Experten für Notrutschen

Zum Wahlparteitag der SPD: Wie die Sozialdemokratie zum Schatten ihrer Selbst wurde. Berliner Zeitung, 12. 11. 2009

 

Die Sozialdemokratie wählt sich eine neue Führungsgarnitur, und die alte Tante SPD kriegt mit Andrea Nahles sogar eine flotte Nichte als Generalsekretärin. Aber der Laden, den sie und Siegmar Gabriel übernehmen dürfen, ist ziemlich heruntergewirtschaftet. Die Trümmerfrau und die Trümmermänner der Sozialdemokratie dürfen sich einzig damit trösten, dass das kein Spezifikum der SPD allein ist.

 

Denn die Sozialdemokraten sind ja neuerdings wieder so richtig internationalistisch: Es geht ihnen in fast jedem Land gleich schlecht.

 

Aber warum ist das so? Und warum gerade jetzt? Unter den vielen Gründen dafür ist am Vordergründigsten der eine: Die Sozialdemokraten haben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren einer Modernisierung unterzogen, die von Anbiederung an den neoliberalen Zeitgeist mit freiem Auge nicht immer leicht zu unterscheiden war – das, was Donald Sassoon, der große britische Chronist über die „hundert Jahre Sozialdemokratie“ einen „zweiten Revisionismus“ nennt. Flexibilisierung der Arbeitswelt, das Loblied auf die Effizienz freier Märkte und auf den schlanken Staat haben sich auch die Sozialdemokraten antrainiert. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf die politische Programmatik, sondern auch auf die Gestik, den Habitus des sozialdemokratischen Führungspersonals: die Manager waren die globalen, modernen „Winner-Classes“ und die Sozialdemokraten versuchten als „Manager der Politik“ zu erscheinen. Jene, die beim flotten Modernisieren nicht mitkamen, die Unterprivilegierten, die seit jeher zum Wählerklientel der Sozialdemokraten zählten, fühlten sich von diesem politischen Personal nicht mehr repräsentiert. Selbst ein Kurswechsel hilft da auf die Schnelle nicht viel. Denn, wer heute etwas anderes sagt als gestern, dem glaubt man erstmals eher nicht – selbst in dem Fall nicht, dass er heut das Richtige sagt.

 

Das erklärt aber noch nicht vollends, warum gerade im Moment der größten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit die Sozialdemokratie derart abstürzt – und zwar, von ein paar Ausnahmen abgesehen, nahezu überall in Europa dramatisch in die Nähe der zwanzig Prozent Marke. Das Paradoxe ist: Obwohl sich die Sozialdemokraten im vergangenen Jahrzehnt  „wirtschaftsfreundlicher“ denn je gaben, haben sie ihre Wirtschaftskompetenz verloren. Nicht nur „real“, sondern auch „imaginär“, also in den Augen der Leute. Das Kernmilieu der klassischen sozialdemokratischen Stammwähler – ohnehin ein schrumpfendes Biotop -, wählt diese Partei traditionell, weil es sich von ihr etwas erhofft: sicherere Jobs, höhere Löhne, ein belastbares soziales Netz für den Notfall. Aber diese Leute haben heute einfach nicht mehr das Gefühl, dass die Sozialdemokraten irgendetwas für sie tun können. Ein sozialdemokratisches Wirtschaftskonzept, das konservativen oder liberalen Wirtschaftskonzepten überlegen wäre, können sie einfach nicht erkennen. Umgekehrt wiederum sind die allermeisten sozialdemokratischen Führungsleute kaum mehr in der Lage, verständlich zu erklären, warum eine egalitärere Gesellschaft nicht nur gerechter, sondern auch ökonomisch nützlicher und prosperierender ist. Außer in Spezialistenkreisen versteht man die keynesianischen Basics kaum mehr zu argumentieren. Dieser Verlust an Wirtschaftskompetenz hat aber gerade in ökonomisch heiklen Zeiten dramatische Folgen. Für die Bürger stellt sich die Lage in etwa so dar. Man sitzt in einem Flugzeug, und die Crew gibt bekannt, es droht abzustürzen. Und dann gibt es die einen, die sagen: Wir wissen, wie man so ein Ding noch fliegt. Und dann gibt es die anderen, die sagen: Wir sind Experten für Notrutschen.

 

Würden sie sich in diesem Moment den Experten für Notrutschen anvertrauen wollen? Zumal, wenn es links von SPD noch eine Partei gibt, die auch noch in Sachen Notrutschen – vulgo: Sozialkompetenz – der Sozialdemokratie den Rang abläuft.

 

Es gibt so etwas wie eine massive Überzeugungskrise der Sozialdemokratie, und zwar über alle Ebenen der Parteihierarchie, sodass der durchschnittliche sozialdemokratische Parteifunktionär primär laviert. Der war ein bisschen angesteckt vom marktliberalen Zeitgeist, nicht ohne bei besonderen Anlässen den Neoliberalismus und seine „Heuschrecken“ zu verdammen. Man will ja nicht unmodern sein, und so preist man auch die Individualisierung, beschwört zwischendurch aber die soziale Wärme. Man schummelt sich durch. Wahrscheinlich ist das der Komplexität der Realität sogar angemessen, die Dinge sind oft ja nicht so eindeutig. Aber das Ergebnis ist, dass die Leute nicht mehr wissen, wofür die Sozialdemokraten eigentlich stehen. Und zwar aus einem sehr simplen Grund: Weil die Sozialdemokraten sehr oft selbst nicht mehr wissen, wofür sie genau stehen oder stehen sollen.

