Leute, deren Einkommen empfindlich schrumpte.

 

Trotzdem springt die Krise nicht ins Auge. Optimisten sagen deswegen sogar, sie wäre gar nicht so schlimm und außerdem schon wieder vorbei.

 

Womöglich aber sieht eine Krise, auch eine Depression ja exakt so aus. Diesen Gedanken legt der eindrucksvolle Literaturessay „Life In (and After) Our Great Rezession“ nahe, den Benjamin Schwarz für das US-Magazin „The New Atlantic“ geschrieben hat. Darin gräbt er sich durch Bücher, Erinnerungen und Reportagen über die „Große Depression“ der dreißiger Jahre.

 

Und auch damals war es trotz Massenarbeitslosigkeit so: Die allermeisten Menschen hatten weiter einen Job. Sie hatten nur weniger Geld. Die, die Arbeit suchten, haben schwerer eine gefunden. Wer jung war, dessen Berufslaufbahn kam schleppend oder gar nicht voran – man konnte froh sein, wenn man auf schlecht bezahlten Posten am unteren Ende der Karriereleiter hängen blieb. Zukunftszuversicht wich, Pessimismus macht sich breit. Dienstleistungen wurden seltener in Anspruch genommen, weil das Geld dafür fehlte, sodass wieder mehr häusliche Arbeit auf den Schultern der Frauen lastete. Man ging kaum zu außerhäuslichen Vergnügungen -, man orientierte sich wieder mehr auf die (Klein-)Familie. Eine neue Spießigkeit machte sich breit, die sich stark abhob von den exzentrischen Zwanziger-Jahren. Die Menschen hatten sogar seltener Sex. Wer in diesem Unsicherheitsgefühl aufwuchs, kriegte es später nie mehr wirklich los.

 

Was, wenn eine solche Ära, mit wenig guten Nachrichten und viel schlechter Stimmung, auch vor uns liegt? Man könnte die Ökonomen fragen, aber auch auf deren Urteil ist wenig Verlass. Denn als Zunft erlebte auch die Wirtschaftswissenschaft ihren „intellektuellen Kollaps“, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in einem umfassenden Aufsatz im „New York Time Magazine“ schreibt. Eine richtige Philippika, eine Abrechnung ist es geworden. Titel: „How Did Economists Get It so Wrong?“

 

Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften war, im vergangenen halben Jahrhundert, „in hohem Maße eine Geschichte der Abkehr vom Keynesianismus und der Rückkehr zur Neoklassik.“ Und dabei ging es ja nicht nur um eine Abkehr von einer eher „linken“ Ökonomie und der Hinwendung zu einer eher „rechten“, „neoliberalen“ Doktrin. Die Differenz zwischen Keynesianismus und Neoklassik erschöpft sich ja nicht in solchen plakativen politischen Kategorien. Der Keynesianismus war eine Wirtschaftswissenschaft, die mit der Problematik der realen Welt operierte, während die Neoklassik schöne Modelle entwarf, in denen Märkte effizient und optimal funktionieren und die sie mit formelhafter Genauigkeit zu durchdringen versuchte. Pointiert formuliert: Makroökonomisches Wissen wurde durch Mathematik ersetzt.

 

Die „unsaubere“ Wirklichkeit kam in diesen Modellen nicht vor. Wie selbstreferentiell die Phantasie-Ableitungen dieser Vodoo-Ökonomie sind, illustriert Krugman an Hand einer hübschen, böse-polemischen Metapher: „Aus der Entdeckung, dass zwei Ketchup-Flaschen exakt doppelt soviel kosten wie eine Ketchup-Flasche, ziehen sie den Schluss, dass der Ketchupmarkt ein perfekter, effizienter Markt ist.“ Ketchup-Ökonomen nennt er sie deshalb.

„What Were They Thinking?“ – „Was haben sie sich eigentlich gedacht?“ – diese Frage stellen auch Francis Fukuyama und Seth Colby in einem ausladenden Aufsatz im gemäßigt neokonervativen Magazin „The American Interest“. Das ist schon alleine deshalb interessant, als Fukuyama seit seinem legendären Großessay über das „Ende der Geschichte“ als Idol aller Freunde des liberalen Marktkapitalismus gilt. Tatsächlich, schreiben die Autoren, gibt es berechtigte Zweifel an der Effizienz von Märkten, freilich ist auch kaum zu bestreiten, dass freier Warenverkehr, dass liberalisierte Güter- und Arbeitsmärkte wohlstandsfördernde Effekte haben. Aber das gilt für Kapitalmärkte eben nicht unbedingt. „Der Finanzsektor funktioniert anders als andere Wirtschaftssektoren.“ Zwar tragen auch liberalisierte Finanzmärkte zur „effizienten Allokation von Kapital“ bei, aber die Risiken und Gefahren, die ihnen inhärent sind, untergraben diese Effizienz und wiegen ihren Nutzen mehr als auf. Dies aber wollte die Mainstream-Ökonomie, die vor dem Krach den Ton angab, nicht einsehen – sie war geblendet von ihren eigenen mathematischen Modellen, die den Eindruck erweckten, man könne jedes Risiko kalkulieren und in Wahrscheinlichkeitsrechnung auflösen. Die Modellrechnungsökonomen gaben, da sind sich Fukuyama und Colby mit Krugman einig, den Ton in der Zunft an – mehr noch, sie waren die Stars der Branche und wurden oft von Hedge-Fonds engagiert, von der Wall Street bezahlt. Eine Konstellation, die hart an der Grenze zur Korrumpierung schrammte.

Fukuyama wundert sich, wie blind die amerikanischen Ökonomen waren. Sie haben nach der Asienkrise sehr genau analysiert, was damals schief gelaufen war, waren aber offenbar unfähig, diese Erkenntnisse „auf ihre eigene Situation“ anzuwenden. Sie hingen, so die Autoren, „einem rigiden und – es gibt dafür einfach kein anderes Wort – ideologischen Denken an“. Fluchtpunkt der Argumentation von Fukuyama wie von Krugman ist: Die ökonomische Wissenschaft muss sich von ihren reinen Labormodellen verabschieden und wieder der wirklichen Wirklichkeit zuwenden, die niemals „rein“ ist. Oder, pointiert gesagt: Mehr denken, weniger rechnen.

 

Fukuymas Abkehr von den Ultraliberalismus kommt für Kenner seiner Metamorphosen nicht gar so überraschend. Im Magazin „The New Republic“ freilich lässt sich ein wirkliches Konversionserlebnis besichtigen. Der eloquente Jurist und Essayist Richard Posner, eine große Nummer im konservativen US-Establishment, erzählt da, er habe John Maynard Keynes nie gelesen, da er fest davon überzeugt war, mit seiner Milton-Friedman-Lektüre wäre er besser bedient. Jetzt habe er sich aber Keynes‘ General Theory vorgeknöpft. Das scheint in dem Mann viel verändert zu haben. Titel der Story: „Wie ich zum Keynesianer wurde.“

 

 

Weblinks:  

 

Paul Krugman: How Did Economists Get It So Wrong?

 

Benjamin Schwarz: Life In (and After) Our Great Recession

 

Francis Fukuyama & Seth Colby: What Were They Thinking?

 

 

Richard Posner: How I became a Keynesian.

Ein Gedanke zu „Ketchup-Ökonomen“

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