Inflation – Ein Problem, das wir uns wünschen sollten

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Polar, September 2014
Wir haben in Europa eine Reihe dramatisch gefährlicher Probleme: Horrende Arbeitslosenraten in einigen Eurozonen-Ländern, eine lang anhaltende ökonomische Depression im Süden, eine Rezession in den sogenannten „reichen“ EU-Staaten, wir haben überschuldete Banken, teilweise hoch verschuldete private Haushalte, und Staatsschuldenstände, die aufgrund des schwachen Wachstums noch drückender werden. Neuerdings sind wir sogar gefährlich in die Nähe der Deflationsgefahr gerückt. Also, die Preise fallen, statt zu steigen, was erstens die Nachfrage noch weiter sinken lassen könnte (da sich die Leute denken, ich gebe mein Geld morgen oder übermorgen aus, da bekomme ich noch mehr für mein Geld), vor allem aber Schuldner besonders knechtet: Sie müssen mit weniger Einnahmen ihre Schulden zurückzahlen, was deutlich schwerer ist, als wenn sie heute mehr Geld einnehmen als gestern und morgen mehr als heute. Eine große Pleitewelle könnte das gesamte Wirtschaftssystems an die Kippe bringen. 
All diese Probleme und noch ein paar mehr haben wir in Deutschland und Europa. Nur ein Problem haben wir in Europa nicht: Ein Inflationsproblem. 

Bloß die deutsche Politik und deutsche Medien glauben, die Inflationsgefahr wäre unser Hauptproblem. Die „Geldschwemme“, für die die Europäische Zentralbank sorge, würde unser Geld „aufweichen“, ist alle Tage zu lesen. Bald, wird der Teufel an die Wand gemalt, würde es Hyperinflation geben. Dann ist das Geld nichts mehr wert, die Sparer sind „kalt enteignet“. 
Seit sieben Jahren rufen die Panikmacher jetzt schon: Die Hyperinflation kommt! Spätestens nächstes Jahr ist sie da, die Hyperinflation! Das rufen sie jetzt seit sieben Jahren und es ist alles Mögliche gekommen, eine Schuldenkrise ist gekommen, schwaches Wachstum, die Arbeitslosenraten sind in die Wolken gestiegen, aber das einzige, was nicht gekommen ist, ist Inflation.
All das ist nicht nur Obskurantismus, sondern gefährlicher Obskurantismus. Oder, um das mit den Worten von Mark Schieritz zu sagen, dem „Zeit“-Redakteur, der ein sehr instruktives Büchlein über die „Inflationslüge“ geschrieben hat: „Die größte Gefahr für unseren Wohlstand ist im Moment nicht die Geldentwertung selbst – sondern die Angst vor ihr. Sie verleitet zu Fehlentscheidungen und trübt den Blick für die wahren Herausforderungen unserer Zeit.“
Denn wer auf eine eingebildete Inflationsgefahr starrt wie das Kaninchen auf die Schlange, neigt zu falschen Entscheidungen: Der senkt Staatsausgaben, damit nicht „zu viel Geld“ in die Wirtschaft gepumpt wird, und würgt das Wachstum ab. Wenn aber das schwache Wachstum das eigentliche Problem ist, Inflation aber nicht, dann hat einen solchen Politiker seine Inflationsparanoia zu einer fatalen Fehlentscheidung getrieben. Oder er nimmt die Zentralbanken an die Leine und hindert sie daran, das genau richtige zu tun: Nämlich Geld ins Finanzsystem zu pumpen. 
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Genau so etwas ist schon einmal geschehen: In Deutschland zu Beginn der Dreißiger Jahre. Dabei ist in der deutschen Kollektivpsyche noch immer eingeschrieben, es wäre die Hyperinflation der zwanziger Jahre gewesen, die Hitler an die Macht brachte. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall: Wenn, dann hat die Weltwirtschaftskrise und die Politik der deutschen Regierung, die in die Krise noch hineinsparte und Preisdeflation (also das Gegenteil von Inflation) in Kauf nahm, Hitler an die Macht gebracht. 
Fallende Preise, Rezession und Massenarbeitslosigkeit haben in die Katastrophe geführt, nicht Inflation. 
Das Geldsystem ist eine mirakulöse Sache und seine Komplexitäten sind die Hauptursache dafür, dass so viele Mythen in den Köpfen herumspuken. So steigt etwa die Geldmenge keineswegs rasant, wenn die Zentralbank frisches Zentralbankgeld massenhaft ins Bankensystem pumpt: Denn das Zentralbankgeld ist nur ein kleiner Teil der Geldmenge. Viel mehr Geld wird durch Kreditexpansion von Banken geschöpft. Wenn aber Banken, wie in der Krise, ihr Kreditvolumen zurückfahren und auch private Haushalte auf ihrem Geld sitzen bleiben (also auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sinkt), dann kann die Gesamtgeldmenge schrumpfen, obwohl die Zentralbankgeldmenge steigt. Und ohnehin ist die Geldmenge nur in der Phantasiewelt von Monetaristen (also in der Phantasiewelt neoliberaler Ökonomen) ein besonders aussagekräftiger Indikator für Inflationsgefahr. 
