„Des Unvermögens der Sozialdemokraten wegen rückt das Land seit Jahren schon nach rechts…“

„Denkfabriken“, nennt sich ein neues Projekt, das die österreichischen Jusos gestartet haben. Zum „Kick-off“ haben sie mich eingeladen, zum Thema „Quo Vadis, SPÖ?“ zu sprechen. Anbei die Rede zum Nachlesen.

Liebe Freundinnen und Freunde,

 

die meisten von Euch kennen ja wahrscheinlich noch das alte linke Bonmot, die Sozialdemokratie sei der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Naja, heute geht’s dem Kapitalismus auch nicht wirklich gut, vergangenes Jahr wurde er mit einem Herzinfarkt in die Intensivstation eingeliefert und er hängt dort immer noch an den Schläucherln, durch die wird billiges billiges Geld in ihn hineingepumpt und Konjunktur reingespritz – Konjunkturspritze nennt man das. Aber heute versammeln wir uns hier nicht am Krankenbett des Kapitalismus.

 

Weil, heute machen wir mal Viste am Bett des Arztes. Am Krankenbett der Sozialdemokratie. Die schaut nämlich auch ein bisserl siech aus im Moment.

 

Erlaubt mir am Anfang zu sagen. Ich danke Euch für die Einladung, hier dieses Eingangsstatement zu halten. Es ist für mich eine große Freude, hier reden zu dürfen, mich hier bei diesen äußert unterstützenswerten Projekt von Euch ein bisschen, im Rahmen meiner kleinen Möglichkeiten nützlich machen zu dürfen. Ich bin ja nicht wirklich ein Sozialdemokrat, jedenfalls bin ich es in keinem belastbaren organisatorischen Sinn des Wortes, höchstens bin ich als Person, als Individuum, das so seine Meinungen hat, so was wie ein unabhängiger, überparteilicher, nicht-parteigebundener Sozialdemokrat. Aber auch als solcher komme ich, gerade in den letzten Monaten, recht viel herum – bei Veranstaltungen der Sozialdemokratie, in internen Zirkeln auf niederer und auf höherer Ebene, bei Parteitagen, was weiß ich was.

 

Und wenn man da mal auf zehn, zwanzig solchen Veranstaltungen war, dann stellt man schnell fest: Kaum einer in der Sozialdemokratie findet noch, dass alles so richtig gut läuft in der SPÖ. Eigentlich ist es genau umgekehrt: die allermeisten sind der Meinung, dass die Partei so ziemlich alles falsch macht. Mit einem Schuss Sarkasmus könnte man glatt formulieren: 99 Prozent der Sozialdemokraten sind der Meinung, dass die Sozialdemokratie praktisch alles falsch macht. Und dann gibt es noch eine Handvoll andere, die diese Meinung – berufsbedingt – nicht teilen (dürfen): der Bundeskanzler, die Parteigeschäftsführer, Klubobmann und noch zwei, drei andere.

 

Das heißt natürlich nicht, dass man sich mit diesen vielen, die der Meinung sind, da laufe etwas schief, so schnell darauf einigen könnte, was denn getan werden müsse, damit es wieder runder läuft. Das nicht. Aber Krisenbewußtsein, das gibt’s.  

 

Ich muss aber auch eingestehen, dass mich nach ein paar dieser Runden auch eine gewisse Langweile und Ungeduld gepackt hat. Ich hab da schnell verstanden, was der Alfred Gusenbauer mit dem „üblichen Gesudere“ gemeint hat. Und hab mir gedacht: Wenn eh die meisten der Meinung sind, dass alles schlecht rennt, dann könnte man mit dem Keppeln doch mal aufhören und anfangen die Dinge auf richtige Weise zu tun.

 

Und deshalb bin ich auch so gerne da: Weil ihr Euch gesagt habt, wenn ich das richtig versteh: Lasst uns einen Diskussionsprozess einleiten, wie denn eine zeitgemäße Sozialdemokratie funktionieren müsste, wofür sie denn stehen sollte. Und ich weiß, dass das viele andere auch tun, in loseren und weniger losen Zusammenhängen. Nicht immer nur schimpfen und opponieren gegen die Parteiführung, wie man das ja etwa – in eurem Fall – von einem ordentlichen Juso erwarten würde, sondern die Dinge einfach in die Hand nehmen.

