Ein Brief an meine sozialdemokratischen Freunde

Lieber Freund, liebe Freundin,

ich wende mich an Sie, weil ich der Meinung bin, dass nach den Ergebnissen der Gemeinderatswahlen vom Sonntag Rot-Grün eine Chance erhalten soll. Nun wird es Sie nicht überraschen, dass ich mich für Rot-Grün stark mache. Aber es geht hier nicht allein um meine Meinung, ich denke, dass es tragfähige Argumente gibt, die sehr für diese Regierungsvariante sprechen. Und ich möchte, da mir das alles sehr wichtig ist, Ihnen diese hier kurz ausbreiten:
Rot-Grün ist einfach eine moderne Ansage für eine urbane Metropole. Rot-Grün „riecht“ nach Zukunft und Modernität. Rot-Grün ist zudem eine Regierungsvariante, die in Österreich in noch keiner größeren, relevanteren Gebietskörperschaft erprobt wurde. Auch das hätte das Image, dass einmal etwas Neues probiert wird. Angesichts des Grundgefühls vieler Bürger, dass „die Politik“ ohnehin nichts weiter bringt, ohnehin nur immer am Gewohnten und an der Macht interessiert ist, hätte das einen nicht zu unterschätzenden Charme. Ich weiß, das sind eher „sanfte“ Faktoren, aber die gehören in einer Mediendemokratie nicht zu den unwichtigsten Dingen. Hier sind schließlich auch Stimmungen Fakten.

