Alle auf die Kleinen

Solidarität ist in Europa ein Unwort geworden. Eurogruppenchef Dijesselbloem agiert wie ein Oberschüler, der sich als Anführer der Schulhofgang profilieren will – mit drohen und erpressen. Ein Beitrag für Zeit-Online. 

Es war ein versteckter Absatz in einer „Spiegel“-Story über EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Im Europawahlkampf, war da zu lesen, „prangte das Wort ‚Solidarität‘ auf Junckers Plakaten.“ Und weiter: „Merkels CDU war so aufgebracht über Junckers Slogan. dass ihm beinahe ein Auftritt in Berlin verweigert worden wäre.“

So weit haben wir es in der Europapolitik also gebracht – dass selbst das simple Wörtchen „Solidarität“ schon eine Aufreger-Vokabel ist, die tunlich vermieden werden muss, da es im Merkel-Deutschland ja Assoziationsreihen auslösen kann wie: Solidarität… unser gutes Geld, … den faulen Pleitegriechen hinten reinschieben… Da wird dann selbst Solidarität zu einem Wort, das nicht mehr gesagt werden darf. Es ist nur eine kleine, nebensächliche, dafür umso bizarrere Unfassbarkeit.

Nach sieben Jahren Krise und fünf Jahren Austeritätspolitik ist das Klima in der Eurozone so vergiftet, dass nicht nur Solidarität als absurde Gutmenschen-Utopie erscheint, auch ökonomische Vernunft wirkt als etwas, was man sich schon wünschen kann, das aber leider völlig unrealisierbar ist. Alle politischen Akteure handeln nur mehr in Richtung ihrer nationalen Galerie (also ihrem Publikum daheim), und es spielen dabei alle möglichen Dinge eine Rolle – die Kategorie „ökonomisch sinnvoll“ jedoch eine untergeordnete.

blogwert„Solidarität“ ist ja ein Wort, das etwas anderes meint als Altruismus oder Hilfsbereitschaft. Solidarität unterscheidet sich von der simplen Hilfsbereitschaft darin, dass sie sowohl für denjenigen nützlich ist, dem geholfen wird, als auch für denjenigen, der hilft. Ja, bei der echten Solidarität ist derjenige, der hilft, sogleich der, dem geholfen wird. Auch wenn es unter denen, die solidarisch sind, die Stärkeren und die Schwächeren geben mag, so ist die Grundidee der Solidarität doch, dass sie alle stärkt. Sie ist also ein Win-Win-Game. Solidarität am wirtschaftlichen Feld ist also ein Gebot ökonomischer Vernunft: Wird sie geübt, haben alle etwas davon, wird sie unterlassen, schadet es allen.

Deshalb muss bei der Solidarität natürlich auch immer mitbedacht werden, ob die jeweilige solidarische Aktion auch tatsächlich ein solches Win-Win eröffnet. Bedenken wir, dass etwa aus Deutschland stets zu hören ist, man sei „weiter bereit, Griechenland zu helfen“, ohne dass recht klar ist, worin diese Hilfe bisher bestanden hat und ob es überhaupt eine Hilfe war. Zunächst wurden ja mit den Notkrediten erstens die Investitionen der Gläubiger der Griechen gerettet (das heißt, es wurde den Gläubigern geholfen, nicht den Griechen), zweitens wurde damit das europäische Finanzsystem stabilisiert (was allen zugute kam, auch den Griechen) und drittens das griechische Bankwesen (was gewiss auch einen Kollateralnutzen für den Griechen hatte). Diesem Nutzen steht der katastrophale Schaden gegenüber, dass die Wirtschaftsleistung Griechenlands innerhalb weniger Jahre um ein Viertel eingebrochen ist und die Staatsverschuldung in Relation zum BIP sogar gestiegen ist.

Wer heute einer Abkehr von der Austeritätspolitik das Wort redet, der hat genau den oben geschilderten Solidaritätsbegriff im Kopf: Kooperation und Hilfe zum Vorteil aller, eine Solidarität, die das aufgeklärte Eigeninteresse nahe legt. Die Argumentation lautet folgendermaßen: Wenn man den Krisenstaaten brutale und den anderen Eurozonenstaaten moderate Austerität verschreibt, dann wird das nicht nur einen sozialen Horror nach sich ziehen, es ist ökonomisch auch noch völlig widersinnig und unvernünftig. Die gesamte Eurozone wird unter ihren ökonomischen Möglichkeiten bleiben, es werden Jahre der Stagnation und Depression die Folge sein (wie wir sie mit ganz kurzen Unterbrechungen jetzt schon seit 2008 erleben), ganze Generationen werden betrogen werden und die Ziele dieser Politik, also die Konsolidierung der Haushalte, werden nicht einmal erreicht werden können. Niemand hätte davon einen Vorteil, alle haben Nachteile. Deshalb ist es ökonomisch einfach vernünftig, das Austeritätskorsett zu lockern.

Das ist ein ökonomisch logisches Argument, das Solidarität mit wirtschaftlicher Vernunft kombiniert. Hat nun die Gegenseite, die Seite der Austeritätsfreaks, irgendwelche vergleichbar logischen Argumentationsreihen anzubieten?

