Progressive Politik fängt mit Sprache an

Nicht um Partikularinteressen geht es, sondern um das möglichst größte Glück für die möglichst größte Zahl von Menschen. Der Freitag, 28. Oktober 2010

In ganz Europa bietet sich ein ähnliches Bild: Nachdem die Regierungen erst durch Bankenrettungsprogramme eine Kernschmelze auf den Finanzmärkten und danach mit massiven Konjunkturprogrammen den Totalabsturz der Wirtschaft verhindert haben, wird jetzt flächendeckend gespart. Schließlich müssen die öffentlichen Haushalte ja irgendwie wieder ins Lot gebracht werden. Und dabei wird auf soziale Fairness nicht immer geachtet. Nachdem die Rettungsmilliarden eher den Vermögenden zugute gekommen sind – schließlich wurden mitsamt den Finanzinstitutionen ja vor allem die Vermögen jener gerettet, die über Finanzvermögen verfügen -, so zahlen jetzt alle; nein, falsch: oft zahlen relativ gesehen jene mehr, die ohnehin nichts haben. Der Gipfel der Frivolität ist die berüchtigte Streichung des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfänger. Während Gutverdiener auf ein paar Euro verzichten müssen, werden denen gleich 300.- Euro gekürzt. Auf die Straße geht kaum jemand. Weil Hartz-IV-Empfänger eben keine Lobby haben und auch kein Drohpotential.

Und wenn wo jemand protestiert – wie etwa beim Gewerkschaftsaktionstag vergangene Woche in Brüssel, oder beim LKW-Fahrerstreik in Griechenland, oder bei den Streiks in Spanien -, dann hat das schnell den Geruch der Verteidigung von Partikularinteressen. Ob das nun stimmt oder nicht, in der öffentlichen Wahrnehmung erscheint das dann schnell so, dass einzelne Betroffene eben gegen jene Pläne anrennen, die sie selbst negativ betreffen. Prompt ist dann ein diskursives Setting geschaffen, das in etwa so lautet: Einzelne verteidigen „Besitzstände“, obwohl „wir“ doch alle sparen müssen.

Die progressiven Kräfte, ob Parteien oder Gewerkschaften oder auch NGOs, sind daran nicht ganz unschuldig. Allzu oft argumentieren sie vornehmlich im Jargon von „Interessen“, dagegen tun sie sich schwer mit Begriffen von „Werten“ zu argumentieren und ein konzises Bild einer „guten Gesellschaft“ und eines „guten Lebens“ zu zeichnen. Dies ist noch eine Schwundform marxistischer Klassenkampfrhetorik, die davon ausging, ein Kampf zur Besserstellung der Unterprivilegierten brauche keine Werte, sondern nur Einsicht in eine „objektive Interessenslage“.

 

Dabei ist doch gerade die Linke eine wesentlich von Werten getriebene Kraft. Sie ist nicht nur für Fairness, gleiche Chancen für Alle, sie ist nicht nur deshalb dafür, dass auch Arme eine grundlegende materielle Ausstattung erhalten, die ihnen ein Leben in Würde erlaubt, weil das im simplen „materiellen Interesse“ der Unterprivilegierten wäre – sondern weil das auch ihren Idealen entspringt. Menschen machen sich für etwas stark, weil sie Ideale haben und weil diese Ideale sie motivieren, bestimmte Entscheidungen zu treffen.

Progressive sind für egalitäre Gesellschaften, weil das ihrem Wertekompass entspricht und sie sind deshalb gegen Sparmaßnahmen, die zu mehr Ungleichheit führen. Aber sie haben oft schlicht keine Sprache, keine Worte dafür. Und deshalb gebrauchen sie oft ein altes, totes Vokabular. Dies erschwert es aber, über die Gruppen direkt Betroffener hinaus Allianzen zu bilden.

Dabei wissen wir heute sehr genau, dass nicht nur die Armen ein „Interesse“ an Gerechtigkeit haben, sondern auch die Wohlhabenden. Schließlich haben Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrer fulminanten Studie „Gleichheit ist Glück“ gezeigt, wie sehr gesellschaftliche Dysfunktionalitäten mit dem Grad an materieller Ungleichheit zusammenhängen. Soziale Mobilität, Kriminalitätsrate, Lebenserwartung, Teenagerschwangerschaften, Fettleibigkeit, allgemeine Lebenszufriedenheit – welchen Parameter immer man heranzieht, überall schneiden egalitäre Gesellschaften besser ab. Und selbst Wohlhabenden geht es in ungleicheren Gesellschaften schlechter, als ihren „Kollegen“ in eher egalitären Gesellschaften. Die allgemeine Lebenszufriedenheit sinkt in allen Einkommengruppen, je ungleicher Gesellschaften sind, weil dann die Statuskonkurrenz zunimmt, der soziale Stress wächst, weil das wechselseitige Vertrauen der Bürger zueinander sinkt und alle Institutionen schlechter funktionieren. Nur ein Exempel: Im eher egalitären Schweden ist die Kindersterblichkeit selbst im Segment der zehn Prozent reichsten Einkommensbezieher niedriger als im vergleichbaren Segment der ungleichen USA.

Progressive haben also gute Argumente parat, wenn sie sagen, dass sie gegen soziale Härten gegen Unterprivilegierte sind – und zwar, weil das nicht nur den betroffenen Armen schadet, sondern uns allen. Ed Miliband hat das in seiner Antrittsrede als neuer New-Labour-Chef so formuliert: „Der Graben zwischen den Armen und den Reichen fügt nicht nur den Armen Schaden zu, er schadet uns allen.“

Aber wir sollten noch weiter gehen und offen sagen: Als Linker bin ich nicht nur deshalb gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, weil sie ganz allgemein Gesellschaften schlechter funktionieren lassen. Selbst wenn das nicht so wäre, wenn also der objektive, allgemeine Nutzen von Gerechtigkeit nicht so sicher wäre, würde ich dennoch nicht plötzlich für Unfairness plädieren. Ich bin nicht nur deshalb gegen Ungleichheit, weil diese auf so vielfältige Weise schädlich ist, ich bin gegen die Ungleichheit, weil sie gegen meinen ethischen Kompass verstößt. Nur so kann man sich, auch wenn man die „Interessen“ bestimmter Gruppen vertritt, an die Allgemeinheit richten.

