So stürzte ich den Kommunismus!

Im Wendejahr 1989 schlug die Geschichte in wenigen Wochen eine neue Richtung ein. Das war sehr aufregend. Und auch ein bisschen komisch. Falter, 11. November 2009

 

Der Taxichauffeur klopfte sich unentwegt auf die Oberschenkel. „Haben verstanden? Kommunist kaputt“, lachte er. Ich hatte natürlich kein Wort verstanden von dem, was da eben im Autoradio lief. Aber dass der Kommunismus kaputt ist, das hatte ich vorher schon gewusst. Es war nämlich gerade Generalstreik in Prag, aber der war nur mehr eine symbolische zweistündige Arbeitsniederlegung. Eigentlich hätte er die Altstalinisten der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei final in die Knie zwingen sollen, aber das war jetzt nicht mehr notwendig.

 

Die hatten vorgezogen, schon vorher abzudanken.

 

Jetzt stand der Taxifahrer im Stau und hupte laut. Generalstreik hieß natürlich auch, dass die Taxifahrer anhielten, wo immer sie gerade waren – und so den Verkehr lahm legten.

 

Ich war da gerade zehn Tage in Prag gewesen – zehn Tage, die als „Velvet Revolution“, als „samtene Revolution“ in die Geschichte eingehen sollten.

 

Es begann mit der Niederschlagung einer Studentendemonstration in Prag am 17. November 89. Die Sonderpolizisten hatten brutal auf die Demonstranten eingedroschen, und es hatte sich das Gerücht verbreitet, ein Student Namens Martin Smid sei getötet worden. Der war zwar bei bester Gesundheit, aber den Volkszorn hat es dennoch entfacht. Abend für Abend strömten ab da Menschen auf dem Wenzelsplatz zusammen und täglich wurden es mehr. Bald schon waren jeden Abend hunderttausend versammelt.

 

Am unteren Ende des Wenzelsplatzes, dort wo er in die Narodni übergeht, hatten die Umstürzler Quartier bezogen. Im Theater „Laterna Magica“, dessen Keller immer hoffnungslos überfüllt waren. Die Dissidenten um Vaclav Havel, Jiri Dienstbier, Vaclav Maly, saßen hier, ungekämmt, mit dunklen Ringen unter den Augen und bleichen Gesichtern. Zum Schlafen kamen sie in diesen Tagen nie und sie waren hoffnungslos überkommuniziert. Andauernd stellten junge Journalisten wie ich Fragen von der Art: „Herr Havel, was sind ihre wichtigsten politischen Forderungen“ oder „Herr Havel, wie wird es weiter gehen?“ Havel reagiert nicht immer freundlich. Ich kann ihn verstehen.

 

Eine der Fragen, die damals alle beschäftigte, war: Wird Alexander Dubcek, der legendäre KP-Chef des „Prager Frühlings“ des Jahres 1968 auch zu den Demonstranten am Wenzelsplatz sprechen? Wird er sich gewissermaßen an die Spitze der Revolution stellen? Täglich die Gerüchte: Dubcek kommt! Und dann kam er doch nicht.

 

Havel und seine Mitstreiter sprachen jeden Abend vom Balkon der Tageszeitung „Svobodne Slovo“ zu den Demonstranten. Die riefen im Gegenzug „Es lebe Havel“ oder schwenkten einfach ihre Schlüssel. Das sollte heißen: Apparatschiks, gebt die Schlüssel her. An einem dieser Abende ging ich einmal, etwas zu schnell, in Richtung Toilette. Und dabei habe ich beinahe einen alten, schmächtigen Mann niedergerannt. Im selben Moment stürzten sich auf uns gefühlte hundert Fotografen. Da fiel mir erst auf: Der, mit dem ich da beinahe zusammen prallte, war Alexander Dubcek. Da wusste ich, jetzt ist er da, der Dubcek.

 

Ich glaube, es war der selbe Abend noch, da gaben Havel und Dubcek in der „Laterna Magica“ eine Pressekonferenz. Sie sprachen darüber, ob nun der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eine zweite Chance erhalte – ja, so phantastische Gedanken hatte man damals tatsächlich -, da unterbrach sie ein Mann und flüsterte Havel etwas ins Ohr. Der holte kurz Luft und sagte dann, ganz langsam: „Das tschechoslowakische Fernsehen hat gerade vermeldet, dass das Präsidium des Zentralkommitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geschlossen zurückgetreten ist.“

 

Alle sprangen auf. Journalisten und Umstürzler waren jetzt nicht mehr auseinander zu halten. Wie oft im Leben hat man die Gelegenheit, dabei zu sein, wenn Revolutionäre vom Sieg ihrer Revolution unterrichtet werden?

