Verdrossen am Verdruss

Nehmt das, Wutbürger! Warum das verallgemeinerte Gekäppel und die Häme über Politiker die Luft nicht besser macht. Datum, Juni 2013 
Folgender Text ist auch ein kleiner Ausschnitt aus meinem Buch „Ist unsere Politik noch zu retten?“, das im August im Picus-Verlag erscheint. 

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Der Kopfschüttelmodus, der Ärger und Zorn, das Missbehagen und auch die leise Verachtung – das ist der Modus, in dem wir der Politik heute gegenübertreten. Und dann reden wir vom Verdruss über die Politik, und tun so, als wäre das der Verdruss der anderen; als wäre der Verdruss etwas, was sich nur auf bestimmte Teile der Bevölkerung erstreckt. Auf die Jungen etwa, die lieber Party machen, als sich mit Politik zu beschäftigen; oder auf die deklassierten „Modernisierungsverlierer“, mit ihrem Zorn auf die Politiker, aus dem heraus sie dann andere Politiker wählen, um die Politiker zu ärgern. Aber ist irgendjemand eigentlich nicht verdrossen? Nun, vielleicht ist gerade das das Problem. Gewiss kann man meinen, der Verdruss ist höchst berechtigt – und wie kann denn etwas, was berechtigt ist, ein Problem sein? Aber der Verdruss, so berechtigt er sein mag, so sehr er eine Reaktion auf eine Problemlage ist (nämlich den Zustand der Politik), ist selbst auch schon wieder ein Problem geworden. Und wir alle sind Teil dieses Problems. 
Wie hat das eigentlich angefangen, diese übel gelaunte Abkehr von der parteiförmigen Politik, der „Politik-Politik“, mit ihren Spielen, Ritualen, Machtkämpfen, Parteilichkeiten? 

Der Zufall will es, dass gerade dieser Tage ein Buch mit nachgelassenen Schriften des französischen Soziologen Pierre Bourdieu erschienen ist, das den simplen Titel trägt „Politik“. Und gleich zu Beginn heißt es in einem Text aus dem Jahr 1988: 
„Wir werden von Politik überflutet. Wir schwimmen im unentwegten und wechselhaften Strom des täglichen Geschwätzes über die vergleichbaren Chancen und Verdienste von austauschbaren Kandidaten. … Die Äußerungen zur Politik sind, wie das leere Gerede über gutes oder schlechtes Wetter, im Grunde flüchtig.“
Damals, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre begann etwas, was Bourdieu schon 1988 wie selbstverständlich zu diesem Urteil kommen ließ. Aber was hat sich da, zunächst allmählich und beinahe unmerklich verändert. Das politische Feld begann sich selbst abzukapseln. Parteiführungen, Mandatare, wurden zu Spezialisten. Es etablierte sich ein politisches Feld mit seinen eigenen Spielregeln, mit seinen „Experten“ und „Professionellen“. Die Mitglieder in den Parteien verloren an Bedeutung, Bürgerinnen und Bürger sahen sich zu passiven Wählern reduziert, die gelegentlich ihre Stimme abgeben, aber dazwischen sind die Spezialisten und Experten für das Politische am Zug. Je mehr sich das politische Feld professionalisiert und abkapselt, umso mehr haben die Professionellen die Tendenz, auf die Laien herabzusehen. Bloß ist die Trennung zwischen „Eingeweihten“ und „Laien“ keine vollständige. Anders als andere Spezialisten sind die Spezialisten der Politik ständig auf ihre Klientel bezogen, sie brauchen die Laien, und sei es nur, um gelegentlich von ihnen gewählt zu werden. Viel mehr aber sind die Professionellen aufeinander bezogen, auf die Mitspieler im politischen Spiel. Es entwickelt sich ein bestimmter Habitus, ein Rollenmodell, wie ein Politiker oder eine Politikerin auszusehen habe, und ein Jargon, der die Sprache in diesem Feld wird. Bei aller Rivalität bilden die Berufspolitiker der unterschiedlichen Parteien doch die Gemeinschaft der Berufspolitiker, was, wie Bourdieu schön formuliert, bei den Laien, den Bürgern also, den Argwohn nährt, dass eine Art grundsätzliche Komplizenschaft die Leute, die bei dem Spiel mitspielen, das man Politik nennt, miteinander verbindet, vor jeder Meinungsverschiedenheit. 