 

Ich finde das toll.

 

Ich will deshalb hier auch nicht keppeln und sudern, sondern an Hand von ein paar wenigen Punkten, nur mit ein paar Gedanken ausführen, in welche Richtung produktiv gedacht werden könnte.

 

Die Sozialdemokraten haben in Österreich – wie allgemein in der europäischen Union – seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Reihe empfindlicher Niederlagen einstecken müssen. Das hat mehrere Gründe, aber einer liegt darin, dass man den Sozialdemokraten offenbar keine ausreichende Wirtschaftskompetenz zubilligt.

 

Sie sind daran keineswegs unschuldig.

 

Oft – oder besser gesagt: allenfalls – sehen die Bürger die Sozialdemokraten als Garanten dafür, dass es in einer freien Marktwirtschaft gerecht zugeht. Aber dieses „Gefühl“ ist eingebettet in eine Vorher-Nachher-Logik. Erst wird in einer Marktwirtschaft effizient Wohlstand geschaffen – und dann nachträglich etwas gerechter verteilt. Überspitzt formuliert gelten die Konservativen für viele Menschen daher als Spezialisten fürs Wirtschaften, die Sozialdemokraten fürs gerecht Verteilen. Die Sozialdemokraten setzen dem seit langer Zeit viel zu wenig entgegen – weil sie oft selbst gar nicht in der Lage sind, ihre eigenen Wirtschaftskonzepte zu formulieren. Und in der Krise setzen die Bürger instinktiv auf jene, denen sie zutrauen, dass sie von Wirtschaft etwas verstehen.

 

Deswegen müssen die Sozialdemokraten wieder selbst verstehen und auch nachdrücklich verdeutlichen: Eine Gesellschaft mit wenig sozialer Ungleichheit ist nicht nur gerecht, sie ist auch ökonomisch leistungsfähiger. Und zwar aus einer Reihe von Gründen:

 

Erstens: Wohlstand für Alle – oder für möglichst viele – stärkt die Kaufkraft und die Binnennachfrage, belebt die Wirtschaft und macht sie unabhängiger von der Exportnachfrage. Auch in einer offenen, globalisierten Welt.

 

Zweitens: Wenn alle Menschen in materiell sicheren Verhältnissen leben, können auch alle Menschen ihre Talente entwickeln. Mehr Menschen tragen dann zum Wohlstand bei. Wohlstandsgewinne bei den Unterprivilegierten sind deshalb die Voraussetzung für stabiles Wirtschaftswachstum.

 

Drittens: Wenn die Bürger das Gefühl haben, dass es nicht gerecht zugeht, werden sie sich weniger engagieren – wo auch immer: für die Firma, für das Gemeinwesen. Wenn junge Menschen aus unteren sozialen Schichten das Gefühl haben, dass sie buchstäblich keine Chance haben, dann werden sie sich auch nicht anstrengen, etwas aus ihrem Leben zu machen – sie sind dann ja der Überzeugung, dass das ohnehin keinen Sinn hat. Alle Erfahrung zeigt, dass sich Menschen dann mehr anstrengen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie eine faire Chance haben, dass sich das lohnt.

 

Viertens: Unterprivilegiertheit vererbt sich. Wer in Armut geboren ist, hat geringere Startchancen. Oft haben schon sechsjährige Buben und Mädchen einen Rückstand, den sie ihr ganzes Leben nicht mehr aufholen. Sie sind geborene Verlierer. Das ist nicht nur ungerecht, sondern verschwendet Talente. Eine Gesellschaft, die sieben, acht Prozent ihrer Bürger von vornherein chancenlos ins Leben starten lässt, verzichtet auf deren Beitrag zu Wachstum und Prosperität.

