Der gute Staat

Der Staat ist träge, innovativ sind die Unternehmen? Das ist nur ein wirtschaftsliberales Märchen. Ökonomen wie Mariana Mazzucato erforschen den Nutzen des Staates für die Wirtschaft, linksliberale Philosophen sehen in ihn den Garanten der Freiheit. Falter, 17. Dezember 2014
Was kann der Staat? Darüber gehen die Meinungen durcheinander, aber sehr häufig sind die Deutungen nur verschiedene Varianten von: Nicht viel. Das gilt natürlich zunächst und primär für Wirtschaftsfragen: Da ist der wirtschaftsliberale Mainstream der Meinung, dass der Staat ohnehin nur Schaden anrichtet und die Innovationskraft des freien Unternehmertums hemmt, während die – nennen wir sie jetzt einmal – „keynesianische Mitte“ einwenden würde, dass der Staat zwar gewiss dazu tendiert, ein bürokratisches Monstrum zu sein, man aber seine Regulierungen zwecks Vermeidung von Katastrophen benötigt und man ihn im Notfall braucht, um kollabierende Banken zu retten oder eine abschmierende Konjunktur anzukurbeln. Außerdem kann er sich mit Anreizen nützlich machen, um das Handeln der Wirtschaftsakteure zu beeinflussen. Aber selber handeln – das sollte er natürlich eher nicht. Denn Wirtschaft – das könne „die Wirtschaft“ vulgo Unternehmen besser.
Geht es zudem um das weitere Feld des Gesellschaftlichen, dann wird der Staat ohnehin gerne als bloßes gängelndes, bevormundendes Institutionenwerk gesehen, gegen das sich Freiheit und der Eigensinn des Einzelnen behaupten müsse – und nur sehr selten als Quelle und Garant der Freiheit.
Diese vorherrschenden Deutungen sind von hübschen Geschichten illustriert: von den märchenhaften Storys kleiner Start-Ups, die in Garagen innovative Ideen ausbrüten und mit diesen Erfindungen die Welt verändern – gänzlich am Staat vorbei, der sie im besten Fall dabei nicht stört, ihnen im schlimmsten Fall Steine in den Weg legt.
Wie die Dinge wirklich liegen, beschreibt die in Großbritannien forschende Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“. Sie gilt schon als der „neue Star in der ökonomischen Debatte“ (Manager-Magazin). Der deutsche Titel ihres Buches ist etwas verblasen, im Original heißt es: „The Entrepreneurial State“ („Der unternehmerische Staat“). Unternehmen werden heute mit Attributen wie „wettbewerbsfähig“ und „innovativ“ belegt, der Staat gilt als „träge“ oder „schwerfällig“, doch mit Geschichte und Gegenwart von Innovation hat all das nichts zu tun, schreibt sie.

Die ganze Geschichte der großen Innovationen, von der Eisenbahn-Revolution bis zur Energiegewinnung, von der Atomenergie bis zur massiven Ausbeutung der Wasserkraft zeigt nachdrücklich: die massive Mobilisierung von Ressourcen, ganz zu schweigen von der vorangehenden Grundlagenforschung, wurde vom Staat geleistet, und in diesem innovativen Gärhaus ist die profitable Anwendung durch Privatfirmen am Ende nur mehr der Bubble obendrauf. 
Und das gilt erst recht für die großen Innovationen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart wie Computertechnologie, Internet, Pharmarevolution, Nanotechnologie, Raumfahrt. Das hat auch einen systemischen Grund, so Mazzucato: große technologische Revolutionen verschlingen zunächst einmal ungeheuer viel Kapital, ob daraus aber irgendwann einmal Renditen entspringen ist dagegen meist unklar. Für private Investoren ist das viel zu riskant, ein solches Großrisiko kann nur der Staat tragen. Nicht der Staat ist träge und die Unternehmen unternehmerisch, das Gegenteil ist der Fall: Die Unternehmen sind viel zu vorsichtig, solche Risiken übernimmt nur der Staat, der viel „tollkühner“ ist als Unternehmen, die meist schon die Rendite im nächsten Quartal im Auge haben: „Selbst in Boomphasen gibt es viele risikobehaftete Bereiche, vor denen Privatunternehmen zurückscheuen, in denen jedoch der Staat als Pionier vorangeht.“
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Mazzucatos nachdrückliche Botschaft: Vergesst die Start-Ups! Ihre Rolle wird systematisch übertrieben!