Mit etwas Wohlwollen könnte man drei Argumente ausmachen: Erstens würde die Konsolidierung der Staatsfinanzen zwar zu einem verallgemeinerten Nachfrageeinbruch in Europa führen, aber gleichzeitig zu einem wachsenden Vertrauen der Investoren, damit niedrigeren Zinsen und damit zu mehr Investitionen. Das ist gewissermaßen das Alesina-Argument, benannt nach dem Ökonomen, der sich dafür stark macht. Dass dieser Effekt aber auch nur annähernd den wirtschaftlichen Einbruch ausgleichen kann, das glauben in der ökonomischen Zunft aber nur randständige Spinner und die Empirie hat dafür auch nie Hinweise gebracht. Zweitens würden die Unternehmen der betreffenden Volkswirtschaft durch einen Spar- und Reformkurs an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und den Einbruch in der Binnenkonjunktur durch Exporte ausgleichen. Das kann im Grunde schon funktionieren, freilich nur, wenn eine oder ein paar Volkswirtschaften konsolidieren, aber natürlich nicht, wenn das alle zeitgleich tun. Drittens seien Strukturreformen, die fette Bürokratien verschlanken, Bildungssysteme verbessern oder Unternehmensgründungen erleichtern die Vorbedingung jeder Erholung und letztlich wichtiger als makroökonomische Großparameter wie Konjunktur, Konsumnachfrage etc. Allein letzteres Argument ist nicht völlig falsch, nur gilt auch hier: diese Strukturreformen lassen sich viel leichter umsetzen, wenn man nicht gleichzeitig die Wirtschaft abwürgt.

Wie wir es auch immer drehen und wenden: Die Austeritykritiker haben alle Logik auf ihrer Seite, die Austerityanhänger kaum ein belastbares Argument.

Was bedeutet all das nun im Zusammenhang mit den festgefahrenen Verhandlungen um das griechische Sparprogramm? Nun: Es wäre solidarisch, den Griechen entgegen zu kommen, weil es auch ein Postulat der ökonomischen Vernunft wäre. Ein Abgang vom gescheiterten Austeritykonzept in Europa würde eben nicht nur den Griechen wieder Luft zum Atmen geben, sondern böte die Möglichkeit, dass die Eurozone selbst aus der Depression kommt. Um das in den Worten von Finanzminister Yanis Varoufakis zu sagen: Man sollte das machen, „einfach weil es richtig ist.“ Und zwar intellektuell richtig, politisch richtig und für alle zusammen richtig.

Warum aber wird es dann nicht getan? Warum wird, im Gegenteil, sogar ein gefährlicher Showdown inszeniert, mit allen möglichen schmutzigen Tricks, wie etwa wieder Montag Abend, als der Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem den Entwurf einer für die Griechen maximal demütigenden Abschlusserklärung aus der Schublade zog, offenbar um sicherzustellen, dass sie nicht zustimmen können? Warum das alles im Duktus des Ultimatums, der Erpressung, im Ton, wie man ihn eher von Kriegserklärungen kennt? Wieso agiert der Eurogruppen-Chef wie der Anführer eine Gang und nicht wie der Moderator eines konsensorientierten Gespräches?

Einfach deshalb, weil es weder um Solidarität noch um ökonomische Vernunft geht, sondern um viele andere Dinge. Die Merkel-Schäuble-Regierung will offenbar zeigen, dass sie „in Europa das Sagen hat“. Sie spielt für ihre nationale Galerie, genauso wie ihre Satelliten in den Niederlande und anderswo. Die spanische Regierung wiederum muss alles tun, damit eine Linksregierung scheitert, weil demnächst Wahlen sind und die Chance groß ist, dass die spanischen Konservativen ihrerseits von einem Linksbündnis abgelöst werden.

Es ist für Merkel und Schäuble zudem, selbst wenn sie das wollen würden, völlig unmöglich, das Scheitern ihres ökonomischen Kurses in Europa auch nur verklausuliert einzugestehen und einen Kurswechsel einzuschlagen. Vor allem aus einem Grund: Merkel wird in Deutschland mit diesem Kurs nicht nur total identifiziert, er ist auch populär. Die gesamte Öffentlichkeit trommelt im Grunde seit Jahren, dass die deutsche ökonomische Potenz damit verbunden ist, „dass man solide gewirtschaftet“, nicht „über seine Verhältnisse“ gelebt hat und wie die vereinfachend-populistischen Metaphern auch immer heißen und dass daher schon alles gut werden würde, wenn nur alle anderen auch den Gürtel noch enger schnallen würden. Solange diese Stimmung so bleibt und Merkel als ihre Verkörperung erscheint, ist sie praktisch unschlagbar. Das ist natürlich nicht gerade ein Anreiz für eine Machttechnikerin wie die deutsche Kanzlerin, den Kurs zu korrigieren.

Kurzum, man hat daheim in jahrelanger „Arbeit“ für eine Stimmung gesorgt, die es heute verbietet, das Wort „Solidarität“ auch nur auf Plakate zu schreiben.

Ein Gedanke zu „Alle auf die Kleinen“

  1. lieber herr misik,
    ich danke ihnen für ihre analytische betrachtungsweise der vielschichtigen themen, die uns lesern helfen, einen tieferen einblick in die hintergründe und zusammenhänge der notwendigen problemlõsungen in der eu zu ermöglichen und uns durch diese informationen eine eigene meinung bilden zu können. die herrschende klasse setzt uns vor vollendenden tatsachen ohne das volk wirklich zu informieren. das wird seinen grund haben – fūr wen ist die solitarität letztendlich ? für die herrschende macht/geld-elite! ich danke ihnen für ihren mut ihr wissen und ihre überzeugung an die öffentlichkeit zu tragen, was ja nicht ganz ungefährlich geworden ist.
    ich freue mich schon auf ihre nåchsten artikel. lg

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