 

Eine Gesellschaft, die krasse soziale Ungleichheit erfolgreich bekämpft, ist deshalb nicht nur eine gerechtere Gesellschaft, sie ist auch eine wirtschaftlich erfolgreichere Gesellschaft. Konservative behandeln ganze Volkswirtschaften wie Unternehmen. Aber Volkswirtschaften funktionieren nicht wie Firmen. Wenn sie bei der Zukunft ihrer Bürger sparen, verursacht das sofort soziale und damit auch ökonomische Kosten. Bürger kann man eben nicht „kündigen“, und Staaten kann man nicht „gesundschrumpfen“. Man kann sie nur reich investieren. Das heißt nicht, dass der Staat aus vollen Scheffeln Steuergeld verjubeln soll, aber eine ganze Volkswirtschaft funktioniert nach einer anderen Logik als ein kleiner Betrieb, der nach den Regeln des sparsamen Kaufmanns geführt wird. Die Wirtschaftskompetenz der Sozialdemokraten besteht genau darin, dass sie das verstehen.

 

Nächster Gedanke:

 

Viele Menschen haben das Gefühl, dass unsere Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die nur ihre Interessen vertreten: dass die Reichen ihre Besitzstände verteidigen, die Beamten die ihren, die Rentner die ihren. Wenn alle nur mehr ihre „Interessen“ verteidigen, konkurrieren dann aber nicht einfach nur alle gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander? Ist der Begriff des „Gemeinwesens“ dann nicht gänzlich hohl?

 

Sozialdemokraten haben sich immer auch als Interessensvertretung verstanden: Als die Interessensvertretung der kleinen Leute, der Unterprivilegierten, der Arbeiterschaft. Und das ist ja auch nicht falsch. Wer, im Vergleich zu mächtigen, privilegierten Gruppen einen gerechten Anteil am Reichtum erstreiten will, muss sich mit seinesgleichen zusammenschließen, um sich dafür stark zu machen.

 

Die Sozialdemokraten haben aber den Begriff des „Interesses“ immer auch sehr viel weiter formuliert. Sie hatten immer auch das Allgemeine im Auge. So ist ein funktionierender Sozialstaat nicht nur im Interesse derer, die direkt von ihm profitieren. Er ist auch im Interesse der Wohlhabenden. Auch sie profitieren von der stabilen Prosperität, die er garantiert, auch sie haben letztendlich etwas davon, wenn alle Menschen etwas aus ihrem Leben machen können. Deshalb ist die neoliberale und neokonservative Ego-Ideologie ja auch für alle , oder fast alle , schädlich – und nicht nur für jene, die direkt unter die Räder kommen. Sie haben gepredigt, dass sich eine Gesellschaft besser entwickle, wenn alle ihrem Eigennutz folgen und der Vorteilssucht frönen. Aber das ist nicht wahr: Alle leiden darunter, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt reißt. Auf den Finanzmärkten haben einige in den letzten Jahren ihren Eigennutz gesucht – Vorteile brachte das am Ende für fast niemanden. 

 

Und die Bürger wissen auch: Ja, Menschen konkurrieren manchmal gegeneinander und das ist oft auch gut so – viele Leute leisten etwas tolles, weil sie der Wettbewerb mit anderen Menschen anstachelt und weil sie für sich persönlich etwas erstreben. Aber sie wissen auch, dass Konkurrenz nicht alles ist. Sie wissen, dass sie mit anderen Menschen verbunden sind. Sie wissen, dass sie in einer Gesellschaft mit anderen Menschen leben und wenn sie immer nur auf ihr Fortkommen bedacht sind, dann schadet ihnen das am Ende selbst. Weil sie wissen: Ein Gemeinwesen ist dann reicher, es funktioniert besser, man kann in ihm bequemer und sicherer leben, wenn jeder in diesem Gemeinwesen eine faire Chance auf ein Leben in Wohlstand hat.

 