Exemplarisch für all das ist die Firma Apple, der sich Mazzucato detailliert widmet, nicht weil sie Apple nicht mögen würde, sondern weil die Firma als Paradefall des innovativen Genies freien Unternehmertums gilt. Dabei ist eher das exakte Gegenteil der Fall. „Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde.“ Die Computertechnologie wurde in Labors gemeinsamer staatlicher und privater Forschungen in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt. Mikroprozessoren, Halbleitertechnik, alles beruht auf staatlicher Grundlagenforschung und staatlich orchestrierter Innovation. Das Internet entsprang ohnehin, wie jeder weiß, einem Megaprojekt des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Der Touchscreen wurde wesentlich in britischen Labors entwickelt, die sich verteidigungsrelevanten Technologien widmeten. GPS-Satellitentechnologie, usw, die Liste ließe sich fortsetzen. Die private unternehmerische Leistung liegt allenfalls in der finalen Bastelei und im genialen Design.
Obwohl all diese Fakten für jeden bekannt sind (oder zumindest bekannt sein könnten), haben wir fast alle ein falsches Bild vom Staat und von Unternehmen im Kopf, das nichts als die Folge ideologischer Verblendung ist. Ein erfolgreicher, innovativer Kapitalismus brauchte immer einen starken, aktivistischen Staat, und je komplexer die Aufgaben und die Gesellschaften, umso mehr. Nicht der Staat ist innovativ und auch nicht die Unternehmen, sondern eine Kombination von staatlichem und unternehmerischen Aktivismus. Und dafür braucht es eben gute Unternehmen und einen klug agierenden, finanziell gut ausgestatteten Staat.
Aber die staatsfeindliche Ideologie untergräbt diese Erfolgsbedingungen, denn damit all das gut funktioniert, muss es beispielsweise auch attraktiv sein, für den Staat zu arbeiten. Macht man den Staat chronisch schlecht (und trocknet man ihn finanziell aus), werden die besten Talente eher nicht in staatlichen Behörden arbeiten wollen, dann werden Innovationen, die die Zukunft prägen würden, eben nicht getätigt – dann wird der unfähige Staat gewissermaßen zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Absurd: Während die eigentlichen bahnbrechenden Innovationen in staatlichen Labors ausgebrütet werden, werden täglich Start-ups medial hochgejazzt, die irgendwelche Apps programmieren, für die es keine besondere Genialität mehr braucht und die die Welt oft gar nicht braucht.
Der moderne, komplexe Staat hat eine Vielzahl von Aufgaben, die gerade auch eine kapitalistische Marktwirtschaft braucht, um funktionstüchtig zu bleiben – das war schon die These des legendären Werkes „Die große Transformation“ des vor exakt 50 Jahren verstorbenen Gesellschaftstheoretikers Karl Polanyi. Polanyi sprach von der „etablierten Gesellschaft“, die mehr ist als bloß Markt oder Staat, ein komplexes Netzwerk, hinter das wir nicht mehr zurück können, ob wir wollen oder nicht. Der Lonely Hero, der reine Selfmade-Man, wie ihn sich der Ultraliberalismus zusammenphantasiert, die sind heute einfach nicht mehr im Angebot. „Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt … zuließe, dann würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen“, schrieb Polanyi, und weiter: „Paradoxerweise müssen nicht nur die Menschen und ihre natürlichen Ressourcen, sondern auch die Organisationsweise der kapitalistischen Produktion an sich vor den verheerenden Auswirkungen eines selbstregulierenden Marktes geschützt werden.“ Polanyi war so etwas wie der intellektuelle Wegbereiter eines Linksliberalismus, was auch ein Grund dafür sein dürfte, dass er heute relativ in Vergessenheit geraten ist – er war den echten Linken zu pro-kapitalistisch, und den Wirtschaftsliberalen zu links.
