Was haben wir aus der Welt gemacht!

Tony Judt, der schwer kranke New Yorker Intellektuelle, hat gute Ratschläge für die Sozialdemokratie im Kampf gegen den „Klepto-Kapitalismus“. Falter, 26. Mai 2010

 

 

 

Es gab die Jahrzehnte, da wurden die westlichen Gesellschaften egalitärer, und es wuchs auch „die Intoleranz gegenüber übertriebener Ungleichheit“. Aber in den letzten dreißig Jahren, schreibt Tony Judt, „haben wir all das weggeworfen“. Die Gewinner sonnten sich in ihren Privilegien und verlachten die Loser. „Wachsende Ungleichheit frisst Gesellschaften von innen her auf.“ 

 

„Ill fares the Land“ – simpel übersetzt: „Dem Land geht es schlecht“ – heißt das neueste Buch des amerikanischen Historikers, aber mit „dem Land“ sind nicht nur die USA gemeint, sondern die westlichen Industriegesellschaften als ganzes. Es ist ein eigentümliches Buch geworden: drängend im Ton, literarisch in der Sprache, weitab vom akademischen Duktus. Das Buch eines Mannes, der der Welt etwas sagen will und der findet, dass es gesagt gehört. Fast eine Philippika.

 

Man kann unmöglich über dieses Buch schreiben, ohne etwas über die Lebenskrise seines Autors zu sagen: Tony Judt ist ein New Yorker Intellektueller mit Freude an der Kontroverse, in Großbritannien und Frankreich aufgewachsen, seit Jahrzehnten lebt und lehrt er in den USA. Für seine historischen Studien wurde er mit Preisen überhäuft, etwa mit dem Bruno-Kreisky-Preis oder dem Hannah-Arendt-Preis. Vor zwei Jahren ist er dann von einer fatalen Nervenkrankheit befallen worden. Er kann sich praktisch nicht mehr bewegen, vom Kopf abwärts ist er gelähmt. Er braucht rund um die Uhr Pflege, seine Texte kann er nur mehr diktieren, er erhält Atemhilfe. Er ist nicht mehr viel mehr als ein „Talking Head“, wie er selbst einmal formulierte. Seine Zeit drängt mehr als sie bei jedem drängt. Viel mehr.

 

In einem Essay in der „New York Review of Books“ mit dem sprechenden Titel „Night“ hat er beschrieben, wie man lebt, gefangen in so einem Körper (http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/jan/14/night/).

 

Als Leser kann man nicht anders, als die Bücher und Texte eines Mannes in solcher Lage auch als intellektuelle Vermächtnisse zu lesen. Sie erhalten eine eigentümliche Autorität allein schon des Umstandes wegen, dass der Autor jede, die allerletzte Kraft zusammennehmen musste, um sie noch zu verfertigen.

 

Für Judt markiert der Kollaps der Finanzmärkte und das Desaster des neoliberalen Kapitalismus die Chance für einen Paradigmenwechsel. Insofern ist sein Buch ein optimistisches Buch: Es ist jetzt möglich, eine neue Seite der Geschichte aufzuschlagen. Aber es ist auch ein dunkel gestimmtes Buch, ein Buch das anklagt: Was wir aus unserer Welt gemacht haben. Wir denken nur mehr in ökonomischen Kategorien, extremer Reichtum – mit Attributen wie „Erfolg“ und „Leistung“ aufgehübscht – feierte sich selbst. Die Gewinner sonnten sich im Gefühl der Überlegenheit, die Verlierer durften sich in ihrer Unterlegenheit einrichten. Die Gesellschaften wurden nicht nur ungleicher, sie produzierten damit auch Gedemütigte. Die „harten Einschnitte“, die den Losern noch die Krümel wegnahmen, wurden in einer Sprache der Tugendhaftigkeit vorgetragen. Judt: „In unseren Tagen ziehen manche noch ihren Stolz daraus, dass sie hart genug sind, anderen Schmerzen zuzufügen.“ Unterprivilegiertheit demütigt, sie zerreißt Gesellschaften, sie macht unser aller Leben ärmer. Sie produziert sozialen Stress, sogar noch für die Privilegierten. „Der Egoisimus ist selbst für die Egoisten unbequem.“

 

Dabei war das alles einmal anders: In den „goldenen dreißig Jahren“, als erst in den USA des „New Deal“, in Großbritannien und Schweden ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut wurde und nach 1945 ein maßgeblich sozialdemokratisch geprägtes Europa folgte. Die Gesellschaften wurden sukzessive egalitärer. Der Kapitalismus war „gezähmt“, was ihn nicht nur gerechter, sondern auch funktionstüchtiger machte. Aber dann redete man uns ein, es würde große Reichtumszuwächse geben, wenn man ihn entfessle. Und die Gleichheit geriet ganz allgemein in schlechtes Licht. Dass Ungleichheit schön ist, weil sie die Welt bunt mache, das hätten letztendlich sogar die Hippies so gesehen. Eingebrockt hat es uns einen „Klepto-Kapitalismus“.

 

Heute wissen wir, nicht zuletzt aufgrund der fulminanten Studie von Kate Pickett und Richard Wilkinson (auf deutsch jüngst unter dem Titel „Gleichheit ist Glück“ erschienen), dass Gesellschaften, je egalitärer sie sind, in praktisch jeder Hinsicht lebenswerter sind. Judt bezieht sich über weite Strecken auf die Daten der beiden Wissenschaftler. Aber es fehlen die politischen Protagonisten, die in der schwersten Krise des Kapitalismus seit achtzig Jahren ein progressives Reformprogramm formulieren und durchsetzen könnten. Dass Barack Obama dafür der Richtige wäre, daran zweifelt Judt. Und dass die europäische Sozialdemokratie nur ein Schatten ihrer selbst ist, lässt ihn verzweifeln.

 

Dass die Bürger nur mehr entpolitisiert wären, weist Judt weit von sich. Von seinen Studenten, von seinen Kindern weiß er, wie viele Gedanken sich die jungen Leute über die Welt machen und dass nur die wenigsten von ihnen das schnelle Geld anstreben. Woran es fehlt sind fähige Kräfte der demokratischen Linken. Das Beste, was man von den Politikern der letzten Jahre sagen könne, sei, so Judt, „dass sie für nichts im Speziellen stehen“.

 

Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, formuliert er, dann wird es „eine Sozialdemokratie der Angst sein“. Eine die sagt: Wir haben etwas zu bewahren. Eine These, die man durchaus in Frage stellen darf. Schließlich ist mehr als zweifelhaft, ob es reicht, wohlfahrtstaatliche Institutionen zu verteidigen. Eine konservative Linke?

 

Manche würden eher meinen, dass es eines neuen „Progressismus“ bedarf. Aber wie auch immer man diese Frage beurteilen mag, eines ist sicher: dieses große Buch wird in den politischen Diskussionen der kommenden Jahre eine wichtige Rolle spielen.

 

Tony Judt: Ill Fares The Land. Penguin, London / New York, 2010. 237 Seiten, 19,40.- Euro

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