Mehr noch: Menschen sind, unabhängigen von ihren „Interessen“ im engen Sinn, nicht nur deshalb für Fairness und soziale Gerechtigkeit, weil das in einem weiteren Sinn in ihrem „Interesse“ ist. Sie haben auch einen ethischen Kompass, eine Moralität, Werte, die sie leiten. Es war immer die Stärke der Sozialdemokratie, dass sie nicht nur die Menschen an sich gebunden hat, die ein direktes Eigeninteresse an ihrer Politik haben, sondern auch und vor allem Menschen, die von Werten geleitet waren. Leute, die sagen: Es geht mich etwas an, wenn es meinem Mitbürger schlecht geht. Wenn irgendwo in einer unterprivilegierten Wohngegend ein Mädchen lebt, das kaum lesen und schreiben kann, dessen Eltern nicht wissen, wie sie ihr Kind ernähren sollen, dann geht mich das etwas an, auch wenn das nicht meine Tochter oder meine Nichte ist. Wenn dort irgendein alter Mann lebt, der sich entscheiden muss, ob er sich jetzt noch die Rezeptgebühr für seine Medikament leisten soll oder sich besser etwas zum Essen kauft, weil beides ist nicht drin, dann macht das auch mein Leben ärmer, auch wenn das nicht mein Opa ist. Und wenn irgendwo in Oberösterreich ein Mädchen lebt, das aus ihrer sozialen Welt herausgerissen werden soll und in irgendein Land deportiert werden soll, in das sie nicht will und in dem sie keine Zukunft hat, dann geht mich das etwas an, auch wenn dieses Mädchen nicht meine Tochter ist.

 

Sagen wir es offen: Die Sozialdemokraten können zwanzig, fünfundzwanzig Prozent der Stimmen erreichen, wenn sie die Partikularinteressen von ein paar Milieus und gesellschaftlichen Gruppen vertreten und deren Stimmen „einsammeln“ – und auch das wird immer schwieriger in einer Gesellschaft, die sich in immer mehr solcher Gruppen ausdifferiert. Abgesehen davon, dass es auch deshalb schwer wird, weil die Leute die taktische, die zynische Seite davon merken und einem nichts mehr glauben.

 

Strategische gesellschaftliche Mehrheiten können sie aber nur mehr erringen, wenn sie deutlich zu machen verstehen, dass sie von Werten geleitet sind – und zwar von Werten, die viele Menschen teilen – und dass ihre konkrete „Interessenspolitik“ aus diesen Werten folgt. Und es sind gerade junge Menschen, die sich von der Politik und auch von der Sozialdemokratie abwenden, weil sie oft das Gefühl haben, dass die weder etwas tut, was in ihrem Interesse ist, noch Werte vertritt, die sie teilen würden.

 

Das betrifft alle Politikfelder: Wie ich schon gesagt habe, ist eine Gesellschaft, die mehr Gleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit realisiert, auch eine wirtschaftlich funktionstüchtigere Gesellschaft. Aber das ist natürlich nicht der zentrale, entscheidende Grund, warum wir für Gerechtigkeit eintreten. Wir treten für Gerechtigkeit ein, weil sie unserem ethischen Kompass entspricht. Wir würden das sogar tun, wenn eine gerechtere Gesellschaft ökonomisch weniger funktionstüchtig wäre.

 

Und das betrifft natürlich auch Politikfelder wie die Bildungspolitik, die Migrationspolitik, die Integrationspolitik.

 

Wer glaubt, er könne gewinnen, wenn er auf den Boulevard schielt, ist auf dem falschen Dampfer. Wer sich von der FPÖ hertreiben lässt, so dass man gar nicht mehr weiß, wo eigentlich der Wertekompass der Sozialdemokraten ist. Ja, klar, bei wichtigen Gelegenheiten sagen dann sozialdemokratische Spitzenpolitiker gerne, dass sie gegen eine Politik der Verhetzung sind. „Nicht mit uns“. Aber wie soll man das denn eigentlich verstehen, in einem Land, in dem ganze Familien durch menschenverachtende Innenministeriumsbescheide zerstört werden, in dem kleine Kinder in Schubhaft sitzen, und das alles auf Basis von Gesetzen, die die Sozialdemokratie mit beschlossen hat. In dem die Innenministerin vorschlägt, Asylbewerber einzusperren und es dann einen Tag Empörung in der Sozialdemokratie gibt, und am nächsten Tag ist dann schon zu hören, man könne sich das schon irgendwie vorstellen?

 

Leute, das versteht niemand. Das verstehen die nicht, die solcher Hartherzigkeit applaudieren, und das verstehen die nicht, die diese Hartherzigkeit abstoßend finden. Und die Sozialdemokratie sitzt in der Mitte. Und zwischen den Stühlen, Euch muss ich das nicht sagen, das ist eine sehr unbequeme Sitzgelegenheit.