Man kann sich, auch wenn man vordergründig verschiedene Interessen hat, gemeinsam für etwas einsetzen, wenn man das auf Basis geteilter Werte macht. Und andererseits wird man sich, etwa als unterprivilegierte Gruppe, für seine Interessen nur dann nachhaltig starkmachen können, wenn man sie so formuliert, dass andere dies auf Basis geteilter Werte unterstützen können. „Die simple Behauptung, etwas wäre in unserem materiellen Interesse – oder es wäre gegen unser materielles Interesse -, wird die meisten von uns in den meisten Fällen nicht befriedigen. Wenn wir andere davon überzeugen wollen, dass etwas richtig oder falsch ist, brauchen wir eine Sprache, die Ziele formuliert“, schrieb der jüngst so tragisch verstorbene anglo-amerikanische Intellektuelle Tony Judt in seinem Buch „Ill fares the land“, seinem geistigen Vermächtnis.

Natürlich müssen wir uns davor hüten, zu moralisieren, denn süßlicher Moralismus hat etwas Uncooles. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass breitere gesellschaftliche Allianzen immer von einer geteilten Moralität zusammengehalten werden, mag diese auch noch so subkutan sein.

Ja, Interessen spielen eine Rolle und die Frage nach der effizienten Organisation einer möglichst funktionstüchtigen Gesellschaft ist keine Nebensache. Aber wir sollten uns schon auch ein paar Fragen darüber hinaus stellen. Sind unsere Gesellschaften in einem Zustand, den wir als optimal und lebenswert für alle betrachten können? Werden sie dem Ziel gerecht, das möglichst größte Glück für die möglichst größte Zahl von Menschen zu realisieren? Wie wollen wir leben?

Wettbewerb, Individualismus und Ungleichheit – das waren die Bausteine der Ideologie, die die vergangenen zwanzig Jahre prägten. Sie erwiesen sich nicht nur als dysfunktional für eine stabil prosperierende Wirtschaft, sie waren auch völlig unangemessen, bedenkt man die technologische Entwicklung hin zu einer Netzwerk-Ökonomie mit ihren vielfältigen Interdependenzen und der Entstehung einer globalen Ordnung, in der der Eine seinen Vorteil nicht mehr langfristig sichern kann, wenn er auf dem Nachteil des Anderen basiert. Aber was wären dann die Schlüsselbegriffe für eine andere Ära? Kooperation, Kreativität und Gleichheit. Kooperation, weil die Menschen mehr zustande bringen, wenn sie mit anderen zusammenarbeiten – wir sind keine primär konkurrenzlerischen Wesen. Kreativität, weil wir alle Dinge tun wollen, denen wir einen Sinn zuschreiben, weil wir unsere Talente entwickeln wollen und weil eine Gesellschaft besser fährt, wenn alle die Möglichkeit haben, ihre Talente zu entwickeln – Kreativität meint das Beste am Individualismus, aber ohne den egoistischen Beiklang, der dem Wort längst anhaftet. Und nicht zuletzt Gleichheit, weil eine Gesellschaft lebenswerter ist, je egalitärer die Lebensbedingungen ihrer Bürger sind.

Was, wenn wir so zu sprechen begännen? Wenn wir die Frage aufwerfen, was denn ein gutes, ein gelingendes Leben für alle wäre? Wir dürfen es nicht akzeptieren, dass manche hoffnungslos zurückbleiben oder bereits als geborene Verlierer ins Leben starten. Alle müssen die Möglichkeit haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, und niemand darf in Lebensverhältnissen gefangen sein, die chronische Armut mit Chancenlosigkeit und einer endlosen Kette an Demütigungen kombinieren. Und: Die ewige Tretmühle der Konkurrenz verpestet das Leben aller.

Dass heute so viele so vieles stumm hinnehmen, hängt also damit zusammen, dass den politischen Akteuren die Sprache fehlt, die Dinge fruchtbar zu formulieren. Letztendlich haben heute alle progressiven Milieus ein Kommunikationsproblem, nicht nur die sozialdemokratischen Parteien, über deren aseptische Polit-Sprache sich viele lustig machen. Ähnliches gilt für die radikaleren Linksparteien mit ihren oft leeren halbstarken Worthülsen und ihrer toten Klassenkampfrhetorik aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts oder für die Gewerkschaften mit ihrem Funktionärs-Sprech und auf andere Weise für linke Intellektuellenmilieus, für manche NGOs und antirassistische Aktivistengruppen mit ihren aseptischen, hermetischen Wortgirlanden, die ohne Begriffe wie „Multitude“, „Diversity“, „Biopolitik“ und „radikale Intervention“ nicht auskommen. Jede dieser Sprachen ist bestens geeignet, die kleinen Truppen der jeweiligen Gesinnungsgruppen auf einen gemeinsamen Jargon zu stimmen und von anderen Milieus abzugrenzen, aber völlig ungeeignet, über die überschaubaren Häuflein hinaus große Bevölkerungsgruppen für eine progressive Politik zu gewinnen, einen moralischen Referenzpunkt zu bilden, ein Ferment gewissermaßen, das einen neuen ethischen Block zusammenhält.

Progressive Politik fängt mit Sprache an.

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