American Diaries 3: Obama – Zu fein, um ein Kämpfer zu sein

Warum sind eigentlich all die Linken so enttäuscht von Barack Obama? Der Präsident wird wohl knapp wiedergewählt – auch dank Hurricane „Sandy“.   
Zappenduster ist es noch immer im Village, in Soho, im Süden von Manhattan. Pittoresk, wenn man nächtens durch diese Gegenden fährt: Keine Straßenbeleuchtung, keine Lichter in den Wohnungen, keine Ampeln. Nur die Scheinwerfer der Autos und hin und wieder ein Passant mit einer Taschenlampe in der Hand. Seit vier Tagen ist jetzt dieser Teil von Manhattan in Dunkel gelegt, das kulturelle Herz der Stadt: jene Gegend, in der vor fünfzig Jahren die Künstler und Folksänger einzogen, wo Bob Dylan seine ersten Gigs hatte, oder jenes Viertel, in dem David Bowie ein paar Häuser neben Robert de Niro wohnt; dieses PattiSmithLouReedAndyWarholundCo-New-York; das Manhattan, das nicht von Wolkenkratzern dominiert wird, sondern von den fünfstöckigen Backsteinhäusern mit Feuertreppe, wie man sie aus den Woody-Allen-Filmen kennt. Dieser Teil der Stadt ist immer noch buchstäblich abgeschaltet. Dark Manhattan. 
Und zwei Tage ist so etwas ein bisschen ein Abenteuer, aber längst ist das alles mehr als nur unbequem. Kein Strom, kein Telefon, Internet schon gar nicht, aber auch kein Wasser, weil die Pumpen nicht funktionieren. Kochen können die Bewohner dieser Viertel nicht, aber essen gehen ist auch keine gute Alternative, weil ja die Bars und Cafes im Viertel keinen Strom haben und daher nicht einmal einen Kaffee aufbrühen können. Zwar wird die Stadt manchen Problemen langsam Herr, dafür bekommt sie ein paar neue: Da die Subway nur auf wenigen Streckenzügen fährt, sind Busse, Taxis und Privatautos die einzigen Fortbewegungsmittel, aber langsam geht der Stadt auch das Benzin aus. „Sorry, No Gas“, klebt auf den meisten Zapfsäulen, und vor den paar Tankstellen, die noch Treibstoff haben, bilden sich meilenweite Autoschlangen. 

New York, die anderen, besonders vom Hurrican „Sandy“ betroffenen Bundesstaaten und Regionen – etwa das besonders getroffene New Jersey -, aber letztlich das ganze Land, steht immer noch völlig im Bann dieses Hurricanes, und das gerade einmal vier Tage vor dem großen Wahltag, an dem nicht nur der Präsident, sondern auch Teile des Kongresses neu gewählt werden. 
Manhattan ist zweigeteilt, in Dark Manhattan und Light Manhattan. Und wenn man vom abgeschalteten Soho einen zweistündigen Fußmarsch in die Upper West Side macht, dann kommt man in eine Gegend, in der das Leben weitgehend normal ist. Hier wohnt, direkt am Riverside Drive, Benjamin Barber. Der 73jährige ist eine große Nummer unter den linksliberalen Bestsellerautoren und Politik-Consultern der USA. Er hat schon Bill Clinton beraten, war Zentralfigur des linken Think-Tanks „Demos“ und forscht jetzt an der New Yorker City University. 
„Schau“, sagt er, und zeigt aus seinem Fenster, „da drüben ist New Jersey. Siehst Du die Zerstörungen? Normalerweise ist dort um diese Zeit schon alles erleuchtet. Aber jetzt ist alles dunkel.“ Später dann, als er den Kaffee übergießt, leitet er dann über vom Hurricane zu dem wohl noch wichtigeren Thema: „Das einzig Gute an diesem Hurricane ist, dass er Obama die Präsidentschaft gerettet hat. Vor einer Woche hatte ich ernste Zweifel, es stand wirklich Fünfzig-Fünfzig, aber jetzt bin ich sicher, dass er gewinnen wird. Sogar der Gouverneur von New Jersey, einer der größten Romney-Unterstützer, hat Obama plötzlich für sein Krisenmanagment in den Himmel gelobt. Obama ist jetzt nicht mehr der lausige Wahlkämpfer der vergangenen Wochen, sondern der Präsident, der eben wie ein Präsident agiert. Er ist der zentrale Krisenmanager. Und Romney kommt überhaupt nicht mehr vor.“
Barber muss nicht dazusagen, dass ihn das sehr erleichtert; dass es eine grauenvolle Vorstellung für ihn ist, dass Mitt Romney die Wahl gewinnen könnte, denn wenn der Kandidat selbst in Wirklichkeit zwar ein moderater Konservativer sein mag, so befindet er sich praktisch in Geiselhaft der Ultrarechten, die die Republikaner übernommen haben und der Tea-Party-Bewegung. 