 

Aber wenn es bei all dem nur um Bequemlichkeit ginge. Nein, das Land geht vor die Hunde, weil man seit Jahren schon nicht den Mut aufbringt, da dagegen zu halten, weil man den Kopf in den Sand steckt und weil man die Leute – Zuwanderer und Alteingesessene – mit ihren Problemen allein läßt.

 

Ich bin mir ziemlich sicher: Eine Sozialdemokratie, die ihre Werte glaubhaft vertritt, bei der die Menschen das Gefühl haben, ja, die meinen das wirklich; eine Sozialdemokratie, die wieder lernt in einer klaren Sprache, überzeugend und ernsthaft mit den Bürgern zu kommunizieren, eine Sozialdemokratie die sich öffnet und nicht furchtsam abschottet, die sagt, wir wollen die Demokratie zu einer Mitmach-Demokratie machen und wir fangen bei uns, bei unserer Partei an, die kann, im Bündnis mit anderen strategische Mehrheiten für eine progressive Politik gewinnen.

 

Aber nicht, wenn sie sich zu Tode fürchtet.

 

Wir haben, um Franklin D. Roosevelt zu paraphrasieren, nichts zu fürchten als die Furcht selbst.

 

Weil, es gibt genügend Leute, die einfach verzweifelt sind über den politischen Zustand dieses Landes, die durchaus bereit wären, sich für etwas zu engagieren, aber die sich angewidert abwenden angesichts der politischen Alternativen, die man ihnen bieten. Und man kann es ihnen bei Gott nicht verübeln.

 

Lasst mich zum Ende noch ein Schlussgedanken ausführen: Wenn immer solche Prozesse, wir ihr sie anstoßt, und wie sie von anderen angestoßen werden, stattfinden, dann ist von Linksruck die Rede. Im Internet sammeln sich die „SPÖ-Linken“, und das ist schon alles gut so.

 

Aber ich denke auch, dass Catchphrasen wie „Linksruck“ eine falsche Fährte legen. Schließlich ist es ja nicht einmal so, dass die Sozialdemokratie heute für eine zu rechte Politik „steht“ und die Kritiker wollen, dass sie für eine linkere Politik „stehen“ würde. Das Problem ist doch vielmehr, dass überhaupt nicht mehr erkennbar ist, wofür sie steht. Dass sie nicht mehr zu artikulieren versteht, wofür sie steht. Nun kann man natürlich mit allem Recht der Welt der Meinung sein, eine an humanitären Grundsätzen, vor allem aber an den praktischen Notwendigkeiten orientierte Immigrations- und Integrationspolitik wäre „linker“ im Vergleich zu der gegenwärtigen, die aus Angst vor den Hetzparolen der FPÖ das xenophobe Geschäft besorgt (oder von Frau Fekter besorgen lässt). Man kann auch der Meinung sein, dass eine Steuerpolitik, die auch Vermögen, Vermögenszuwächse, Kapitalerträge, Finanzmarkttransaktionen besteuert und Solidarabgaben für hohe Arbeitseinkommen über – beispielweise – 120.000 Euro pro Jahr anpeilt, eine „linkere“ Politik wäre als die gegenwärtige, die solche Vorschläge aus Angst vor bösen Schlagzeilen der „Kronen Zeitung“ schon im frühen Diskussionsstadium abwürgt. Oder dass eine Umweltpolitik, die das Großrisiko „Klimawandel“ ernst nimmt, „linker“ wäre als die gegenwärtige Kopf-in-den-Sand-Politik. Aber das Kategoriensystem Links-Rechts ist in all diesen Fragen nicht wirklich punktgenau. Eher geht es um die Differenz zwischen einer vernünftigen, zeitgemäßen und zukunftstauglichen progressiven Politik und der gegenwärtigen Nicht-Politik.

 

Aber wäre ein Neustart, der diese Nicht-Politik und Orientierungslosigkeit korrigiert, wirklich ein „Linksruck“? Ist mehr Demokratie, mehr Mitmach-Demokratie, ist eine überzeugendere Politik, ist eine Kommunikation in einer normalen Sprache, ist eine Personalpolitik, die versucht, die Besten für die Politik zu gewinnen, wirklich prononciert „links“? Ist mehr Professionalität „links“? Ist Modernität „links“? Eine Sozialdemokratie, die auf der Höhe der Zeit sein will, braucht einen Ruck in die Mitte der Gesellschaft mindestens so sehr wie einen Ruck nach Links.

