„Eine sozial unnütze Aktivität“

Sind Finanzmärkte überhaupt „Märkte“? Und was ist ihr Nutzen? 

Dieser Beitrag erschien in leicht unterschiedlichen Varianten im Falter / Wien und der „Gegenblende“, dem Online-Magazin des DGB
Es ist nur ein Wort, es spricht sich leicht aus, fast unbedacht wird es verwendet – das Wort vom „Markt“. Schließlich leben wir ja in der „Markt“-Wirtschaft. Und in der gibt es Gütermärkte, die tatsächlich so funktionieren wie Dorfmärkte. Bleibt der Schuhhändler auf seinen Schuhen sitzen, wird er den Preis senken oder die Produktion der offensichtlich hässlichen Treter wird gedrosselt, bis Angebot und Nachfrage wieder im Gleichgewicht sind. Dieses Bild vom Markt wird, wie eine Art Metapher, über alle Segmente der Ökonomie gestülpt. Wie selbstverständlich sprechen wir vom „Arbeitsmarkt“, obwohl dem viele Charakteristika eines Marktes fehlen – so können „Anbieter“ am Arbeitsmarkt ein „Überangebot“ ja nicht so einfach drosseln (außer durch Massenselbstmord, was aber eine sehr unbeliebte Variante ist). Der „Arbeitsmarkt“ ist also, wie die Ökonomen sagen würden, ein so „unelastischer Markt“, dass es praktisch Unsinn ist, ihn als Markt zu bezeichnen. 
Nicht ganz unähnlich ist es bei den „Finanzmärkten“. Sowohl Progressive wie Konservative und Wirtschaftsliberale reden von „Finanzmärkten“, bloß dass die einen für deren Regulierung, die anderen dagegen sind. Aber niemand fragt, ob es sich bei den Finanzmärkten überhaupt um Märkte handelt. Aber indem sie klammheimlich von dieser Prämisse ausgehen, behaupten die Wirtschaftsliberalen dann dreierlei: dass erstens strenge Regeln das Wirken der Marktkräfte einschränken würden; zweitens strenge Regeln die produktive Funktion von Finanzinstitutionen behindern; und drittens gerade auch die Investmentbanken und -Fonds positive Wirkungen haben, indem sie etwa innovative Unternehmungen, Start-Ups und anderes finanzieren. Manchmal nur implizit, oft auch explizit, wird diesen Argumenten hinzugefügt, dass man an all dem sehe, dass die Linken eben „von Wirtschaft nichts verstehen“, weil sie die positiven Wirkungen von Märkten durch Regeln oder Verbote behindern würden. Sehen wir uns diese Argumente genauer an und beginnen wir beim letzten. 


Wozu sind Investmentbanken gut?
Der amerikanische Wirtschaftsjournalist John Cassidy hat jüngst in einem fulminanten Aufsatz die Frage zu klären versucht: „What Good Is Wall Street?“ („Wofür nützt die Wall Street?“). Und zwar durchaus unvoreingenommen. Investmentbanken und -Fonds sammeln Geld vermögender Leute ein und stellen das Kapital jenen zur Verfügung, die es brauchen. Dabei werden auch nützliche Dinge finanziert: innovative High-Tech-Gründungen, die bei normalen Banken nie einen Kredit bekämen, Umwelttechnologien usw. Cassidy hat sich aber auch genau angesehen, welchen Anteil solche Finanzierungen am Geschäftsvolumen der großen Investmenthäuser haben. Und das Ergebnis war doch relativ ernüchternd. Diese „produktiven“ Investitionen summierten sich 2010 bei Morgan Stanley auf bestenfalls 15 Prozent der Betriebseinnahmen und einen noch deutlich geringeren Anteil der Profite. Bei Goldman Sachs beträgt der Anteil gerade 13 Prozent. 