Dabei ist Barber alles andere als ein Fan von Obama. Schon vor vier Jahren hat er Hillary Clinton in den Vorwahlen unterstützt, weil er Obama für zu unerfahren und für zu durchsetzungsschwach und für einen nicht wirklich überzeugten Progressiven gehalten hat. „Und, habe ich nicht recht behalten?“ fragt er jetzt. 
Klar, von der „Obamania“, die vor vier Jahren alle packte wie ein Fieber, ist nicht viel übrig geblieben. Obama wird von den Konservativen förmlich gehasst, aber auch seine eigenen Unterstützer sind ihm von der Stange gegangen. „Es gibt heute keinen Enthusiasmus mehr für Obama, aber dafür viel Enthusiasmus gegen ihn. Und das ist ein großes Problem“, sagt Barber, und beißt dabei in eine der Süßigkeiten, die er eigentlich für die Kinder des Viertels vorbereitet hat – denn es ist gerade der Halloween-Abend angebrochen. 
Obama wird diese Wahl dennoch mit fast schon an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewinnen. Zwar werden in den republikanischen Hochburgen überwältigende Mehrheiten für Romney stimmen. Aber in den demokratischen Hochburgen wird es immer noch ausreichende Mehrheit für Obama geben. Und in den entscheidenden, umkämpften „Battleground“-Staaten wird der Präsident wohl die Nase vorne haben. Kaum denkbar, dass er in Ohio etwa nicht gewinnt. Aber es hat praktisch noch nie ein Republikaner die Wahlen gewonnen, wenn er Ohio nicht gewonnen hat. Und auch in Florida schwimmen Romney die Felle davon. Dass jetzt sogar New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg Obamas Wiederwahl empfohlen hat, ist hier nur mehr eine Draufgabe. 
Obama hat die Mathematik auf seiner Seite. Er wird wohl die Mehrheit der Wahlmänner auf sich vereinigen können, selbst dann, wenn er nicht die Mehrheit der Wählerstimmen – also das „Popular Vote“ gewinnen kann. Das etwas skurrile Wahlsystem der USA macht das möglich. Die Frage, wer die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, ist zwar interessant, aber bedeutungslos. Entscheidend ist, wer die meisten Wahlmännerstimmen erhält, die von den – gewonnenen – Bundesstaaten entsandt werden. 
Obamas Wahlkampagne wird auch diesmal wieder aus seiner Heimatstadt Chicago orchestriert. An den Wänden hängen detaillierte Pläne der einzelnen „Battleground“-Staaten. Auf die konzentriert sich die gesamte Wahlkampfführung. Kein Kandidat würde teure TV-Spots in Bundesstaaten schalten, die er ohnehin in der Tasche hat – oder die er nicht gewinnen kann. Aber in den umkämpften Staaten treten sich die Wahlhelfer und Aktivisten auf die Zehen, hier wird eine Hunderte-Millionen-Schlacht inszeniert. Die Maschine schnurrt. Nur, die jungen, enthusiastischen Unterstützer mit den glühenden Augen hat Obama verloren. 
Die sind von ihm enttäuscht, vielleicht auch, weil sie sich von ihm Wundertaten erhofft haben. Aber auch, weil er ihnen einfach zu zaghaft war, und weil er mit dem Kriegführen nicht vollends Schluss gemacht hat, auch wenn die USA aus dem Irak abgezogen sind. Und weil er bei der Gesundheitsreform der Pharmalobby zu sehr entgegen gekommen ist. Und weil er kaum ein bisschen Umverteilung von den Reichen nach Unten zuwege gebracht hat. Weil die Wall Street wieder fest im Sattel sitzt. Und wegen noch 15 anderen Gründen. 
Und all das ist natürlich nicht unrichtig, aber auch ein bisschen ungerecht. Denn wenn man die Umstände in Rechnung stellt, war Obamas erste Amtszeit keine erfolglose Präsidentschaft. Er erbte von seinem Vorgänger eine fatale Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, und verabschiedete, kaum im Amt, ein 787-Milliarden-Dollar-Konjunkturpaket. Ökonomen wie Paul Krugman oder Joseph Stiglitz kritisierten dieses Paket zwar als viel zu klein, aber es war doch groß genug, einen Totalabsturz der Ökonomie zu verhindern. Die Arbeitslosenrate liegt zwar bei acht Prozent, aber sie wäre ohne diese Maßnahmen noch viel höher gelegen. Bloß, für die Katastrophen, die man verhindert hat, bekommt man als Politiker selten viel Lob. Auch weiter kann sich die Bilanz sehen lassen: Obama bekam eine Finanzmarktreform – den „Dodd-Frank-Act“ – durch, die zumindest einmal die schlimmsten Auswüchse der Räuberei verhindern soll und die Gesundheitsreform, die 50 Millionen bisher unversicherten Amerikanern eine Gesundheitsversorgung garantiert. Klar: Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress musste er bei all diesen Reformen böse Kompromisse hinnehmen und windige Geschäfte mit seinen Gegnern abschließen. Und ein paar taktische Fehler hat er sicher auch gemacht.
