Die vielen Gesichter des Verdrusses

Niedrige Wahlbeteiligung, zehn Prozent für die „Alternative für Deutschland“ – eine „Krise der Demokratie“? Neues Deutschland, 17. September 2014
Die Wahlbeteiligung ist in Thüringen und Brandenburg, wie zuvor schon in Sachsen, auf knapp 50 Prozent gesunken, was Anlass für allerlei alarmistische Diagnosen („Krise der repräsentativen Demokratie“) und allerlei obskure Therapievorschläge gibt. So überlegt die SPD, Wahllokale jetzt auch bei Supermärkten einzurichten, dem Motto entsprechend: Wenn die Wähler schon nicht zur Urne gehen, muss man mit der Urne eben den Wählern nachrennen. Originellere Demokratiereformer wollen die Bürger wiederum mit Negativstimmen ausstatten, der Idee folgend: Wenn es offenbar an der Lust fehlt, Parteien durch positives Votum ins Parlament zu entsenden, gibt es vielleicht den ausgeprägteren Wunsch, bestimmte Parteien unbedingt vom Parlament fern zu halten. 
Aber was ist überhaupt das Problem? 
Dass Bürger nicht zur Wahl gehen, ist ja an sich noch nicht unbedingt ein Krisensymptom. Bürger können grosso modo zufrieden sein und gleichzeitig keine der vorhandenen Parteien besonders toll finden. Sie können sich zudem ausrechnen, dass eine Partei ohnehin ziemlich fix gewinnt, oder es zu einer von zwei Koalitionsvarianten kommen wird, von denen sie keine besonders favorisieren, sodass sie zum Schluss kommen: „Von den vorhandenen Optionen bevorzuge ich keine dramatisch gegenüber der anderen.“ Zudem glauben viele Bürger (zu unrecht, aber das ist egal), dass Regionalwahlen relativ irrelevant sind, weil ohnehin alles Entscheidende auf der nationalen Ebene entschieden wird. Kein Problem – niemand ist verpflichtet, zu wählen. 
Wir wissen freilich, dass die Probleme der zeitgenössischen Demokratie über solche aufgeklärte Indifferenz schon hinausgehen. Viele Bürger können die Parteien schon kaum unterscheiden, nicht einmal die Kanzlerin und Ministerpräsidenten den richtigen Parteien zuordnen, politische Unterschiede zwischen konkurrierenden Parteien nicht benennen. Die sind nicht einmal verdrossen: Die interessieren sich nicht die Bohne für all das Zeug. 

In einem wachsenden Segment der Bevölkerung regiert aber nicht leise Indifferenz, sondern aggressiver Verdruss. Für diese Bürger sind praktisch alle Parteien Teil des „Systems Politik“, das sich für sie durch ein paar allgemeine Charakterzüge auszeichnet: Politische Apparate, die sich abschotten; die ohnehin tun, was sie wollen, politischen Konflikt nur als Show abziehen, deren Protagonisten aber in Wirklichkeit allesamt Teil einer großen Blase sind und die normalen Bürger nur als störend wahrnehmen. Politische Differenzen, das ist, aus dieser Sicht, doch nur Show-Hickhack, „wie das leere Gerede über gutes oder schlechtes Wetter“ (Pierre Bourdieu). Aber bestimmt wird dieses System Politik von „Profi-Politikern“, denen es eigentlich um nichts geht außer um ihr eigenes Fortkommen. „Die sind ja auch alle gleich“, würde man in diesem Milieu formulieren, was heißt, die folgen alle dem gleichen Rollenmodell, in der Profi-Politik gibt es einen bestimmten Habitus, einen bestimmten Jargon, eine grundsätzliche Komplizenschaft. 
Dieser antipolitische Affekt ist weit verbreitet und trägt zur Wahlabstinenz bei, aber nicht nur: Er ist ja auch der Humus für rechtspopulistische Parteien wie die AfD, deren politische Rhetorik auf folgendes abzielt: Wir sind für Euch, wir sind die Partei der normalen Leute, denn wir sind auch gegen die, gegen die Politiker, gegen die liberalen Eliten, gegen die, die es sich untereinander ausmachen etc.
All das ist zwar von sehr viel Ressentiment geprägt, aber auch nicht völlig falsch. Es gibt eine Selbstabkoppelung des politischen Feldes. Es gibt die Verdünnung politischer Konflikte und damit politischer Alternativen in relativer Konsenssoße, sodass die Bürger ja nicht völlig zu unrecht den Eindruck erhalten: Es geht ja im Grunde um nichts, weil es höchstens um marginale Differenzen geht. Hinzu kommt die teils falsche, teils nicht völlig unrichtige Überzeugung, dass der Einfluss von Politik auf die komplexe Wirklichkeit begrenzt ist, sodass es doch eigentlich keinen Grund gäbe, sich am Sonntag ins Wahllokal zu schleppen.
All diesen Problemen wird man nicht Herr, wenn man mit der Urne den Bürgern nachläuft, und schon gar nicht, indem man das Problem des antipolitischen Affektes „bearbeitet“, indem man es auch noch unterstützt und ihm die Möglichkeit gibt, sich in „Negativstimmen“ auszudrücken.  
Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Blog etwas wert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.