Und all das geschieht in einem Moment, in dem noch ein paar andere Dinge geschehen: Die Zeit der großen Wachstumsraten ist vorbei, und Wohlstandszuwachs ist bekanntlich eine wichtige Quelle von Legitimität von Politikern; grundsätzliche programmatische Antagonismen schleifen sich ab. Es entsteht auch eine Entertainmentkultur in der poltischen Medienberichterstattung. 
Parteiapparate entwickeln ein Eigenleben. Eine innere Kultur. In ihnen kommt nur hoch, wer hineinpasst. Ein Politikertypus setzt sich durch, der dann natürlich jene eher anzieht, die zu ihm passen – also jene, die ihm „ähnlich“ sind -, und schreckt „unähnliche“ sowieso schon ab, er muss sie gar nicht mehr aggressiv abwehren. Menschen umgeben sich nun einmal lieber mit Menschen, die ihnen ähnlich sind. Das ist ein ganz normales, menschliches Verhalten – aber es hat eben auch politische Effekte. 
Demgegenüber wächst seit den achtziger Jahren ein Verdruss in seinen unterschiedlichen Betriebsformen. Erst wird Indifferenz attestiert – sinkende Wahlbeteiligungen. Dann der Aufstieg diverser Populismen. Hinterher ein sich verallgemeinerndes „Wutbürgertum“. 
Die Realität zeigt, dass es durchaus verschiedene Aggregatszustände dieses Frustes gibt. Da gibt es jene, die der Parteienordnung zunehmend reserviert gegenüber stehen, die sich selbst etwa so charakterisieren würden: Die Politik ist geprägt von überholter Parteilichkeit, nichts als Gezänk, kleinliche Streitereien um Vorteile im politischen Spiel. Die Kritik an den politischen Parteien lautet aus dieser Perspektive so, dass sie selbst einfachste praktische Lösungen für Probleme nicht mehr zu finden imstande sind, weil es den Parteien nur um taktische Vorteile geht und sie sich gegenseitig blockieren. Jene, die solchen Deutungen nahestehen, definieren sich selbst gerne als „Jenseits des Parteiensystems“. Es ist vielleicht so etwas wie der Verdruss der bürgerlichen Mitte. 
Dann gibt es den – zweiter Aggregatszustand – unpolitischen Yuppieprotest: Bürger, die den Staat als bürokratisches Monstrum betrachten, der von „den Parteien“ gekapert wurde, um es sich an seinen Futtertrögen gut gehen zu lassen. 
Hinzu kommt – dritter Aggregatszustand – das Milieu der real (oder gefühlt) einheimischen Unterprivilegierten: Sie sind instinktiv der Auffassung, dass sich für sie im Grunde niemand interessiert, dass sie links liegen gelassen werden; dass keiner weiß, wie es ihnen wirklich geht. Über Politiker würden sie sagen: Die leben ja ganz anders. Die leben ja ganz wo anders. Die haben ja gar keine Ahnung, wie es uns geht. Das hat auch wieder mit der milieumäßigen Verengung des politischen Personals in Folge der Professionalisierung zu tun, mit einem politischen Personal, das aus Menschen besteht, die von ihren gesamten Lebensumständen und ihrem personalen Habitus, ihrer Art, sich zu kleiden, zu sprechen und sich zu bewegen, mit diesen Unterprivilegierten nichts mehr zu tun haben. 
Natürlich sind diese Aggregatszustände nicht fein und trennscharf unterschieden. Eher lässt sich sagen, dass bestimmte populistische Vorstellungsreihen in bestimmten Milieus auf fruchtbaren Boden fallen, andere in anderen – und dass sie sich gegenseitig aufschaukeln. Das Ergebnis ist ein allgemeines, nebulöses, waberndes populistisches Klima. 
