Gepriesen sei die Doppelmoral

Regelmäßig kommt der Vorwurf, irgendjemand würde mit „zweierlei Maß“ messen. Die Frage ist nur: Was ist so schlecht daran?  Wiener Zeitung, 2. August 2014
Da ist sie wieder: Die Formel, dieser oder jener würde mit „doppelten Standards“ messen. Jetzt natürlich im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt, aber es ist auch bei sonstigen Anlässen gerne zu hören: der Vorwurf, ungerecht, nicht mit gleichem Maße zu urteilen. Im aktuellen Fall geht der Vorwurf so: Wer Israel Menschenrechtsverletzungen vorwirft, muss das entweder bei jeder Menschenrechtsverletzung machen oder schweigen. Oder: Wer das Vorgehen der israelischen Regierung als verständlich, aber doch unverhältnismäßig kritisiert, der müsse bei jedem Vorgehen, das unverhältnismäßig ist, sein Wort erheben – oder schweigen. 
Und natürlich hat dieses Argument etwas für sich: Es ist oft heuchlerisch, mit doppelten Standards zu messen. 
Wer etwa unsägliche ausländerfeindliche Parolen der FPÖ verdammt, aber aus – beispielsweise – Parteiräson oder Loyalität „den eigenen Leuten“ gegenüber viel schweigsamer ist, wenn Ähnliches etwa aus der SPÖ kommt, der hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. 
Die Frage ist aber dennoch: Gibt es nicht auch gute Gründe, mit doppelten Standards zu messen? Ist es nicht sogar ehrenvoll, mit zweierlei Maß zu messen? 

Nehmen wir nur ein paar Beispiele: Angenommen, eine mir nahestehende Person setzt eine moralisch verdammenswerte Handlung. Sagen wir, die Person betrügt eine alte Oma. Und, angenommen, ein mir unbekannter Banker aus Baltimore tut das selbe. Über den Betrug des Bankers aus Baltimore werde ich mich nicht sonderlich echauffieren. Ich weiß ja, dass solche Dinge täglich überall auf der Welt geschehen. Ich weiß, dass ich sie nicht ändern kann. Ich bin natürlich viel Entrüsteter, wenn das beispielsweise mein Bruder machte. Ich bin entrüstet, dass sogar eine mir nahestehende Person solche Dinge tut, die – wie ich hoffte: unseren – moralischen Empfindungen widersprechen. Nähe kann also ein guter Grund für „zweierlei Maß“ sein. Die Schande der eigenen Leute geht uns näher. 
Ein anderes Exempel: Wenn in einer fernen Autokratie (nennen wir sie Swahuristan) ein Student ohne Beweise sechs Monate in Untersuchungshaft gesteckt wird und dann in einem fragwürdigen Verfahren zu vier Monaten unbedingter Haft verurteilt und sofort freigelassen wird, dann werde ich das – sofern ich überhaupt davon erfahre – für beklagenswert halten, aber auch nicht für den größten Skandal der Welt. Ich weiß ja, dass in Swahuristan noch viel schlimmere Dinge passieren. Wenn das in einem demokratischen Rechtsstaat wie Frankreich geschieht, werde ich mich wohl mehr daran stoßen. Wenn das aber – wie zuletzt – in Österreich, also dem Land geschieht, in dem ich lebe, werde ich mich darüber empören. Vielleicht sogar mehr noch: Ich werde mich schämen. Für Unrecht, das in Österreich, also in meinem Namen verübt wird, schäme ich mich, für Unrecht, das in Frankreich verübt wird, schäme ich mich nicht sehr, für Unrecht in Swahuristan eher gar nicht. Aus verständlichen Grünen: Ich bin damit weniger verbunden. 
Wenn die USA einen ungerechten Krieg führen, und gleichzeitig auch Russland einen ungerechten Krieg führt, und amerikanische Bürger gegen den ungerechten Krieg demonstrieren, den die USA führen (und kaum jemand zu Demonstrationen gegen den Krieg Russlands geht), sind sie dann Heuchler, die mit zweierlei Maß messen? Oder sind sie Staatsbürger ihres Landes, denen natürlich die Taten ihrer Regierung näher gehen als die Taten fremder Regierungen? Natürlich letzteres. Scham über die Taten der eigenen Regierung ist eine Art „patriotischer Identifikation“ (Charles Taylor), und übrigens oft viel sympathischer als der Stolz auf die „Leistungen“ der eigenen Nation. 