 

Vor etwas mehr als zehn Jahren lieferten Gerhard Schröder und die deutsche Sozialdemokraten mit dem Wort von der „Neuen Mitte“ eine Catchphrase. Die wurde nicht zuletzt so verstanden, dass die Sozialdemokratie jetzt „in die Mitte“ rückt, also relativ nach „rechts“. Das Falsche an dem Konzept war meiner Meinung nach aber nicht die Idee, die gesellschaftliche Mitte, den Mainstream repräsentieren zu wollen, sondern die Phantasie, dass der Mainstream an einem fixen Platz zu finden ist, auf den man sich gewissermaßen zubewegen müsse. Eine erfolgreiche Sozialdemokratie muss dagegen versuchen, insofern eine tatsächlich „Neue Mitte“ zu schaffen, als sie die Mitte selbst „nach links“ bewegt. Aber dafür muss sie nicht notwendigerweise selbst nach links rücken, sie muss vor allem als Sozialdemokratie Glaubwürdigkeit gewinnen. Umgekehrt ist es in Österreich ja so, dass nicht zuletzt des Unvermögens der Sozialdemokraten wegen die gesellschaftliche Mitte seit Jahren nach rechts rückt.

 

Linksruck evoziert immer die Gefahr, dass man sich nach Links in eine minoritäre Position begibt, und da steht man dann, im Eck – mit sauberen Händen zwar und mit gutem Gewissen, entweder als innerparteilicher Keppler vom Dienst oder, generell, in der Opposition.

 

Die Sozialdemokratie, ich sag das, auch wenn ich mich hier bei manchen unbeliebt mache, darf die Mitte nicht aus den Augen verlieren. Aber man gewinnt die Mitte nicht, indem man sich der Mitte anpasst und seine Werte über Bord wirft. Man gewinnt sie, indem man diese Mitte für eine progressive Politik gewinnt.

 

Die Kleingeister sagen, das ist nicht möglich.

 

Der Realist weiß: Es ist nicht nur möglich, es gibt auch keinen anderen Weg, wenn man eine Gesellschaft voranbringen will.

4 Gedanken zu „„Des Unvermögens der Sozialdemokraten wegen rückt das Land seit Jahren schon nach rechts…““

  1. großartig! vor allem diese stelle werd ich jetzt öfter mal zitieren:
    Aber wäre ein Neustart, der diese Nicht-Politik und Orientierungslosigkeit korrigiert, wirklich ein „Linksruck“? Ist mehr Demokratie, mehr Mitmach-Demokratie, ist eine überzeugendere Politik, ist eine Kommunikation in einer normalen Sprache, ist eine Personalpolitik, die versucht, die Besten für die Politik zu gewinnen, wirklich prononciert „links“? Ist mehr Professionalität „links“? Ist Modernität „links“? Eine Sozialdemokratie, die auf der Höhe der Zeit sein will, braucht einen Ruck in die Mitte der Gesellschaft mindestens so sehr wie einen Ruck nach Links.
    danke für die worte und fürs zusammenfassen eines gefühls!
    saxo

  2. super, dass herr misik der spö jetzt schon erhard empfhiehlt (wohlstand für alle)finde ich echt überraschend, aber gut.
    eine funktionierende sozialdemokratie ist auf jeden fall notwendig und wichtig für österreich und nur kurzsichtig denkende nicht-linke freuen sich ob der schwäche der sozialdemokratie. reißt euch zusammen, genossen, und besinnt euch auf eure stärken.

  3. Danke für diesen hervorragenden Artikel und den Augenöffner: Politikern, die sozial verantwortlich denken, trauen die Bürger einfach keine Wirtschaftskompetenz zu. Deswegen wird in Krisenzeiten rechts gewählt.
    Die Logik der Leute macht eben auch keinen Unterschied zwischen dem Führen eines Staates und dem eines Betriebs.

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