Warum es im Fall Sarrazin nicht um „Meinungsfreiheit“ geht

Wenn die „Bild“-Zeitung für die „Meinungsfreiheit“ kampagnisiert, dann darf die „FAZ“ nicht abseits stehen. „Bild kämpft für Meinungsfreiheit“, hatte das Zentralorgan des gesunden Volksempfindens unlängst schließlich getitelt und in großen Lettern rausgeschrieen: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Gemeint waren Thilo-Sarrazins gesammelte Anti-Ausländer-Wahrheiten. Sogar mit dem Fall des Mohammed-Karrikaturisten Westergaard wurde er verglichen. Wo es um „Islamkritik“ geht, da wird heute schnell bedrohte Meinungsfreiheit vermutet, so genau nehmen wir es da nicht, egal ob der Kritiker mit dem Tod bedroht wird – oder nur mit einem Spitzenplatz in den Bestsellerlisten.

Frank Schirrmacher legt es in der FAZ eine Prise eleganter an, was allerdings eine gewisse Wirrheit zur Folge hat. Zunächst ist Schirrmacher empört darüber, dass Angela Merkel Thilo Sarrazins Buch noch immer nicht gelesen hat. Das erscheint ihm irgendwie als Verweigerung der Debatte durch das Verfassungsorgan Bundeskanzlerin, eine Verweigerung, die umso schwerer wiege, als die Kanzlerin sich schließlich deutlich gegen Sarrazin gewandt hat. Nun könnte man natürlich einwenden, dass der Vorwurf, das Urteil der Kanzlerin beruhe auf „verkürzten“ oder sonst wie unvollständigen Presseberichten, nicht recht greift, da es sich dabei ja nicht um verkürzte Rezensionen oder sonst was handele, sondern um die zugespitzten Referate der eigenen Thesen durch Thilo Sarrazin selbst; und dass manche unsäglichen Interviews Sarrazins, wie etwa jenes in der „Zeit“, ihn ausreichend disqualifizieren. Das allein ist schon ein bedenkenswerter Sachverhalt, der in Schirrmachers Argumentation erstaunlicherweise nicht einmal erwähnt wird.

Aber dann greift auch Schirrmacher zur Catch-Phrase: Es geht, so sieht auch er das, „bei der Sarrazin-Debatte im Kern mittlerweile um nichts anderes als die Meinungsfreiheit“.

So sieht man das bei „Bild“, bei der FAZ und in den Landtagsfraktionen der NPD – dass da jemandes „Meinungsfreiheit“ beschnitten wird; aber auch bis in linksliberale Milieus ist man für diese Deutung empfänglich. Das Wort „Meinungsfreiheit“ ist zu einem Kampfbegriff in der gesamten Debatte geworden. Und wenn Herr Schirrmacher nun insinuiert – wenn wir mit hermeneutischer Einfühlsamkeit versuchen wollen, zu verstehen, was er meinen könnte -, dass zur Meinungsfreiheit eben nicht nur die Freiheit gehört, sich öffentlich zu äußern, sondern auch noch das Recht, substantiell diskutiert zu werden (ein Recht, das die Kanzlerin durch bockige Nichtlektüre der Sarrazinschen Populareugenik beschneide), dann ist das für sich genommen schon eine etwas, nunja, drollige These; aber sie hat wenigstens etwas Sympathisches, schließlich meint Schirrmacher, die Weigerung der Kanzlerin, Sarrazin intellektuell zu widerlegen sei ein Symptom des Verfalls der öffentlichen Diskussionskultur. Leider wird Schirrmachers Pointe, durch den Gebrauch des mittlerweile derart aufgeladenen Kampfbegriffes „Meinungsfreiheit“ vollends abwegig. Denn, um das klipp und klar zu sagen: Natürlich geht es bei der Sarrazin-Debatte überhaupt nicht um die Meinungsfreiheit, auch wenn die Sarrazin-Fans das noch so lange aus durchsichtigen Motiven trommeln mögen.

Kaum jemand konnte in den vergangenen Jahren seine Meinung mit derartiger medialer Unterstützung unter’s Volk bringen wie Thilo Sarrazin. Niemand will ihm dieses Recht nehmen. Wer aber so wie er rede, wird nun aber eingewandt, würde sofort „öffentlicher Stigmatisierung“ ausgesetzt.

