Staatsfeind? Aber ja doch!

Der Nerd als Revolutionär: Wikileaks-Lenin Julian Assange im Lichte seines Schrifttums. Falter, 8. Dezember 2010 

Er sieht schon Äußerlich ungewöhnlich aus. Schlaksig und klein, dabei doch eine elegante Erscheinung. Und natürlich diese weißen Haare, die nicht einfach grau sind, wie bei vielen „Weißhaarigen“, sondern richtig: Weiß. Dieses Nerdhafte. Dazu der Eindruck, der Mann umgäbe sich mit einem Geheimnis. Dass wir zwar alle wissen, was er tut. Nämlich, dass er Geheimdokumente veröffentlicht. Aber nicht wirklich wissen: Warum. Was ihn eigentlich antreibt. Woher diese Energie kommt. Julien Assange ist auch ein Fragezeichen. Natürlich macht ihn gerade das erst interessant. Der Wikileaks-Anführer ist ein Revolutionär des Internetzeitalters und, wie viele Revolutionäre vor ihm, auch ein bisschen Pop-Star.

Diese scheinbare Unergründbarkeit kontrastiert freilich mit dem Umstand, dass Assange seine Ziele öffentlich darlegt. Denn erstens ist er ein Netz-Freak und schrieb bis vor ein paar Jahren, wie jeder andere Blogger, einfach auf, was er sich so denkt. Zweitens ist er eine öffentliche Figur, die in Interviews ihre Absichten bekundet – gut, da gibt es immer auch Raum für taktisches Sprechen. Drittens und vor allem hat er aber, wie jeder gute Revolutionär, eine Theorie. Und die kann man kennen, wenn man will.

Den Kern dieser Theorie hat Assange in drei Texten dargelegt, die sich weitgehend gleichen – sie sind über weite Passagen wortidentisch. „State and Terrorist Conspiracies“, „Conspiracy as Governance“ und das „Wikileaks Manifesto“.

Darin beschreibt er autoritäre Staaten. Aber zu denen zählen für ihn nicht nur Halb- und Volldiktaturen, sondern praktisch alle Staaten – so etwa auch die USA. Alle Staatsapparate bestehen aus Institutionen, die sich gegen die Freiheit der Bürger verschwören. Und gerade weil sie „schlechte Regierungen“ sind, also Regierungen gegen die Freiheit, leben sie von Geheimhaltung, müssen sie ihren Bürgern Herrschaftswissen vorenthalten. Und die Insider in diesen Institutionen kommunizieren intern über Kanäle, deren Effektivität für das Funktionieren der Institutionen entscheidend ist. Kurzum: Regierung ist eine „Konspiration“, und der Autoritarismus lebt davon, dass seine Absichten nicht bekannt werden. Wichtig ist: Diese Verschwörung besteht eben nicht nur aus den Verschwörern, sondern zudem aus den Fäden, die sie verbinden. Diese müssen aus Assanges Sicht geschwächt werden. Schwache Institutionen können schlechter gegen die Freiheit der Bürger eingesetzt werden. Nun hätten viele Revolutionäre oder Reformer darauf gesetzt: Die handelnde Akteure auszuschalten oder durch bessere zu ersetzen; oder die Institutionen zu verändern. Assange will all das nicht. Er will das Netz der Verschwörung schwächen, indem er die Fäden angreift. Man müsse sich, schreibt er, die Szenerie wie ein Nagelbrett vorstellen. Die Nägel sind die Konspirateure. Diese Nägel sind kreuz und quer mit Fäden verbunden – die Kommunikationsnetze. Und es gibt nicht nur die Seidenfäden, sondern auch dicke, fette Kordeln. Dicker Faden, starke kommunikative Verbindung. Dünner Faden, unwichtige, unbelastbare Verbindung. Indem man die Kommunikationsnetze angreift, verringert man die Funktionstüchtigkeit der Netze bis zu dem Grad, dass sie irgendwann überhaupt nicht mehr funktionieren. In seinem Blog „Interesting Questions“, der heute nicht mehr online, aber via diverse Archiv-Seiten auffindbar ist, hat er dazu 2006 geschrieben: „Je geheimniskrämerischer und ungerechter eine Organisation ist, desto mehr werden Leaks und Geheimnisverrat Angst und Paranoia in ihrer Führung verbreiten.“ Die Organisation wird die Kommunikationsnetze noch exklusiver gestalten, die Mitglieder der Organisation werden sich gegenseitig zu überwachen versuchen und alle Energie darauf verschwenden, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Organisation ist lahmgelegt, sie macht ihre „kognitiven Fähigkeiten“ selbst zunichte.

Manchmal scheint es, als wäre Wikileaks eine Art Megaunternehmen investigativen Journalismus‘: das mit Videos oder Dokumenten Fehlverhalten von staatlichen (oder privatwirtschaftlichen) Organisationen aufdeckt und damit zur „Kontrolle“ der Regierenden beiträgt. Aber Assange will nicht nur Skandale aufdecken und damit die Regierung verbessern. Er will jede Regierung am regieren behindern.

Ist er ein Anarchist? Gewiss, wenngleich ein recht eigentümlicher. In einem großen Interview mit dem „Forbes“-Magazine bezieht er sich explizit auf den schillernd-bizarren amerikanischen „Libertarianism“, zu dessen Anhänger sowohl Anarchisten wie manche radikalen Propagandisten einer total freien Marktwirtschaft zählen. Sowohl linke Post-Hippies wie auch Tea-Party-Radikalinskis können sich auf den Liberatrianism beziehen. „Ich liebe die Märkte“, sagt auch Assange.

Man mag seine Theorie für obskuren Verbalradikalismus halten, aber seine Analysen der Funktionsweise von Organisationen sind nüchtern und blitzgescheit. Wie jeder praktische Tatmensch und Revolutionär hat der brillante Kopf Assange aber auch seine realistische Ader. Wenngleich er in seiner Theorie eigentlich jede Herrschaft und jede staatliche Institution ablehnt, so schwingt, wenn er „schlechtes regieren“ anprangert, doch die Möglichkeit von „gutem regieren“ mit. Wie das genau aussehen könnte, führt er freilich nie aus. Und er verrennt sich auch nicht in die Überspitzungen der eigenen Thesen, wie das so oft bei radikalen Theoretikern der Fall ist. Bisweilen begibt er sich auf den Mittelweg, etwa, wenn er sagt, dass er, wenngleich er die Märkte liebe, „gemischte Gefühle gegenüber den Kapitalismus“ habe. Letztendlich ist es wohl auch mit den staatlichen Institutionen so: Wenn er sie gerechter, kontrollierbarer, kurzum: besser machen könnte, wäre er wohl auch zufrieden. In einem Interview erzählte er unlängst, dass das irische Parlament eine Reihe von Gesetzen verabschiedete, deren Anregung auf Wikileaks zurückgeht. Der Stolz in der Stimme war nicht zu überhören. Manchmal können eben auch Anarchisten staatlichen Gesetzgebungsverfahren etwas abgewinnen.

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