Der große Brocken der Einnahmen entfällt auf den Handel mit verschiedenen Finanzinstrumenten – etwa auf Handel mit Derivaten und anderen Wertpapieren, bei denen die Firma Kursgewinne einsackt, also klassische spekulative Geschäfte, oder wo sie bei Kauf und Verkauf von ihren Kunden Gebühren kassiert (also immer einen kleinen Anteil der investierten Gelder in die eigenen Bücher transferiert). Diese Geschäfte haben in aller Regel keinen gesellschaftlichen Nutzen. Diese Firmen haben sich also, so Cassidys Resumee, zu Finanzinstitutionen entwickelt, „die vor allem dadurch ihre Gewinne machen, dass sie kleine Von-Tag-zu-Tag-Bewegungen auf den Märkten ausnützen“. 
Ein Urteil, das von Lord Adair Turner geteilt wird, dem Chef der britischen Bankenaufsicht Financial Services Authority. Er nannte in einem aufsehen erregenden Aufsatz das Investmentgeschäft eine „im Wesentlichen sozial unnütze Aktivität“. Und fügte hinzu: „Innovation im Finanzgeschäft … kann manchmal und unter bestimmten Bedingungen die wirtschaftliche Wertschöpfung begünstigen, aber das muss immer konkret bewiesen und die spezifischen Effekte müssten klargelegt werden – es kann nicht a priori behauptet werden.“ Ja, so Cassidys Resumee, Investmentbanker finanzieren gelegentlich nützliche Dinge, aber in aller Regel wäre es so: „Würden die Investmentbanker alle miteinander auf einen Schlag in den Ruhestand treten und sich in ihre schicken Villen am Meer zurückziehen, die Volkswirtschaft würde nichts verlieren – wahrscheinlich stünde sie sogar gesünder da.“ 
Ist der Finanzmarkt ein „Markt“? 
Was ist nun mit den anderen Argumenten, etwa, dass restriktive Regeln das Wirken der Marktkräfte im Finanzsektor einschränken würden und dies langfristig negative Folgen hätte? Dieses Argument baut eben auf der Vorannahme auf, dass Finanzmärkte wie simple Gütermärkte funktionieren und wie in diesen daher Marktkräfte produktive Wirkungen haben und deshalb das Marktprinzip der beste Mechanismus zur Ressourcenallokation wäre. Auf Gütermärkten ist das ja tatsächlich der Fall: Wird ein Gut nicht mehr nachgefragt, ist es offenbar nicht interessant genug für die Kunden oder zu teuer. In diesem Fall würde der Preis des Gutes sinken, bis die produzierte Menge abgesetzt werden kann. Oder die Produktion würde eingeschränkt, Ressourcen wie Kapital, Arbeit, Rohstoffe, Vorprodukte würden in andere Sektoren abwandern – bis ein „Gleichgewicht“ hergestellt ist, also genauso viele Güter zu einem bestimmten Preis angeboten werden, wie auch nachgefragt werden. Hier produzieren Marktkräfte Stabilität. 
Kapitalmärkte funktionieren aber ganz anders, weshalb, wie John Maynard Keynes formulierte, die Entwicklung der „organisierten Investmentmärkte manchmal entscheidend zur Instabilität des Systems“ beiträgt. Der legendäre Ökonom Keynes, vor allem aber in der Folge der amerikanische Wirtschaftwissenschaftler Hyman P. Minsky, haben gezeigt, dass auf Finanzmärkten endogene Kräfte wirksam sind, die nicht Stabilität, sondern Instabilität herbeiführen. 
Kein Mensch kauft, beispielsweise, eine Aktie von Facebook weil er sie braucht (in dem Sinn wie er Turnschuhe braucht). Er kauft sie, weil er annimmt, auch andere werden sie kaufen und weil er weiters denkt, nächstes Jahr werden sie noch mehr Leute kaufen, sodass sie im Wert steigen wird. Treffen viele Leute auf Basis dieser Vorannahme eine Kaufentscheidung, wird die Vorannahme zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. So entsteht ein Boom. Ein Anstieg der Preise eines Wertpapieres kann also die Nachfrage noch befeuern – anders als das etwa bei Kartoffeln der Fall wäre, die von weniger Leuten gekauft würden, wenn sie im Preis steigen. 