Denn Inflation gibt es klassischerweise dann, wenn die Wirtschaft brummt, die Fabriken auf Hochtouren arbeiten, die Arbeitslosigkeit zurückgeht, die Löhne deshalb steigen, die Firmen die Preise erhöhen können, weil die Bürger mehr Geld in der Tasche haben und so weiter. Galoppierende Inflation wird daraus, wenn jeder sein Geld sofort ausgibt, weil er weiß, morgen ist es schon weniger wert und die Regierungen den Preisauftrieb sogar gerne sehen, weil ihre Staatsschulden, die ja nominal notieren, dann real geringer werden – weil ja ein Schulden-Euro nicht so drückt, wenn der Euro plötzlich nur mehr die Hälfte wert ist. Kurzum: Ein inflationäres Klima gibt es nur dann, wenn es ordentliches Wirtschaftswachstum und nahezu Vollbeschäftigung gibt. Und deshalb haben wir im Augenblick ja auch keine Inflation. 
Das Geldsystem ist in gewissem Sinn ein Schwindel, der aber funktioniert. Eine hübsche kleine Anekdote, die man sich in Kreisen von Finanzexperten gerne erzählt, verdeutlicht diese Zusammenhänge, die dem Common Sense oft kurios erscheinen. Sie geht so: 
„Die Zeiten sind schlecht, jeder hat Schulden und alle leben auf Pump. An diesem Tag fährt ein reicher deutscher Tourist durch die irische Stadt und hält bei einem kleinen Hotel. Er sagt dem Eigentümer, dass er sich gerne die Zimmer anschauen möchte, um vielleicht eines für eine Übernachtung zu mieten und legt als Kaution einen 100 Euro Schein auf den Tresen. Der Eigentümer gibt ihm einige Schlüssel. Als der Besucher die Treppe hinauf ist, nimmt der Hotelier den Geldschein, rennt zu seinem Nachbarn, dem Metzger und bezahlt seine Schulden. Der Metzger nimmt die 100 Euro, läuft die Straße runter und bezahlt den Bauern. Der Bauer nimmt die 100 Euro und bezahlt seine Rechnung beim Genossenschaftslager. Der Mann dort nimmt den 100 Euro Schein, rennt zur Kneipe und bezahlt seine Getränkerechnung. Der Wirt schiebt den Schein zu einer an der Theke sitzenden Prostituierten, die auch harte Zeiten hinter sich hat und dem Wirt einige Gefälligkeiten auf Kredit gegeben hatte. Die Hure rennt zum Hotel und bezahlt ihre ausstehende Zimmerrechnung mit den 100 Euro. Der Hotelier legt den Schein wieder zurück auf den Tresen. In diesem Moment kommt der Reisende die Treppe herunter, nimmt seinen Geldschein und meint, dass ihm keines der Zimmer gefällt und er verlässt die Stadt. Niemand produzierte etwas. Aber alle Beteiligten sind ihre Schulden los und schauen mit großem Optimismus in die Zukunft.“ Während vorher niemand Geld ausgab, hat sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes schlagartig erhöht – und siehe da, die Probleme sind aus der Welt, ohne dass irgendetwas geschehen wäre. Nicht einmal die „Geldmenge“ hat sich erhöht. 
Nun ist es freilich so, dass die Bürger auch heute, bei einer Inflationsrate von nur mehr 0,5 Prozent in der Eurozone Inflation „spüren“. Manche Güter steigen sehr wohl im Preis. Aber der allgemeine Preisauftrieb ist seit Jahren schon geringer als noch in den fünfziger und sechziger Jahren. Das Problem sind also nicht leicht steigende Preise, sondern zu langsam wachsende Löhne. Gerade in Deutschland sind die Reallöhne in den Boomjahren vor der Krise so sehr gesunken (oder so langsam gewachsen), dass der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen innerhalb weniger Jahre von 66,8 Prozent auf einen historischen Tiefstand von 61,2 Prozent gefallen ist, während die Profite in historische Höhen hochschossen. Das, was sich also wie steigende Inflation anfühlt, ist in Wahrheit schwindende Kaufkraft wegen Lohndumpings. 