Die Pointe ist nun: Mag dieser Verdruss als Reaktion auf Entwicklungen im politischen Feld auch berechtigt sein, verstärkt er diese Entwicklungen noch. Parteien, denen alle den Rücken zukehren, werden in ihrer Selbstbezogenheit noch bestärkt. Politik, der die Legitimation entzogen ist, wird eher feiger als mutiger. Insofern produziert der Verdruss ganz objektiv und ganz unabhängig davon, ob einem das gefällt oder nicht, die Probleme längst mit, die er ressentimentbeladen beklagt. 
Sodass es längst genug Gründe gibt, verdrossen am Verdruss zu sein. 
Aber verdrossen sind natürlich immer die Anderen. Ich bin ja nicht verdrossen. Sie sind es ja auch nicht. Wir sind ja ganz  anders. Aber stimmt das überhaupt? Sind wir nicht auch voll gestopft bis Oberkante Unterlippe mit Ressentiments? Sind wir nicht schnell zur Stelle mit unserer Häme gegenüber beinahe allen Politikern? Ist nicht auch diese Häme, dieses kopfschüttelnde „die können es einfach nicht“, Ausdruck eines Verdrusses?
Nehmen wir, nur als Beispiel, die mit viel theoretischem Geklingel vorgetragene linke Aversion gegen „Repräsentation“, dieses Hochhalten basisdemokratischer Verhinderung, dass irgendjemand nur seinen Kopf zu weit rausstreckt. Reiht sich das nicht ein in dieses Panoptikum? 
Aus dieser Perspektive wird der Feld der Politik-Politik links liegen gelassen, und die Hoffnung wird auf die sich stets und täglich neu und spontan organisierende Vielheit gelegt – von Occupy Wall Street bis zur Audimax-Bewegung. Aber verweigert sich dieses Against Representation nicht der Frage, ob nicht gerade des völlig ergebnislose Versanden von Bewegungen wie Occupy Wall Street auch in ihrer Abneigung begründet ist, tragfähige Organisationen mit einem Mindestmaß an Repräsentation, Arbeitsteilung und, ja, sagen wir das böse Wort, auch Anführern zu etablieren, die ihre Anliegen in eine breite Öffentlichkeit kommunizieren können und die den langen Atem haben, den man braucht, wenn man dicke Bretter bohren will? Le Monde Diplomatique hat diese Frage (oder ist es bereits eine Antwort?) unlängst so formuliert: „Waru
m ist sie (die Occupy Wall Street Bewegung) gescheitert und hat alle zunächst so hoffnungsfrohen Erwartungen krass enttäuscht? Warum versinken selbst die populärsten Aktionen der Linken früher oder später in einem Gebräu aus akademischer Rhetorik und sinnloser antihierarchischer, antietatistischer Kraftmeierei?“
Die Unfähigkeit von Parteien und Regierungen sowie die Unfähigkeit von Bewegungen, NGOs und Aktivisten, gemeinsam mit Realismus, Elan und langem Atem Ziele zu verfolgen, sind korrespondierende Aspekte eines einzigen Problemzusammenhanges. Wer ernsthaft glaubt, das bunte Gewurle von Bewegungen, die heute entstehen und morgen verpuffen, wäre auch nur annähernd die Kraft, die eine völlig andere Konfiguration herbeiführt, muss sich fragen lassen: Wie, bitte schön, heißt der Planet, auf dem Du lebst. 
Oder noch einmal anders gesagt: Ist, während sich auf der eher rechten Seite ein antipolitischer Populismus breitmacht, auf der Linken nicht ein Zynismus endemisch geworden, der von seiner Verwandtschaft mit ersterem bloß nichts wissen will? 
Und wie begründet das allgemeine Misstrauen auch sein mag – stellt es nicht längst auch die Funktionstüchtigkeit unseren Demokratien in Frage? 