Es ist, als würde der Bauer am Markt rufen: „Meine Kartoffel sind die Teuersten“, worauf ihm die Leute seine Ware aus der Hand reißen. Ein wahrhaft seltsamer Markt. 
Was Gütermärkte tatsächlich zu „effizienten Märkten“ macht, ist, so Minksy, das „Prinzip der Substitution“. Da auf Gütermärkten immer beschränkte Ressourcen diktieren, bedeutet ein Preisanstieg bei einem Gut, dass es tendenziell durch andere Güter ersetzt wird: wenn Schuhe zu teuer werde, kaufen die Leute weniger Schuhe und dafür vielleicht mehr Kleider. Auf Kapital-„Märkten“ ist dieses „Prinzip der Substitution“ aber einfach nicht wirksam. Wird eine Klasse von Wertpapieren teurer, kaufen es mehr Leute, das Buchvermögen wächst, damit auch die Möglichkeit, mehr Kredite zu vergeben und so weiter.  
Viele Wirtschaftsakteure kaufen Finanzinstrumente mit geliehenem Geld. Das ist auch vorerst scheinbar überhaupt kein Problem, solange ihren Schulden ausreichend Vermögen gegenüber steht und sie Rückzahlungen aus liquiden Mitteln vornehmen können. Je größer die Euphorie, und je größer die Gewinne, die realisiert werden können, auf umso riskantere Finanzierungen werden sich die Investoren einlassen – etwa, dass sie von kurzfristigen Krediten zur Bedienung ihrer Verbindlichkeiten abhängig sind. 
Gerade diese Logiken untergraben all das, was an Märkten produktiv ist: was auf Gütermärkten zu effizienter Ressourcenallokation führt, wird auf Anlagemärkten ins absurde Gegenteil verkehrt. Die amerikanische Immobilienblase, die den Finanzcrash von 2008 auslöste, ist dafür ein schönes Exempel. Hunderte, tausende Milliarden Dollar, die kleine Sparer oder große Vermögende weltweit auf der hohen kannte hatten, wurden in völlig irrwitzig überbewertete Immobilien gesteckt, bis noch im hintersten Sumpfland von Florida Villen mit goldenen Türgriffen gebaut waren, die niemand brauchte – eine derartige Fehlallokation von Kapital müsste noch den unfähigsten sowjetischen Wirtschaftsplaner aus KPdSU-Zeiten vor Neid erblassen lassen. 
Aber es kommt noch dicker: Was auf normalen Märkten zu Korrekturen führt, endet auf Finanzmärkten schnell in einem Kollaps. Denn was passiert, wenn die Euphorie zu Ende geht? Dann können schnell mehr Leute ein Wertpapier zu verkaufen versuchen, als es Käufer gibt – entweder, weil sie vom Kursverlust des Papiers überzeugt sind oder weil sie Liquidität zur Bedienung ihrer Schulden benötigen. In solch einer Situation kann auch ein durchaus wertvolles Wertpapier in den Keller rasseln. Und zwar aus folgendem sehr einfachen Grund: Finanzmarktakteure (Banken, Fonds, oder auch nur Einzelpersonen) müssen Papiere abstoßen, weil ihre Schulden plötzlich ihr Vermögen (das ja immer nur Buchvermögen ist) übersteigen und sie Kohle brauchen. Tun das viele gleichzeitig, fallen die Papiere noch mehr im Wert. Dadurch verringert sich das Buchvermögen der Akteure wiederum – und so weiter, bis sich die Abwärtsspirale ins siebte Untergeschoss gedreht hat. 
Finanzmärkte tend
ieren zu Instabilität – notwendigerweise
Was gestern noch als fetter Vermögenswert in den Büchern stand, wird heute zum „toxischen Papier“. Minsky beschreibt das in der kühlen analytischen Sprache des Ökonomen so: „Diese Einheiten müssen sich dann Geld beschaffen, indem sie neue Schulden aufnehmen oder Vermögenswerte verkaufen. Mittlerweile versuchen sich die Einheiten mit Refinanzierungsschwierigkeiten über Wasser zu halten, indem sie Vermögenswerte verkaufen. In der Folge sinken die Preise der Vermögenswerte, mittels derer versucht wird, Positionen zu schaffen, und die Bedingungen, zu denen der Markt Verbindlichkeiten anbietet, verschlechtern sich.“ Was auf normalen Märkten also zu einer Anpassung des Angebots an die Nachfrage führt, produziert auf Finanzmärkten so viele Rückkopplungsschleifen, dass die nützliche Funktion völlig konterkariert ist. 