 

Der Sprecher des Parteipräsidiums hatte für den späteren Abend dann noch eine Pressekonferenz angesetzt, und zwar im Hotel Intercontinental. Die Pressekonferenz verschob sich allerdings von Stunde zu Stunde nach hinten, was ein ereignisloses Warten nach sich zog. Glücklicherweise hatten einige Kollegen ihre Zimmer in diesem Hotel, sodass ich mit ein paar anderen ihre Zimmerbars plünderte. Als dann die Pressekonferenz um vier Uhr morgens tatsächlich begann, war ich nicht mehr sehr nüchtern. Nachdem der Parteisprecher dann auch noch dachte, uns nach Stunden des Wartens mit belanglosen Ausflüchten abspeisen zu können, meldete ich mich zu Wort und stellte eine Frage. Wahrscheinlich war es nicht direkt keine Frage. Angesichts meines Zustandes dürfte sie ein bisschen in Richtung Brandrede gelappt haben, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Jedenfalls nickte mir nächsten Tag jeder Tscheche sehr aufmunternd zu, und ich dachte mir, die sind aber freundlich heute. Bis der Liftboy sagte: „Tolle Rede!“ Da begriff ich erst, dass die Pressekonferenz live im TV übertragen worden war und sie, da es sich ja schließlich um den wichtigsten Tag in der tschechischen Nachkriegsgeschichte handelte, nahezu von jedem Bürger verfolgt wurde – trotz der späten Sendezeit.

 

Meine Tante Eva war jedenfalls sehr stolz auf mich. Die ist keine wirkliche Tante sondern die Nichte meiner aus Prag stammenden Großmutter. Also so eine Art Großtante. Von der hatte ich Tage vorher einen Zettel in meinem Hotelbrieffach, auf dem stand. „Robert, Du komme mich doch besuchen. Bin jeden Tag in Geschäft. Außer am Montag. Da bin ich in Generalstreik in Wenzelsplatz.“

 

Pathetische und komische Augenblicke wie diese gab es viele in diesem Herbst 1989. Für mich hatte es im Sommer 1989 begonnen. Da reisten zehntausende DDR-Bürger via Ungarn aus ihrem Land aus. Das gab den Startschuss zur finalen Krise der osteuropäischen Regimes. Während die DDR-Bürger in den Westen abhauten, schlug ich den entgegengesetzen Weg ein: Ich fuhr mit dem Zug nach Berlin. Damals fuhr man über BRD-Territorium, bis man an der niedersächsischen Westgrenze die „Zonenlinie“ zur DDR überfuhr. Als wir diese Grenze überfuhren, brach die mir unbekannte junge Frau, die kurz vorher in mein Abteil gekommen war, in Tränen aus, schluchzte laut und fiel mir um den Hals.

 

Es stellte sich dann heraus, dass sie eine Ostberlinerin war, die offiziell zum Geburtstag ihrer Großmutter in die BRD hatte reisen dürfen. Da war sie eine Woche geblieben – und sie hatte sich entschieden, doch zurückzureisen, im Gegensatz zu so vielen ihrer Landsleute. In dem Augenblick, in dem wir die Grenze überfuhren, hat sie diese Entscheidung aber irgendwie bereut. Jetzt komme sie da jahrelang nicht mehr raus, klagte sie. Ich tröstete sie, so gut ich konnte, und sagte unbeholfen, dass doch in einem Jahr die Mauer ohnehin nicht mehr stünde und sie doch überall hinreisen kann, wo sie will. Sie glaubte mir natürlich nicht. Ich mir auch nicht, ich hab es ja nur gesagt, um sie zu trösten.

 

In Ostberlin habe ich mich dann mit Dissidenten getroffen. Westberliner Freunde hatten eine sehr konspirative Begegnung mit einem Umstürzler arrangiert, der den echten Sozialismus einführen wollte, mit Rätedemokratie statt Parteidiktatur. Einen anderen Kontakt hatte ich vom Schriftsteller Robert Schindel. Der meinte, ich solle doch seinen Freund Wolfgang Engler und seine Frau Anna besuchen. So klopfte ich dann einfach am Prenzlauer Berg an eine Tür und sagte. „Hallo, mich schickt der Robert Schindel“. Es war der Beginn einer engen Freundschaft. Die beiden zeigten mir alles, führten mich in informelle Kunstgalerien, die in irgendwelchen leeren Wohnungen aufgezogen wurden. Sie machten mich mit Regimegegnern bekannt und mit reformerischen Kommunisten, die vor allem unter jüngeren Akademikern den Ton angaben. Diese Reformer in der SED und die radikaleren „Bürgerrechtler“, die die SED nicht reformieren wollten, sondern abschaffen, waren sich aber eigentlich in vielen Dingen einig. Alle wollten sie so eine Art demokratischeren Sozialismus. Dass die DDR kapitalistisch wird, oder gar eine zweite BRD, oder, horribile dictu, sich mit der einfach wiedervereinigt, das wollte damals natürlich niemand.