Öffentliche Stigmatisierung? Worin genau soll die bestehen? Darin, dass ein Teil der Bevölkerung seine Thesen scharf ablehnt – während sie von einem ebenso großen Teil unterstützt werden? Nun, mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung ist keineswegs die Verpflichtung verbunden, so jemanden lieben zu müssen. Zur Meinungsfreiheit gehört nämlich auch das Recht, künftig eine ausgesprochen schlechte Meinung von Herrn Sarrazin zu haben. Wer sich massiv aus dem Fenster lehnt, dem fliegen nun eben nicht nur Sympathien zu. Das ist bei Dieter Bohlen ganz ähnlich. Wer polarisierend in die Lichtkegel der Scheinwerfer tritt, setzt sich automatisch einer gewissen Art von Stigmatisierung aus – die einen lehnen ihn ab, die anderen jubeln ihm zu. Das kann schon unangenehm sein, gewiss. Aber eine Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Zur Meinungsfreiheit gehört ebenso wenig das Recht dazu, dass man jeden Job behalten darf. Es gibt nun einmal ein paar berufliche Stellungen in einem Land, für die ein besonderes Seriösitäts-, aber auch Neutralitäts- und Unparteilichkeitsgebot besteht. Jeder, der solche Jobs annimmt, weiß, dass er sich damit Zurückhaltungspflichten auferlegt – und kann sich daher vorher überlegen, ob ihm dieser Job mehr wert ist oder die Freiheit, provokant, bissig und verletzend zu argumentieren. Wenn ich gerne einen Journalismus á la Glenn Beck betreibe, werde ich selbstverständlich keine Stellung als Spitzenfunktionär eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders übernehmen, bei dem das „Objektivitätsgebot“ Geschäftsgrundlage ist. Beides ist nicht vereinbar. Wenn ich gerne völlig losgelöst von Mäßigungspflichten die steilsten Thesen herausposaune, werde ich besser nicht Regierungssprecher.

Frank Lübberding hat das im Online-Portal „weissgarnix“ treffend formuliert:

„Wenn etwa ein Finanzstaatssekretär ein Buch über den Iran schreiben würde und ein militärisches Eingreifen forderte, muss ihn der Bundespräsident auf Antrag des Finanzministers entlassen. Bis heute hat darin noch niemand eine Bedrohung der Meinungsfreiheit gesehen.“

Oder: Wenn ich mich dafür entscheide, „beruflich“ den Posten des Pressesprechers eines Pelzhandelsunternehmens anzunehmen, ist es auch schwer vereinbar, „privat“ auch noch Sprecher von Vier Pfoten zu sein. Es gibt also viele berufliche Stellen, bei denen ich mich am besten noch bevor ich sie antrete mit der Frage auseinander setze, ob ich die damit verbundenen Restriktionen auf mich nehmen will. Auch ich stand in meinem Leben schon vor diesen Fragen und habe mich in aller Regel für die radikale Freiheit entschieden. Das ist die freie Entscheidung eines jeden einzelnen. Aber nie im Leben wäre es mir in den Sinn gekommen, zu behaupten, meine „Meinungsfreiheit“ wäre durch den Umstand beschnitten, dass ich diese Abwägung überhaupt zu treffen habe.

Kaum geht es um irgendwelche populistischen „Meinungen“, ist der Begriff „Meinungsfreiheit“ im Spiel und dann wird jede Unterscheidungsfähigkeit fahren gelassen. Aber Unterscheidungsfähigkeit ist eine der wichtigsten Kompetenzen in öffentlichen Debatten. Wenn jemand fragwürdige Karikaturen zeichnet und dann mit dem Tode bedroht wird, dessen Meinungsfreiheit ist massiv bedroht und für seine Rechte sollte man sich einsetzen, sogar dann, wenn man seine Zeichnungen nicht für die größte Kunst hält. Wieder eine andere Sache ist der Umstand, dass bestimmte „Meinungen“ – etwa weil sie von vielen Leuten als dämlich, verletzend, oder selbst als stigmatisierend angesehen werden -, negative Reaktionen hervorrufen. Sobald das geschieht, erschallt dann der Ruf: „Man wird das doch noch sagen dürfen.“ Aber natürlich darf man. Man muss aber nicht. Wenn man es jedoch tut, dann muss man eben auch die Kritik ertragen. Mittlerweile wird das „Recht auf Meinungsfreiheit“ verdammt oft mit dem Recht verwechselt, nicht kritisiert zu werden. Das Anmaßende an dieser Operation fällt nicht immer gleich auf, weil die so Sprechenden für sich in Anspruch nehmen, sie würden als einzige „Klartext“ sprechen, während alle anderen um den heißen Brei herumreden, lügen usw. Wenn in solch einem Sinn von „Meinungsfreiheit“ geredet wird, geht es aber natürlich nicht um „Meinungsfreiheit“, sondern darum, in einer diskursiven Konstellation einen Vorteil gegenüber Andersdenkenden zu erzielen. „Meinungsfreiheit“ ist dann nicht die Grundlage, auf der argumentiert wird, sondern selbst ein Totschlagargument, das besonders dann gute Dienste leistet, wenn man selbst nicht in der Lage ist, plausibel und vernünftig zu argumentieren. Motto: Wer meine Meinung nicht teilt, beschneidet meine Meinungsfreiheit. Hä? Wie krank ist das denn?