Deshalb darf auf Kapital-„Märkten“ das reine Marktprinzip gar nicht gelten und es gilt auch nicht – nicht einmal zu relativ normalen Zeiten. Man kann das leicht illustrieren: Finanzinvestoren kaufen sich Wertpapiere und behandeln sie wie liquide Mittel – das heißt, sie gehen davon aus, dass sie sie ja verkaufen können, wenn sie Geld brauchen. Würde auf Finanzmärkten aber die reine Marktlogik von Kauf und Verkauf gelten, könnten sie sich nie und nimmer darauf verlassen. Würden nur ein paar mehr Leute verkaufen wollen, als kaufen wollen, würden einige Leute ihre Papiere nicht los, sie blieben entweder auf ihnen sitzen und der Preis würde verfallen, mit allen oben beschriebenen Rückkopplungsschleifen – und das wohlgemerkt, auch zu ruhigen Zeiten; alle paar Tage würde das passieren. Deshalb kaufen die Zentralbank oder auch große Privatbanken solche Papiere auf, um ihren Wert zu stabilisieren. Sie greifen also ein, um die Wirkung von Marktkräften zu verhindern. Sie sorgen für „Liquidität“, wie das in der Fachsprache euphemistisch heißt, also sie stabilisieren das Wertpapier bei einem willkürlich von ihnen festgesetzten Preis. Marktlogik? Freie Preisfindung? Nichts von all dem!
Je „entwickelter“ die Raffinesse unüberblickbarer Finanzinstrumente ist und je verwickelter die Akteure untereinander (jeder gibt jedem Kredit, jeder ist bei jedem verschuldet), umso instabiler ein System. Je höher der Verschuldungsgrad umso anfälliger ist es für Paniken und Zusammenbrüche. Je erfolgreicher ein System eine zeitlang funktioniert, desto höher werden die Risiken sein, die Akteure einzugehen gewillt sind, weil sie sich mental darauf verlassen, dass das schon so weiter geht. Ja, so paradox geht es auf diesem seltsamen „Markt“ zu, dass, wie Minsky so schön formulierte, sogar „Stabilität Instabilität produziert“.  
Wenn man das einmal verstanden hat, dann ist auch klar, dass es keine „externen Schocks“ braucht oder marktferne Wirkkräfte, um Finanzsysteme zum kollabieren zu bringen, es ist ihr normales Funktionieren, das ihre Fragilität erhöht – wobei „normal“ in dem Fall heißt, wenn man „Marktkräfte“ wirken lässt. Also auch das Argument, dass das Wirken von Marktkräften im Finanzsystem zu Stabilität und Gleichgewicht führen würde, ist falsch. Finanzmärkte funktionieren eben nicht wie Märkte, jedenfalls nicht wie die „normalen“ Märkte, die hinter dem Bild, der Metaphorik von der „Marktwirtschaft“ stehen. 
Vielleicht ist also in den Debatten zwischen Links und Rechts nicht zuletzt auch die Metaphorik schief: Es geht dabei womöglich nicht sosehr darum, dass die einen Märkten eher skeptisch gegenüber stehen, die anderen an deren heilsame Wirkungen glauben. Vielleicht ist es viel simpler: Manche ökonomische Sphären sind Märkte, andere sind keine und können gar keine sein. Das gilt für den Arbeitsmarkt, aber auch für das Gesundheitswesen (hier setzt „mehr Markt“ sogar fatal falsche Anreize), und eben für Kapitalmärkte. 
Es ist eben auch in der Ökonomie, in der angeblich die „harten Fakten“ zählen, so, dass uns die Sprache manchmal auf die falsche Fährte setzt. 
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