Von seiner idealistischen progressiven Basis gab es dafür heftige Kritik an Obama. Aber Obamas Leute kontern: Mit Idealismus und Prinzipientreue bekommt man solche Reformen nicht durch – weshalb ja auch fünfzig Jahre lang kein demokratischer Präsident eine Gesundheitsreform zuwege brachte. Der große Lyndon B. Johnson war schon an diesem Eckstein des Sozialsystems gescheitert, und auch Bill Clinton hat es nicht hingekriegt. 
Obamas Bilanz ist also vielleicht nicht blendend, aber sie kann sich sehen lassen. Doch womöglich hat diese Ernüchterung, die überall zu spüren ist, ohnehin andere Gründe. Eigentlich weiß man auch nach vier Jahren Obama-Präsidentschaft nicht so recht, wer dieser Mann überhaupt ist. Was er wirklich denkt. Wie er tickt. Ihn leiten zwei politische Grundphilosophien – man kann aber auch „Instinkte“ dazu sagen -, die sich immer wieder im Weg stehen. Einerseits ist er ein Progressiver, der all die sozialen Reformen will, das Ende der Umverteilung von Unten nach Oben, für die auch seine Anhänger brennen. Andererseits ist er ein Moderierer, ein Zentrist, der im Grunde seine
s Herzens den Konflikt scheut – der sich nach Versöhnung und Kompromissen sehnt in diesem politisch so brutal polarisierten Amerika. Aber für Kompromisse braucht man Partner. Und die gibt es bei den Republikanern praktisch nicht mehr. Oder man muss seine Seele verkaufen, um Detailkompromisse hinzubekommen. Und vielleicht ist all das auch ein wenig eine Charakterfrage: Wahrscheinlich ist Obama zu fein, um ein Kämpfer zu sein. Und womöglich hat er das Gefühl, dass er als erster schwarzer Präsident Zumutung genug ist für das traditionelle, konservative Amerika und damit instinktiv dazu tendiert, eher überparteilich zu agieren.
Bloß: Kompromisse verzeiht, wie überall auf der Welt, auch das liberale, das linke Amerika nicht. Mehr noch: Wenn jemand, auf den man alle Hoffnungen konzentriert, ein paar solcher Detailkompromisse macht, ein wenig „scheitert“ an der Wirklichkeit, dann wird der Stab über ihn gebrochen. Dann ist er die Enttäuschung, die man erwartet hat. Dann hat man es ohnehin schon immer gewusst. Das ist die dummlinke Seite dieser Medaille. Deshalb, schreibt Michael Kazin im Intellektuellen-Magazin „Dissent“, wäre das „Scheitern“ von Obama, das viele seiner einstigen Bewunderer beklagen, „ein Scheitern, an dem die Linken mitverantwortlich sind“. Jeder Präsident, der wichtige fortschrittliche Gesetze verabschiedet hat, habe nämlich „von Denkern, Ehrenamtlichen, Strategen, Aktivisten und Graswurzelrebellen profitiert, die die Stimmung erzeugt haben, die dafür nötig war“. Aber heutzutage zieht man sich zurück, wenn man nur ein bisschen enttäuscht ist, gibt alle Schuld dem einen an der Spitze, den man dann zum „Der-ist-keiner-mehr-von-uns“ erklärt und erzeugt im Gegenteil eine Stimmung, in der der Eine an der Spitze auf sich allein gestellt bleibt. 
Ich habe Dark Manhattan und Light Manhattan mittlerweile hinter mir gelassen. Mit einem der ersten Flugzeuge, die den wiedereröffneten New Yorker Flughafen LaGuardia verlassen konnten, bin ich über Umwege erst nach Atlanta in Georgia und dann nach New Orleans in Louisiana. Also hinein ins tiefe, südliche Amerika. Hier sehen die Menschen schon anders aus als im hippen Brooklyn oder in Manhattan, wo jede zweite Frau wie ein Model aussieht und jeder zweite Typ wie der hippe Frontman einer Indie-Pop-Band. Und ich erinnere mich daran, was mein Freund Tony vor ein paar Tagen zu mir gesagt hat: Die linken Kritiker von Obama glauben, dass man, wenn man den Präsidenten stellt, hundert Prozent seiner Agenda durchsetzen kann, ohne die Widerstände zu bedenken, und ohne zu bedenken, dass es einen stummen Groll gibt, den man zumindest in Rechnung stellen muss. Ich gehe am Mississippi entlang, dieses riesige Wasserband, das die Eroberung von Amerikas Westen erst ermöglicht hat, blicke in die Gesichter der Leute und denke an eine Zahl, die mir in den vergangenen Tagen immer wieder in den Kopf kam. Nimmt man alle Wähler zusammen, liegen Obama und Romney bei jeweils knapp 48 Prozent Kopf-an-Kopf. Aber nur, weil Obama praktisch alle Minderheiten auf seiner Seite hat. 
In der Gruppe der weißen Männer liegt Romney bei 65 Prozent, Obama bei 32 Prozent.   

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