Aber es ist nicht nur sachlich falsch, die Entwicklungen in der Causa Sarrazin mit dem hehren Begriff der „Meinungsfreiheit“ zu verbinden. Es ist auch frivol, schamlos und eine Beleidigung all jener, die wirkliche Verfolgung leiden, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen. Für das Recht, seine Meinung zu äußern, sind Menschen ins KZ gekommen, auch heute gehen in vielen Ländern Menschen für ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auf das Schafott. Herr Sarrazin dagegen darf seine Meinung nicht nur äußern, er darf das jetzt sogar ungehindert von allen beruflichen Ablenkungen tun und ihm wird seine Freiheit mit einer Pension von 10.000 Euro pro Monat versüßt. Demnächst hat er von seinem Buch eine Million Exemplare verkauft, wodurch ihm ein Honoraranspruch von schätzungsweise zwei Millionen Euro erwächst.

Einmal derart in meinem Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten zu werden, das würde ich mir wirklich wünschen, und wie ich mir das wünschen würde.

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4 Gedanken zu „Warum es im Fall Sarrazin nicht um „Meinungsfreiheit“ geht“

  1. Sehr richtig: So sieht’s nämlich aus. Und die Freiheit der Presse ist von der Meinungsfreiheit getrennt zu diskutieren und durchzusetzen. Sarrazin verschafft billig das Gefühl wohliger Erleichterung. Aber eine Reaktion ist nicht Antwort auf Herausforderungen der Zeit.
    Schirrmacher mahnt sicherlich auch die fehlende inhaltliche Note in diesem Machtspiel an, welches die harten Themen Demographie, Robotik, Genetik, und die vertiefte Weltanschauliche Analyse und Konfrontation und Klasse vermissen lässt.

  2. Ja sicher. Meinungsfreiheit. Eine Woche lang exklusiv unkritisiert von den beiden auflagenstärksten Zeitungen im Land die Meinung (Vorabveröffentlichungen des Buchs) verteilt bekommen, das als Einschränkung der Meinungsfreiheit zu bezeichnen ist schon krass 🙂
    Richtig übel ist aber was daraufhin alles passiert, wie jetzt vielerorts offen gehetzt wird…
    Habe zum Beispiel drüber geschrieben was gerade im EMMA-Forum so abgeht:
    http://cymaphore.net/j/54

  3. Nein, sorry, da hab ich eine völlig andere Meinung. Meinungsfreiheit heisst, auch den größten Stuss ablassen zu können, ohne vom Staat mit persönlichen Nachteilen bedroht zu werden.
    Grenze: Strafgesetz, zB Verhetzung, Aufruf zu Gewalt etc., also wie immer die Freiheit des anderen.
    Wenn ein Regierungsmitglied KRAFT SEINES AMTES gegen einen Staat hetzt dann ist das natürlich schädlich für den Staat. Ob Sarrazin Kraft seines Amtes seine Thesen verbreitet hat ist fraglich. Noch fraglicher ob er seinem Arbeitgeber damit Schaden zugefügt hat.
    Mir persönlich ist der Ansatz des Anglo-Anerikanischen Raumes definitiv sympathischer. Gelassen sein, und darauf bauen dass sich wirrer Stuss gegen gute Argumente eben NICHT durchsetzt. DENN: Faschismus kann sich auch ins perverse Gegenteil verkehren – Schlechtmenschen nennen das dann Gutmenschenterror – und wie so oft wohnt diesem scheußlichen Wort auch ein Körnchen Wahrheit inne…
    „Hast du eine andere Meinung dann musst du böse sein, weil wir wollen ja nur das Gute“. Aber etwas gut meinen ist eben nicht dasselbe wie etwas gut tun.
    Die Folge: Das Ansprechen von offenkundigen Problemen (egal ob sinnvoll oder nicht) wird damit unterdrückt – Probleme werden ignoriert, rechte Demagogen werden gewählt.
    ACHTUNG: Mir geht es NICHT um Sarrazin, den ich persönlich als abstoßend empfinde. Es geht um UNS SELBER, UM UNSERE FREIHEIT und um die Versachlichung der politischen Debatte in unserem Land abseits von Ideologien und Hetze.

  4. Gerade BILD ist es die Kommentare blocken, wenn sie zu sehr ins Detail gehen. Bsp.
    Hr. Roubini USA gibt heute bekannt, dass Frankreich mit Portugal auf einer Stufe in Sachen Pleite steht. Frau Merkel sagt, dass Wir und Frankreich die stärksten nationen in der Krise sind.
    damit keiner seine eigenen Gedanken darüber machen kann, kommt der Block.
    bei Ihnen auch?

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