 

Man rief damals ja: „Wir sind DAS Volk.“ Die Parole, „Wir sind EIN Volk“, folgte erst später. In Leipzig gab es bald Montagsdemonstrationen und am Feiertag zum 40. Gründungsjubiläum der DDR demonstrierten auch in Berlin tausende illegal vor dem „Palast der Republik“, in dem gerade Erich Honecker und KPdSU-Chef Michael Gorbatschow saßen. An dem Tag sagte Gorbatschow übrigens zu Honecker den berühmten Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Aber eigentlich stammt die legendäre Wendung nicht von Gorbatschow, sondern vom Übersetzer. Gorbatschow hatte eine längere russische Wortgirlade gesagt, so von der Art, dass man aufpassen muss, dass man mit den Entwicklungen Schritt hält und dass es ganz gefährlich ist, zu spät zu reagieren. Der Übersetzer hat das dann pointiert.

 

An diesem Tag hat die Staatssicherheit noch mit massiver Gewalt die Protestierenden auseinander getrieben. Ein paar Tage später saß ich bei Werner Fischer, einem Bürgerrechtler, der im Pfarrhaus der Gethsemanekirche sein Quartier aufgeschlagen hatte. Er versuchte, alle Übergriffe penibel zu dokumentieren. Immer wieder kamen Leute herein, und lieferten irgendetwas Nützliches. Der Schriftsteller Christoph Hein brachte das Honorar seiner letzten Lesung als Spende. Ein paar Tage später wurde Erich Honecker abgesetzt. Ein Monat danach fiel die Berliner Mauer. Ich schnappte mir ein faustgroßes Betontrumm als Erinnerungsstück.

 

Ich wusste damals nicht, dass ich eineinhalb Jahre später gleich hinter der Gethsemanekirche wohnen würde, in einem dieser halb verfallenen Ostberliner Hinterhäuser, mit Kohleofen und Klo am Gang. Allerdings war in der Wand ein großes Loch, so dass man direkt von der Wohnung ins Klo gehen konnte. Im Winter, wenn die Rohre eingefroren waren, taute ich sie einfach mit dem Föhn auf. Die Kirchenglocken läuteten direkt vor meinem Fenster. Eine Qual. Meine Prager Großtante habe ich dann ein paar Jahre später auch noch besucht. Sie hatte dann schon eine hübsche, junge Mitbewohnerin, die in einem „Variete“ tanzte, das sie mir unbedingt zeigen wollte. Das Variete war eigentlich berühmt, hatte aber schon bessere Zeiten gesehen. Es war nicht wirklich ein Puff, aber ein Striptanzlokal. Die Tänzerin war eigentlich Balletteuse am Nationaltheater, aber weil das die Gehälter nicht mehr bezahlen konnte, tanzten die Künstler nun drei Mal wöchentlich in solchen Läden. Und weil der Staat nur mehr geringe Renten zahlen konnte, vermietete ihr meine Großtante ein Zimmer ihrer großen Prager Wohnung. So kam also meine Tante zur Tänzerin und die Tänzerin ins Striplokal. Aber die beiden waren fröhlich. Es war ein gelungener Abend, mit meiner alten Tante und einer Flasche Champagner unter all den Stripperinnen.