Und manche Preise steigen auch schnel
ler. Gegenwärtig wird ja beispielsweise viel von der „Inflation“ am Immobilienmarkt geredet. Aber das ist ein sehr irreführender Gebrauch des Wortes „Inflation“. Denn das, was wir eigentlich unter Inflation verstehen, ist der Preisanstieg bei Konsumgütern. „Vermögensinflation“ ist etwas ganz anderes. 
Mehr noch: Angst vor Inflation kann sogar „Vermögensinflation“ verursachen. Es ist leicht zu begreifen, wie das geschieht: Wenn Sparern das Gefühl vermittelt wird, ihre Finanzvermögen würden bald durch Inflation entwertet, während es kaum noch Nachfrage nach Kapital gibt (die Zinsen also sinken), suchen sie andere Anlageformen. Alle wollen dann Villen oder Eigentumswohnungen kaufen. Und die Preise für Eigentumswohnungen schießen dann in die Höhe. Aber Eigentumswohnungen sind in diesem Fall keine „Produkte“ (das sind sie natürlich auch, aber es spielt keine Rolle), sondern langfristige Vermögensanlagen. Preisauftrieb bei Vermögensanlagen hat aber mit Inflation nichts zu tun. Oder noch simpler gesagt: Niedriges Wachstum plus niedrige Zinsen plus niedrige Inflation führen zu Vermögensinflation, weil sich die Besitzer von Finanzvermögen um die paar noch scheinbar sicheren Anlageformen raufen. 
Ohnehin ist eine maßvolle Inflation ein erstrebenswerte Sache, während eine Inflationsrate von Null Prozent eine äußerst schlechte Nachricht ist. Notenbanken könnten dann etwa auf Einbrüche der Konjunktur kaum mehr mit Zinssenkungen reagieren – da ein Leitzinssatz von weniger als Null zwar schon möglich, aber kaum wirklich praktikabel ist. Gerade deshalb hat sich die Europäische Zentralbank ja das Inflationsziel von zwei Prozent gesetzt – für den Durchschnitt des Euroraumes. Wahrscheinlich wäre es aber im Augenblick sogar sinnvoll, wenn sich in Deutschland die Inflation bei knapp vier Prozent einpendeln würde, in den Krisenstaaten bei Null Prozent – das würde die notwendigen Anpassungen in den Krisenstaaten erheblich erleichtern. Oder anders ausgedrückt: Wenn in Deutschland die Löhne um vier Prozent steigen, und in den Krisenstaaten gleich bleiben, werden sich die Ungleichgewichte langsam reduzieren. Stiegen sie in Deutschland um nur zwei Prozent, müssen die Löhne in den Krisenländern um zwei Prozent sinken, damit der gleiche Effekt erzielt wird – ein ungleich schmerzhafterer Prozess. 
Immer wieder gibt es in Volkswirtschaften notwendigen Anpassungsleistungen. Wenn etwa, beispielsweise, das Lohnniveau in einer Branche oder nur in einem Unternehmen zu stark gestiegen ist und durch die Erlöse nicht mehr finanzierbar ist. Solche Anpassungen sind aber bei einer Inflationsrate von beispielsweise vier Prozent viel leichter zu erbringen als bei einer von null Prozent. Warum ist das so? Nun, da spielt auch Psychologie eine große Rolle. Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Gesellschaft mit Null Inflation und ihr Chef teilt Ihnen mit, er kürze Ihr Gehalt um drei Prozent. Sie wären auf Ihren Chef dann so richtig stinkig. Möglicherweise gehen Sie in die innere Emigration und arbeiten nur mehr lustlos und unmotiviert. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Gesellschaft mit einer Inflationsrate von vier Prozent und Ihr Chef erhöht ihr Einkommen um ein Prozent. Sie wären vielleicht nicht wirklich glücklich, aber auch nicht extrem unglücklich. Dabei ist der Vorgang „real“ der gleiche, obwohl er „nominal“ ein extrem anderer ist. 
Inflationsgefahr? Die gibt es im Augenblick nicht. Sie kann es aber geben, wenn die Wirtschaft wieder anspringt und sich das viele neue Zentralbankgeld in echtes Geld und echte Kredite und echtes Einkommen verwandelt. Das wird aber so bald nicht geschehen. Leider! Denn die Arbeitslosigkeit ist hoch in Europa, das Bankensystem ist desolat, die Finanzinstitute sind Zombies, gerade noch am Leben erhalten aber zu tot, um Prosperität und Investitionen zu finanzieren. Gäbe es also Inflation, wäre das ein schönes Indiz dafür, dass wir alle anderen ökonomischen Probleme gelöst haben. 
Oder anders gesagt: Inflation – das ist ein Problem, das wir uns wünschen sollten. 

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