Wir verstehen leicht, warum die Amerikaner so reagieren. Aber wie ist das eigentlich, wenn wir ähnlich reagieren? Wenn die US-Regierungsbehören foltern, und wir uns darüber empören, wir uns aber viel weniger darüber empören, dass in China noch viel brutaler gefoltert wird – sind wir dann verkappte Antiamerikaner? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt: Weil wir die USA als demokratische Weltmacht ansehen und sie als demokratischen Rechtsstaat respektieren, empört uns Folter in den USA mehr. Wir messen natürlich demokratische Rechtsstaaten an dem Maßstab, den sie sich selbst geben und den wir mit ihnen teilen. Ist das heuchlerisch? Oder ist es nicht ganz verständlich und gut, dass wir das tun? 
Das selbe gilt aber doch auch für Israel. Israel als freiheitliche Demokratie im Nahen Osten wird mit anderen Maßstäben gemessen als eine islamistische Bande wie die Hamas. Natürlich sind das doppelte Standards, die Frage ist nur: Sind diese doppelten Standards nicht berechtigt? Was wäre denn die Alternative? Zu sagen, ich beurteile die demokratisch gewählte Regierung des freiheitlichen Rechtsstaats Israel genauso wie eine islamistische Terrorgruppe? Wäre nicht das die eigentliche Herabwürdigung? 
Oft ist das Messen mit zweierlei Maß ja gerade Ausdruck der Tatsache, dass uns das Kritisierte besonders am Herzen liegt. Um das an Hand eines möglichst unpolitischen (und damit unverfänglichen) Exempels zu sagen: Wenn ein Fußballfan die Korruption der FIFA anprangert, ihn aber die Korruption in der Formel 1 nicht einmal halb so sehr aufregt, ist das dann eine Ungerechtigkeit der FIFA gegenüber? Oder nicht doch Ausdruck der Tatsache, dass sein Herz besonders am Fußball hängt? Kritik an Israel, beispielsweise, speist sich häufig, wenn auch natürlich nicht immer aus einer ähnlichen Motivation.
Vergleichbares gilt für die bekannten Argumente, wonach man nur gegen Kriege demonstrieren darf, wenn man gegen alle Kriege demonstriert. Millionen gingen gegen den US-Krieg im Irak auf die Straße, aber wer demonstriert schon gegen die Massaker in Syrien? Nun gibt es freilich eine Reihe möglicher Gründe, gegen einen Krieg zu demonstrieren und eine Reihe von Gründen, gegen einen Krieg nicht zu demonstrieren. Natürlich kann es auch fragwürdige, miese Gründe geben. Aber sind nicht die meisten Leute bei uns – Nichtmuslime und Muslime gleichermaßen -, nur deshalb eher stumm, was die Lage in Syrien betrifft, weil sie a) nicht das Gefühl haben, dass es irgendein sinnvolles Statement wäre, in Wien gegen Assads Krieg zu demonstrieren, oder weil sie b) meinen, die Lage sei hoffnungslos oder c) zu wissen glauben, dass sich das syrische Regime um die öffentliche Meinung in Europa nicht scheren wird, was für andere Regierungen nicht unbedingt in dem gleichen Maße zutrifft und d) dort ohnehin nur Gangster zur Auswahl stehen. Solche Haltungen sind vielleicht deprimierend realistisch, in Übermaß demoralisiert – aber heuchlerisch müssen sie nicht unbedingt sein. 
Hinzu kommt: Wir alle haben nun einmal beschränkte Ressourcen. Gewiss, wir können nicht jedes Unrecht der Welt bekämpfen. Aber wieso soll das ein Grund sein, keines zu bekämpfen? Wenn ich weiß, dass ich nicht jede ungerechte Abschiebung verhindern kann, macht das den Versuch, die eine Abschiebung, die eine Familie, das eine junge Mädchen zu retten doch keineswegs moralisch fragwürdig. 
Kurzum: Wir alle messen immer wieder mit zweierlei Maß und daran ist nichts schlecht. Oft ist es sogar gut so. Die Gründe sind: Soziale Nähe. Oder dass wir Leute, die postulieren, mit uns gemeinsame Standards haben, anders beurteilen, wenn sie diese gemeinsamen Standards verletzen. Oder wenn wir empfinden, dass wir auf irgendeine Weise (mit-)verantwortlich sind, und sei es nur auf sehr vermittelte Art. Oder wenn wir das Gefühl haben, unser Urteil hat eine gewisse Relevanz. 
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