Ein Gedanke zu „So stürzte ich den Kommunismus!“

  1. BIN DAS GESTERN UND DAS HEUTE GLEICHZEITIG
    Kommentar an Robert M. – da es so aus mir heraus floss….
    Berlin, 9. November 2019
    Da stand ich nun wieder an selber Stelle, vor der Gethsemanekirche in Berlin. Seltsam. Lese meine eigene Geschichte, die sich nun geplottet auf Erinnerungstafeln einschreibt. Steh da, und fühle mich wie ein wandelndes Denkmal. Eine gläserne Infobox gibt Auskunft, wie wohl alles war. Damals. Und es schießen unvermittelt die Tränen aus mir heraus. Wie damals. Bin das gestern und das heute gleichzeitig. Sehe mich vor dem Wasserwerfer stehen, der sich plötzlich durch die Menge der Demonstranten Platz verschafft. Es ist der 7.Oktober 1989. Im nahegelegenen Palast feiert die paranoide und senile Parteiführung den vierzigsten Staats-Geburtstag, der allerdings der letzte sein sollte. Das Volk sammelt sich zum Protest davor. – „Gorbi hilf uns!“ / „Stasi raus!“ / „Keine Gewalt!“ – Der Demonstrationszug zieht Richtung Prenzlauer Berg. Der J. und ich reihen uns ein. Seit fünf Jahren sind wir auf den Tag genau ein Paar und gerade dabei unser Jubiläum mit einem raschen Essen, in einem Lokal direkt am Alex, gebührend zu feiern. Zur gleichen Zeit sitzt mein Bruder in einem der Panzer, die aufgereiht auf der gesamten Frankfurter Allee auf ihren Einsatzbefehl warten. Informationen holen sie sich aus einem kleinen Transistorradio, immer in der Hoffnung, dass jener Befehl nie kommen möge. Dann hören wir in der Ferne, die Rufe der Menschen: „Reiht Euch ein!“. Wir lassen Messer und Gabel fallen. Wie alle im Lokal, laufen wir aufgeregt hinaus um zu schauen, inclusive des Kellners. Der nur zu uns sagt: „Wollen Sie nicht erstmal aufessen?“. „Nee, nee – zahlen bitte! – sofort!“ antworten wir hektisch. Friedlich laufen wir mit dem Demonstrationszug, der immer größer wird, bis zur Mollstraße. Dann erscheint vor meinen Augen, wie aus dem nichts jener Wasserwerfer. Ein Polizist springt plötzlich ins Bild und prügelt, nur drei Leute von mir entfernt, seinen Schlagstock schwingend auf die Menschen ein. Ich bleibe, wie angewurzelt stehen. Ohne, dass ich es merke rinnen mir die Tränen übers Gesicht. Der nächste Schlag würde mich treffen, wenn da nicht der J. geistesgegenwärtig, mich am Arm ziehend, aus dem Kessel rettet. Wir fliehen aus der Menge über irgendwelche Hinterhöfe in die kleineren Querstraßen. Dann weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, wir hatten Glück, nicht auf den Polizei-LKW’s nach Rummelsburg gebracht worden zu sein. Wir hatten überhaupt Glück in der ganzen Zeit. Wir gehörten jener oppositionellen Szene an, die sich als „Literaturzirkel“ tarnte. In der privaten Wohnung, um die Schriftstellerin Maja Wiens, traf sich der „Literaturkreis“. Die privaten Küchen wurden zum geheimen Treffpunkt, um die „Revolution“ zu besprechen. Die Küche wurde zu einem wirksamen Ort, eine Art Widerlager, in dem nicht nur gekocht wurde, sondern sich Utopie formulierte und realisierte. Sie wurde zu einem Ort außerhalb aller Orte, obwohl tatsächlich verortet. Jetzt dreißig Jahre später steht der J. wieder neben mir und wir schauen auf die Geschichte und sind noch mitten drin in der erhofften Utopie dieses Herbstes 1989. Wir nehmen mit unseren Smartphones die dokumentarische Projektion, die mit einem Beamer auf die Kirche geworfen wird, auf. Wieso eigentlich? Das wissen wir beide in diesem Moment nicht so recht. Aus Reflex? Weil man das heute eben so macht, um Ereignisse festzuhalten? Wir schauen uns an. Ich weine. Wir lachen. Wir lassen die anderen, sich informieren, und verstehen, wie denn damals alles so war. Wir haben doch längst verstanden worum es jetzt geht. Wir verschwinden ins nächste Lokal und diskutieren heiß die Zukunft, die es zu retten gilt. Jenseits aller ideologischen Kategorien. Hin zu einem neuen Denken, das außerhalb jeder bestehenden Ordnung liegt, wenn wir nicht die letzten Bewohner dieses Planeten sein wollen. Eigentlich so, wie wir es vor dreißig Jahren schon getan haben. Denn eins haben wir aus diesem Herbst 1989 gelernt: Change is possible! Veränderung lässt sich nicht aufhalten, man darf sie sich nur nicht aus der Hand nehmen lassen, von denen, die da Festhalten an einem Status Quo. Das scheint mir heute nicht viel anders zu sein als es damals auch war. Dank dir lieber Robert für deinen Artikel.

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