 

An einigen Aspekten der Malaise ist die Sozialdemokratie selbst schuld, manchmal ist sie aber auch nur Opfer des gesellschaftlichen Wandels und von Modernisierungsprozessen. Nehmen wir nur die Frage, wie die Sozialdemokratie ihr Führungspersonal rekrutiert. Gewiss kapselt sie sich oft selbst ab. Aber da die Sozialdemokratie heute nicht gerade hip erscheint, ist es für die meisten jungen Leute auch keineswegs attraktiv, sich in oder am Rande der Sozialdemokratie zu engagieren. Es ist ja auch so, dass es gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums für irgendwie aufgeweckte junge Leute oder Menschen, die die Welt nur etwas verbessern wollen, sehr viele Möglichkeiten gibt, aktiv zu werden, ohne sich lähmende Parteiapparate antun zu müssen: Von NGOs bis zu kurzfristigen Internetaktivitäten, von Attac bis sonst wo hin. Hier kann man protestieren und „echt“ bleiben, man muss sich nicht verbiegen. Aktivisten können sich auch tatsächlich „selbst“ einbringen, ohne dass sie mit wichtigtuerischen Parteimanagern konfrontiert würden, die glauben, sie müssten alles unter Kontrolle behalten und deren Kontrollwahn dazu führt, dass alles Leben aus ihren Organisationen weicht. Hinzu kommt dann noch, dass die Aufstiegs- und „Sich-bewähren-müssen“-Rituale eines behäbigen Parteiapparats dem Taktschlag, den junge Leute heute gewohnt sind und erwarten, nicht entsprechen. Man kommt, wenn man einigermaßen talentiert ist, in jeder Firma schneller ins gehobene Management als für die Sozialdemokratie in einen halbrelevanten Landtag. In der Sozialdemokratie kann man leicht bis weit ins fünfte Lebensjahrzehnt als vielversprechendes, junges Talent gelten.

 

Mag es auch Ausnahmen geben, so führt das doch zu Negativauslese: Diese Ochsentour tun sich in aller Regel die an, die anderswo keine großen Alternativen haben oder denen es an Biss fehlt, so dass es sie nicht weiter stört, zehn Jahre ohne große Ergebnisse herumzufuhrwerken. Alles zusammen, also die lange Aufstiegsdauer, die innerparteilichen Rituale (Charaktereigenschaften, die nützen, hier hochzukommen, sind nicht die Charaktereigenschaften, die man braucht, um bei den Wählern anzukommen), führen dann auch noch dazu, dass diejenigen, die durch diesen Prozess durchgehen, ins Parteisoldatische hingebogen werden, sofern sie nicht beinahe übermenschliche Kräfte besitzen, die das verhindern. Man taktiert sich so lange durch den Gremiendschungel, bis man kaum mehr in der Lage ist, einen untaktischen Satz zu sagen, mithin: so zu reden, dass einem die Leute auch verstehen.

 

Mit dem drohenden Niedergang der „Volkspartei“ Sozialdemokratie gerät freilich mehr in die Krise als „bloß“ eine Partei. Es steht auch eine Form der sozialen Integration in Frage. Die Integration unterschiedlicher sozialer Milieus in eine Volkspartei ist auch eine wichtige „Sozialarbeit“ – oft im buchstäblichen Sinn des Wortes. Die Sozialdemokratie verstand sich zwar immer als „Interessensvertretung“ (der Arbeiterklasse, der „kleinen Leute“), aber sie vertrat nicht bloß Partikularinteressen. Sie sammelte vielmehr Menschen unterschiedlicher „Interessen“ und unterschiedlicher sozialer Schichten unter einem Set von Werten und war erst so in der Lage, strategische Mehrheiten zu erzielen.

 

Wenn die politische Szenerie mehr und mehr in Klein- und Mittelparteien zerfällt, die jede spezielle Interessen oder klar konturierte Milieus repräsentieren, dann gerät auch der demokratische Prozess in die Krise. Er erlebt eine schleichende Sklerose. Die Bürger wählen Parteien, aber auf die Zusammensetzung der Regierung hat das nur mehr bedingt Einfluss. Wie regiert wird, kungeln dann die Parteien untereinander aus. Und die Wähler stehen desinteressiert am Rand. Der Niedergang der Sozialdemokratie macht also die Luft nicht besser.

Ein Gedanke zu „Experten für Notrutschen“

  1. Eine sehr gute Analyse!
    Eines würde ich noch ergänzen zu
    „Charaktereigenschaften, die nützen, hier hochzukommen, sind nicht die Charaktereigenschaften, die man braucht, um bei den Wählern anzukommen“
    Ich würde sagen, dies sind auch oft Charaktereigenschaften die allgemein menschlich nicht wünschenswert sind. Seine politische Position mit jeden Umschwung der Großwetterlage wechseln können, Seilschaften eingehen, Macht- und Postenversessenheit, Klüngelei, all das nimmt zu, je weiter man in dem Parteiapparat kommen will. Und das ist leider in allen Parteien so.

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