Ein Interview mit Oskar Negt
Seit den sechziger Jahren ist er einer der Stichwortgeber der unorthodoxen Linken in Deutschland: Oskar Negt, 76. Jetzt hat der Soziologe ein neues Buch vorgelegt: „Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform“. Darin versucht er sich die Quellen für die Frustration und die Indifferenz zu analysieren, die den westlichen Demokratien heute so zu schaffen machen. Auch wenn die Institutionen funktionieren, so sein Urteil, ist die Demokratie heute doch gefährdet. Am Dienstag, 30 November, stellt sich Negt im Rahmen der „Wiener Stadtgespräche“ von Falter und der Arbeiterkammer den Fragen von Peter Huemer. Termin: 30. November, 19 Uhr. AK-Bildungszentrum, Theresianumgasse 16-18, 1040 Wien.
Für den Falter habe ich vorab folgendes Interview mit Oskar Negt gemacht.
Ist unsere Demokratie innerlich ausgezehrt?
Negt: Ich sehe unsere Demokratie jedenfalls gefährdet.
Was bedroht denn die Demokratie? Der Verdruss und das Desinteresse der Bürger? Eine politische Klasse, die sich abkapselt?
Negt: Eine Dimension der Bedrohung besteht offensichtlich darin, dass zentrale Probleme unserer Gesellschaft – etwa die große Frage der Krise der Arbeitsgesellschaft – überhaupt nicht angepackt werden. Deshalb sind viele Menschen enttäuscht von den demokratischen Prozeduren, sie verlieren ihr Vertrauen. Die Legitimation des demokratischen Verfahrens schwindet, viele Menschen liebäugeln mit rechten Parteien. Ein anderer Aspekt: Demokratische Partizipation wird abgebaut, was eine Folge der Dominanz des Neoliberalismus in den letzten zwanzig Jahren ist.
Wo wird denn Partizipation abgebaut?
Negt: In den Schulen diktieren die Direktoren, in den Universitäten wird Mitbestimmung abgeschafft – und und und. Alles mit dem Hinweis auf Effizienz, indem man rein betriebswirtschaftliche Begründungen vorschiebt. Man tut so, als würden Organisationen effizienter funktionieren, wenn es weniger demokratische Mitbestimmung gibt. Das führt aber zu einer Ausklammerung der Demokratie aus der direkten Lebenswelt der Menschen. Und das spart nicht Kosten, das verschiebt nur Kosten. Was man möglicherweise durch Rationalisierung der Prozesse spart, das verursacht externalisierte Kosten. All das hat seinen Preis.
Der Preis dafür sind Frustrationen, schwindendes Engagement der Bürger?
Negt: Mehr noch: Die Bürger legen sich dann quer. Man sieht das deutlich bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Es ist ja nicht so, dass es bei der Planung des neuen Durchgangsbahnhofes undemokratisch oder gar ungesetzlich zugegangen ist. Nein, bei den verwaltungstechnischen Verfahren ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Aber die Bürger akzeptieren nicht mehr, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, dass man sie überfährt.
Aber man kann ja nicht sagen, dass der Neoliberalismus an all dem Schuld ist. Dass die politischen Eliten sich abkoppeln und in ihr Politraumschiff zurückziehen, dass hat ja viel tiefere Ursachen als nur den bösen Neoliberalismus.
Negt: Nun, die Sozialdemokraten etwa sind mit Blair und Schröder Modernisierungsparteien geworden, sie waren schon sehr angesteckt vom neoliberalen Konsens. Insofern gibt es da einen sehr engen Zusammenhang.
Aber man kann doch nur schwer behaupten, dass alles gut lief, etwa mit der Sozialdemokratie, bis Modernisierer a la Schröder und Blair kamen und alles kaputt gemacht haben. Der Schwenk, den die Sozialdemokraten in dieser Ära machten war ja selbst schon eine Folge dessen, dass man spürte, dass die Dinge nicht mehr funktionieren und man etwas anders machen muss.
Negt: Selbstverständlich. Es gab seit dem Fall der Berliner Mauer einen immensen Legitimationszuwachs des kapitalistischen Systems. Und als Folge begann man den Sozialstaat zu delegitimieren. Und der hat den Menschen die Angst, die Existenzangst genommen. Seine Erosion erhöht jetzt umgekehrt den Angstrohstoff in der Gesellschaft. Und der kann ganz verschieden verarbeitet werden.
Ein Symptom dafür wäre der Aufstieg des Rechtspopulismus?
Negt: Man kann das mit Händen greifen. In Österreich, in den Niederlanden, diese Anti-Islam-Stimmung, die faschistischen Bewegungen in Ungarn – sie alle treten ja mit einem Sicherheitsversprechen an. Von der Art: Wenn man uns wählt, werden wir die Gesellschaft von fremden Elementen säubern. Und demokratische Verfahren sind doch nicht so wichtig. Ich sehe eine Zweispaltung der Wirklichkeit: Auf der einen Seite funktionieren die demokratischen Institutionen, die Politik verwaltet, es gibt nicht einmal endemische Korruption. Auf der anderen Seite, unterhalb dieser Realität, da brodelt es. Es gibt gewaltige Enttäuschung, und es gibt gewaltige Proteste.
Sind die enttäuschten Bürger nicht selber schuld? Statt zu demonstrieren könnten Sie sich ja in den Parteien engagieren, dann würden die Parteien auch anders aussehen.
Negt: Gewiss, man kann da im Sinne von Kant auch von einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ sprechen. Es gibt eine tiefe kulturelle Krise, die all diese Probleme nach sich zieht.
Was müsste nun getan werden, um diese Krise zu überwinden?
Negt: Nun, da könnte man jetzt hundert Dinge nennen und stundenlang reden. Ganz wichtig ist der offensive Ausbau von Mitbestimmungsrechten. In den Schulen, aber auch in den Kommunen, im Nahbereich der Lebenswelt der Bürger. Man muss die Menschen einbeziehen, man muss akzeptieren, dass manches einfach nicht mehr geht. Wir brauchen eine Öffentlichkeit der Beteiligungen, mehr Transparenz von Entscheidungsprozeduren. Die Demokratie muss täglich gelernt werden, sie erschöpft sich nicht in rationalen Regelsystemen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr beteiligt zu sein, dass ihre Stimme im Grunde nicht zählt, dann ist eine demokratische Gesellschaft bedroht.