Alle Erfahrung zeigt, dass es traditionellen Volksparteien in aller Regel nützt, wenn sie mit den Grünen regieren. Für viele Bürger gelten die traditionellen Volksparteien – und wie Sie wissen, gilt das auch für die Sozialdemokratie – als „graue“ Parteien. Praktisch immer konnten diese Volksparteien aber vom modernen Image der Grünen mitprofitieren. Das gilt für Rot-Grüne-Regierungen in Deutschland, das gilt für Schwarz-Grüne-Regierungen in Deutschland, das gilt auch für Schwarz-Grüne-Regierungen in Österreich, wie etwa in Oberösterreich. Sozialdemokraten haben also, wenn Sie die Chance nützen, durchaus die Möglichkeit durch Regierungsbündnisse mit den Grünen zu profitieren. 
Alle Erfahrung zeigt zudem, dass Regierungsbündnisse mit Grünen immer außergewöhnlich stabil sind. Mir ist kein Fall bekannt, dass eine Regierung unter Einbeziehung der Grünen irgendwann an Turbulenzen bei den Grünen gescheitert ist – weder in Deutschland noch in Österreich. Im Gegenteil, selbst unter härtesten Bedingungen haben die Grünen praktisch immer, sobald sie in Regierungen eingetreten sind, diszipliniert durchregiert. Ich denke, dass sich das auch leicht erklären lässt: Sie haben am meisten zu fürchten, als Chaotenhaufen dazustehen. Diese Angst hat etwa die ÖVP nie, obwohl sie schon dreimal vorgezogene Neuwahlen vom Zaun brach.
Ich weiß, dass manche in Ihrer Partei der Meinung sind, dass sich mit der ÖVP einfacher, bequemer regieren ließe. Abgesehen von dem Umstand, was denn das für eine zukunftsweisende Ansage sein soll, mit einer Frau Marek und ihren Regimentern zu regieren, frage ich mich, ob das denn überhaupt stimmt, dass das Regieren mit den Grünen soviel unbequemer wäre. Die ÖVP steht doch in sehr vielen Fragen diametral konträr zur Sozialdemokratie, während es zwischen Sozialdemokraten und Grünen in vielen Fragen letztlich kaum ernsthafte Differenzen gibt. Die Unterschiede sind hier doch eher solcherart, dass die Grünen alles gerne schneller, ganz ideal hätten, während Sozialdemokraten eher auf die praktischen Schwierigkeiten in den Mühen der Ebene verweisen. Hier zu einer gemeinsamen Regierungspraxis zu kommen, dürfte doch nicht so schwierig sein.
Ich weiß ebenso, dass manche in Ihrer Partei der Meinung sind, dass Rot-Grün die ÖVP verärgern, und damit das Regieren im Bund schwieriger würde. Ich halte dieses Argument wirklich für abenteuerlich. Denn erstens glaube ich nicht, dass sich irgendjemand in der ÖVP diese Frage stellen würde, wenn es darum geht, über die Bildung einer Schwarz-Grünen-Regierung zu entscheiden; zudem halte ich es schlichtweg für unmöglich, dass die ÖVP in der Bundesregierung NOCH unfairer agieren könnte.
Manche mögen vielleicht auch die Angst haben, Rot-Grün würde der Strache-Partei noch mehr Wähler zutreiben. Ehrlich gesagt: Wir wissen es nicht. Was wir aber aus langjähriger Erfahrung wissen, ist, dass Rot-Schwarz der FPÖ Stimmen zutreibt. Insofern ist es noch eher vorstellbar, dass Rot-Grün hier besser abschneidet, weil dann zumindest manche Wähler, die aus Frustration und Passivismus ihr Kreuz bei der FPÖ machen, doch das Gefühl bekommen, dass sich einmal etwas ändert; dass einmal etwas ausprobiert wird. Dass sich also die allgemeine Stimmungslage, von der die FPÖ profitiert, verbessert. Ohnehin muss man realistisch sagen, dass die Koalitionskonstellation wahrscheinlich wenig Einfluss auf die Stimmung in diesen Bevölkerungsgruppen hat. Die gewinnt man nur mit Politik zurück, indem man dort vor Ort präsent ist. Das kann ohnehin nur die SPÖ schaffen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines ganz offen sagen: Diese Stadt besteht nicht nur aus den 26 Prozent (wenn die Wahlkarten ausgezählt sind, vielleicht nur 25 Prozent) FPÖ-Wählern. Sie besteht auch aus den 75 Prozent anderen. Und viele von denen wünschen sich jetzt einfach Rot-Grün. Die Erstwähler, die zu beinahe 50 Prozent SPÖ und 25 Prozent Grün gewählt haben, wünschen sich in der Mehrheit Rot-Grün. Frustrieren Sie diese jungen Leute nicht. Auch die 15 Prozent „Leihstimmen“, die Sie in manchen Bezirken aus dem Grünen Wählerreservoir erhalten haben (die Differenz des Grünen Ergebnisses etwa zwischen Bezirksvertretungswahl in Neubau und den Gemeinderatswahlen), wünschen sich wohl in überwiegender Mehrzahl Rot-Grün. Die Kulturmilieus, die Intellektuellen, die Kreativen, die modernen Selbstständigen, all jene, die unsere Stadt bunt und lebenswert machen, wünschen sich zu einem überwiegenden Teil Rot-Grün. Simpel gesagt: Das kritische Wien will Rot-Grün. Bedenken Sie, selbst wenn das gerade hektische Tage sind, dass Sie auch diesem Teil der Bürger gegenüber eine Verantwortung haben. Und dass die Entscheidung, die Sie und ihre Parteigenossen treffen müssen, auch heißt: Will ich mit diesen Menschen ein Stück des Weges gemeinsam gehen? Oder will ich sie vor dem Kopf stoßen? Denn genau auf Letzteres liefe eine Entscheidung für eine Koalition mit der ÖVP hinaus. Auch das hätte also seinen Preis.
Ich weiß, ich habe Ihre Aufmerksamkeit schon sehr stark in Anspruch genommen, würde mir aber wünschen, dass Sie all das bedenken.
Mit herzlichen Grüßen,
Ihr Robert Misik

2 Gedanken zu „Ein Brief an meine sozialdemokratischen Freunde“

  1. Philosophisch betrachtet: Ist es wirklich schon Demokratie, wenn wir uns den Kopf zerbrechen dürfen, von welcher Parteienkoalition wir regiert, also beherrscht werden?
    Die SPÖ ist ja derart mit dem Macht- & Herrschaftsapparat der Gemeinde, des Staates und der Sozialpartnerschaft verwoben, dass sie einfach zu demokratischen Reformen unfähig ist.
    Solange unsere „Paradeintellektuellen“ das Volk nicht dazu anleiten, selbst den Gebrauch des Verstandes zu lernen, und nur herumschwadronieren, wird in Österreich keine wirklich demokratische Gesellschaft entstehen.
    Und aus sich der stetig steigenden Zahl der Lohnarbeitslosen und prekär arbeitenden/lebenden hat sich durch die Grünbeteiligung in Graz und in Oberösterreich herzlich wenig geändert (das AMS bleibt repressiv wie es ist).
    Und übrigens: Die sträkste „Fraktion“ sind wieder die NichtwählerInnen

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