Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst

Ist die europäische Sozialdemokratie von Angst und Kleinmut zerfressen? Eine beunruhigende Frage, gestellt für die aktuelle Ausgabe von „Die Zukunft“, die Diskussionzeitschrift der SPÖ. 
„Zeit für eine neue Sozialdemokratie“, so hat Wolfgang Münchau, der prominenteste und beste Wirtschaftsjournalist Deutschlands, unlängst seine Kolumne in Spiegel-Online überschrieben. Es ist beinahe so etwas wie ein verzweifelter Text. 
In Europa wird unter konservativer Federführung seit mehr als vier Jahren eine Politik gemacht, die mit rigidem Sparen versucht, Staatshaushalte zu konsolidieren. Das Ergebnis ist eine schwere Depression in den Krisenstaaten, eine Rezession in den reicheren Staaten. Die Arbeitslosenzahlen schießen durch die Decke – selbst hierzulande, was aber mit einem Achselzucken abgetan wird. Nach österreichischer Berechnungsmethode liegt unsere heimische Quote bereits bei 7,7 Prozent, aber da wir damit im europäischen Durchschnitt sehr gut liegen, sieht man eine solche Ziffer nicht mehr als Drama, sondern sogar schon als Erfolg an. 
Und das Ergebnis dieser rigiden Sparpolitik, die die Südstaaten in eine Katastrophe und den Norden in eine Rezession stürzt, ist, dass die Staatsschulden auch nicht sinken. Weil es einfach ein Ding der Unmöglichkeit ist, Staatsschulden abzubauen, wenn man die wirtschaftliche Aktivität als ganzes abwürgt. 
All das, sagt Münchau, ist zu erwarten gewesen. 
Europa macht die Fehler der 30er Jahre noch einmal, als hätte man nichts gelernt; als hätte man alles, was man an Erfahrung gemacht hat, vergessen. 

Das vielleicht Bizarrste an all dem ist, dass man es mit dem schönen Argument aufhübscht, man würde es für die Enkel tut, weil man den Enkeln doch keine Schulden hinterlassen darf, weil es doch egozentrisch wäre, Budgetdefizite auflaufen zu lassen, die dann die Enkel bezahlen müssen. 
Dabei hat noch niemand und nichts so großen Schaden für künftige Generationen angerichtet wie diese falsche Politik. Denn die jungen Leute, die heute keine Jobs finden – man denke nur an die 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland -, holen das nie wieder auf. Was jetzt an Reichtum vernichtet und an Wohlstandspotential vernichtet wird, kann nie wieder aufgeholt werden, und die verdüsterten ökonomischen Aussichten, die diese Politik produziert, hinterlassen wir auch noch unseren Enkeln. Kurzum, eine Politik, die dauernd moralinsauer daherschwadroniert, man müsse heute ökonomische Härten in Kauf nehmen, der Enkel wegen, vererbt künftigen Generationen rauchende Ruinen. 
Er sei keineswegs überrascht, schreibt Münchau also, dass Konservative und Neoliberale eine solche Politik verfolgen, aber was ihn überrascht, „ist die Unfähigkeit der Sozialdemokraten, aus der von konservativer Politik verursachten Depression politisches Kapital zu schlagen. Die Arbeitslosenquote im Euro-Raum liegt jetzt bei zwölf Prozent. Man könnte annehmen, die Sozialdemokraten gingen auf die Barrikaden und rüsteten sich für die politische Machtübernahme. Doch in Wirklichkeit sind sie unfähig, die wirtschaftliche und soziale Katastrophe in ihren Heimatländern zu thematisieren“. 
Münchaus These ist, dass das im wesentlichen daher rührt, dass die Sozialdemokraten heute kein Verständnis für makroökonomische Zusammenhänge haben und an das bisschen, was sie wissen, insgeheim selbst nicht glauben. 
Ein bisschen was mag da schon dran sein, aber ich würde Münchaus Diagnose zumindest ergänzen, oder besser, leise korrigieren wollen: Es ist nicht so sehr Dummheit, sondern Angst. Wobei Angst natürlich auch ein Betriebsmodus von Dummheit sein kann, aber das wäre dann schon Wortklauberei. 
Denn es ist ja nicht so, dass die Sozialdemokraten nicht auch sagen: Ja, man müsse auch an Wachstum denken. Ja, man dürfe nicht kopflos kaputt sparen. Ja, schaut Euch doch die maktroökonomischen Effekte der Austeritätspolitik an. All das sagen sie ja schon. Manche gelegentlich. Manche häufiger. 
Sie sagen es freilich nur sehr leise. Sehr verhalten. In diesem defensiven Habitus, der ihnen gewissermaßen zur zweiten Haut geworden ist. In einer Sprache und Körpersprache, die keinen Menschen davon überzeugt, dass sie vielleicht ein überzeugendes Alternativkonzept haben. Und all das gilt nicht nur für die Sozialdemokraten, sondern im Grunde für die meisten Mitte-Links-Kräfte in Europa. 