„In Mistrust we Trust“ – „Ins Misstrauen vertrauen wir“ – hat der bulgarische Theoretiker Ivan Krastev einen klugen kleinen Essay genannt. Er hat darin die Frage aufgeworfen: Kann die Demokratie ohne Vertrauen überleben? Nun ist Misstrauen natürlich eine gute Sache. Misstrauen in Politiker ist in Demokratien nicht nur berechtigt, die Demokratie ist ja gerade die beste Regierungsform, dieses Misstrauen zu managen. Denn sie ist transparent, Missstände werden aufgedeckt, und in Form von Wahlen (die meist ja „Abwahlen“ sind), werden Konsequenzen gezogen. Ihre Stärke ist eben gerade ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Aber wenn das Misstrauen endemisch und verallgemeinert wird, wenn allen Parteien misstraut wird, niemand mehr sich in Parteien engagieren will, Stimmverhalten nur mehr darauf abzielt, es denen zu zeigen, zerstört das dann nicht eben gerade diese Kapazität von Demokratien zur Selbstkorrektur? 
Krastev äußert den Verdacht, dass das so sein könnte. 
Selbst die heute so populäre – und gewiss sinnvolle Forderung – nach Partizipation und direkter Demokratie steht, recht besehen, in diesem Zusammenhang: Sie ist ja nicht nur getragen vom Wunsch der Bürger, heute mehr mitzureden, sondern von der Überzeugung, dass bessere Entscheidungen getroffen würden, würde die Entscheidungen den unfähigen Politikern abgenommen, oder dass bessere Politiker hochkämen, wären die Bürger direkter in die Personalauswahl eingebunden. Kurzum, dahinter steht die Idee, wie das der Architekturtheoretiker Markus Miessen in seinem Büchlein „Albtraum Partizipation“ formuliert, „jeder Depp soll immer überall mitmachen“, und die Entscheidungen, die auf diese Weise herbeigeführt werden, wären noch bessere Entscheidungen, als wenn man sie den Spezialisten und den Experten überließe. 
Gewiss, Parteien sind träge Apparate, aus nicht wenigen ist alles Leben verschwunden. Viele Politiker sind unfähig, feige und phantasielos. Aber es gibt objektive Faktoren, die sich nicht einfach auf das Unvermögen der Akteure reduzieren lassen. Die Heterogenität unserer Gesellschaften macht es schwierig, soziale Milieus zu „repräsentieren“. Da kaum eine Partei mehr als 30 Prozent der Stimmen erlangt und angesichts des Mehrebenen-Systems in Europa mit EU, Nationalstaaten und Regionen, steht jedem, der etwas bewegen will, ein anderer gegenüber, der entschlossen ist, es zu blockieren. Weil alles allenfalls nur sehr langsam geht, sind Bürger und Bürgerinnen (und sogar die Parteibasis der einzelnen Politiker), schon vorauseilend sicher, enttäuscht zu werden. An einem Strang zu ziehen mit Leuten, mit denen man in manchem einig, in anderen Dingen uneinig ist – auf diese Idee käme das nörgelnde Wutbürgerbewußtsein nicht einmal. Bloß braucht man sich dann nicht wundern, wenn ein paar Minister, auf sich allein gestellt, nichts zuwege bringen. Wobei, das nörgelnde Wutbürgerbewußtsein wundert sich ohnehin nicht darüber. Es hat ja nichts anderes erwartet. Und kann sich daher glücklich bestätigt fühlen. Oder zumindest in seiner Unglücklichkeit bestätigt fühlen. 
In seiner Gewissheit: Die können es nicht. Aber wie sollen sie es eigentlich können, angesichts von beschränkter Handlungsfähigkeit, Blockaden, medialer Verdummung und Bürgern, die für nicht mehr zu haben sind, als von der Seitenoutlinie ins Feld zu keppeln? 
Der Verdruss war irgendwann eine Reaktion auf eine Problematik, aber er ist längst auch zu einer Ursache dieser Problematik geworden. Er mag gute Gründe haben, aber er macht die Luft nicht besser. 
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