Polanyi war auch einer der ersten, der einige Grundprinzipien des modernen Linksliberalismus durchbuchstabierte, der sowohl die Staatsgläubigkeit der Linken als auch die Staatsfeindlichkeit des Liberalismus hinter sich ließ: Da man in komplexen Gesellschaften einen aktivistischen Staat braucht, muss man die paternalistischen, bürokratischen und autoritären Versuchungen eines solchen Staates bekämpfen: Er sprach von einem „Recht auf Nonkonformismus“, und: „Jeder Schritt zur Integration der Gesellschaft sollte somit von einer Zunahme der Freiheit begleitet sein; Schritte in Richtung auf Planung sollten die Stärkung der Rechte des einzelnen“ nach sich ziehen. „Die echte Antwort auf die drohende Bürokratie als Quelle des Machtmissbrauchs besteht darin, Bereiche unumschränkter Freiheit zu schaffen, die durch eiserne Regeln geschützt sind.“
Der Staat nicht als Antipode, sondern als Garant von Freiheit – insbesondere gegen Machtkonzentration, die aus wirtschaftlicher Macht resultiert, das wäre eine Sache eines modernen „Linksliberalismus 2.0“, der auf der Höhe der Zeit wäre, und der gerade da und dort durchbuchstabiert wird. Der „neue Liberalismus“ muss erkennen, schreibt etwa die Frankfurter Ökonomin und Philosophin Lisa Herzog, dass nicht nur staatlicher Zwang freiheitseinschränkend sein kann, sondern „auch der Mangel an Zugangsmöglichkeiten und Ressourcen, der im Kapitalismus weite Teile der Bevölkerung bedrohen kann… Für den neuen Liberalismus ist gerade der ungezügelte Markt ein Feind der Freiheit. Besonders ist er es, wenn er extreme Ungleichheiten erzeugt, die Machtverhältnisse und einseitige Abhängigkeiten zementieren … und wenn bestimmte Personengruppen durch Machtstrukturen besonders benachteiligt werden und es ihnen schwer gemacht wird, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“ In modernen, komplexen Gesellschaften hängen wir alle voneinander ab, sodass die Vorstellung, das freie Individuum sei ein a-soziales Atom einfac
h absurd sei, schreibt Herzog in ihrem „Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“ („Freiheit gehört nicht nur den Reichen“, Beck-Verlag, 2013).
Das Verhältnis von Staat und großen Unternehmen sollte symbiotisch sein, wird aber zunehmend parasitär. Apple, aber auch große Pharmakonzerne und andere Technikriesen verwandeln Forschung und technologische Innovationen, die mit Steuergeld vorangetrieben wurden, in private Gewinne, erzählen denselben Steuerzahlern aber dann, „Innovation und Wirtschaftswachstum seien dem Genie einzelner zu verdanken“ (Mazzucato) und organisieren ihre globale Produktion dann so, dass ihre Gewinne nur mehr in Steuerparadiesen anfallen. Gerade das Verschweigen der wirklichen Innovationsgeschichte, so Mazzucato, half dabei, „dem Staat, der mit seinem Geld ganz wesentlichen zum Erfolg beitrug, einen Teil seiner Gewinne vorzuenthalten.“
Kosten sozialisieren und Gewinne privatisieren – diese Art von legalem Betrug ist längst nicht mehr bloß auf die Bankwelt beschränkt.

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