Warum aber dieser defensive Habitus, dieser Kleinmut? Ich würde sagen, ein ganz wesentlicher Grund dafür ist Angst. Die Angst, damit bei der Bevölkerung „nicht durchzukommen“; man ist paralysiert vor Furcht, mit einem großen Kurswechsel-Konzept, das auf makroökonomischen Verständnis basiert, würde man sich vom Mainstream – der berühmten „Mitte“ – zu weit entfernen. Was ja nichts anderes heißt: Man traut sich gar nicht zu, diesen Mainstream zu beeinflussen oder gar zu verändern.
Aus Angst, bei den eigenen Wählern damit nicht durchzukommen und möglicherweise sogar bei der eigenen Basis zunächst einmal auf Unverständnis zu stoßen, greift man nicht einmal die größten Dummheiten der Konservativen an – Angela Merkel und Wolfgang Schäuble können die Zypern-Rettungsaktion wie Schulkinder versemmeln und kommen damit durch, weil Sozialdemokraten und Grüne (in diesem Fall in Deutschland) zittern vor Angst. 
Europas Tragödie besteht nicht darin, dass Konservative und Neoliberale eine konservative und neoliberale Politik betreiben. Denn wer würde etwas anderes von ihnen erwarten? Europas Tragödie besteht darin, dass das weitgehend oppositionslos passiert, aus Mangel an Entschiedenheit, Mut und Selbstbewusstsein der vernünftigen Kräfte. Aus Furcht vor der eigenen Courage. Weil diese paralysiert sind aus Furcht und Kleinmut. Kurzum: Wie so oft setzt sich der größte Blödsinn nicht wegen der Macht der Blödsinnigen durch, sondern wegen der Angst und dem Kleinmut derer, die es eigentlich besser wissen – oder besser wissen sollten. 
Vielleicht sollte uns das überhaupt Anlass sein, über die Bedeutung der Angst in der Politik nachzudenken. Womöglich haben ja die meisten Probleme, vor denen wir heute stehen, ihre Ursache darin, dass irgendjemand Angst hat. Genauer: Ich bin der festen Überzeugung, dass es so ist. Dass Leute nicht tun, was eigentlich getan werden müsste. Dass Politiker wichtige Schritte nicht tun, aus Angst, sie könnten stolpern. 
Man sieht es doch an allen Ecken und Enden. Die Bürger und Bürgerinnen können das aseptische Soundbite-Gerede im Fernsehen, diese inhaltsleeren 50-Sekunden-Waschmittelslogans von Politikern nicht mehr hören. Aber warum reden die eigentlich so? Sie sprechen natürlich deshalb auswendig gelernte Satzgirlanden in die Kamera, weil sie Angst haben, sie könnten einen Fehler machen, wenn sie normal reden. Aus Angst, sie könnten dann einen provokanten Halbsatz sagen, der ihnen später um die Ohren gehauen wird. Oder warum haben eigentlich überall in Europa die Spindoktoren die Kommunikationsstrategie von Mitte-Links-Parteien gekapert, mit dem Ergebnis, dass sich eine Sprache vereinheitlicht hat, die die Bürger nicht mehr hören können? Weil man zur Überzeugung gelangte, man müsse die Botschaft kontrollieren. „Message Control“, heißt das in der Fachsprache. Aber das heißt ja umgekehrt, dass man furchtbare Angst davor hat, die Botschaft könnte „unkontrolliert“ werden, wenn jeder Politiker und jede Ministerin einfach so daher redet. Aber genau diese Angst führte zur Etablierung einer Sprache, die überhaupt niemanden mehr von irgend etwas überzeugen kann. 
Oder ein anderes, aber nicht ganz unverwandtes Exempel: Warum ist eigentlich Werner Faymann vergangenen Herbst nicht in diesen U-Ausschuss gegangen? Natürlich aus Angst. Aus Angst, er könnte dort gegrillt werden, als Kanzler schlechte Figur machen, sich sogar verplappern und dann wegen Falschaussage angezeigt werden. Alles durchaus verständliche Überlegungen. Aber mit der Angst vor diesen möglichen Problemen hat er sich ein viel größeres Problem eingehandelt: Nämlich, dass die SPÖ als eine Partei dastand, die ebenso viel zu vertuschen hat wie ÖVP und FPÖ. Angesichts der Diebe auf der anderen Seite ist das schon eine eindrucksvolle strategische Meisterleistung. Und was war, noch mal, die Ursache? Eben: Angst!
Ich könnte jetzt ewig weitere Beispiele anführen. Die meisten unserer Probleme haben ihre Ursache also darin, dass irgendjemand Angst hat. Aber wie will man eigentlich unser Gemeinwesen auf eine bessere Spur bringen, wenn man dauernd aus Angst und Kleinmut viel zu kurz tritt und das Kämpferherz, ja, das ist in die Hose gerutscht? Was hätten die Altvorderen, auf die man zu Jubiläumstagen immer so stolz ist, eigentlich erreicht, wenn sie dauernd von Furcht gepeinigt und paralysiert gewesen wären? 
Die Furcht zu irren ist schon der Irrtum selbst, hat der Philosoph Hegel formuliert. Oder, um das mit dem legendären Satz des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu sagen: „Wir haben nichts zu fürchten als die Furch selbst.“  
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