Die Normalen sind wir

Das Mysterium der „normalen Leute“

In den politischen Debatten und den Krisendiagnosen unserer Demokratie spukt die Figur der „normalen Leute“ herum, der „gewöhnlichen Menschen“ – oder, wie sie etwa im amerikanischen Politjargon genannt werden, der „Regular Guys“. Die Diagnosen sind dann schnell gestellt: Diese Normalos seien wütend, weil sich niemand mehr um sie kümmert, weil sie das Gefühl hätten, dass sie niemand repräsentiert, weil sie zunehmenden sozialen Stress ausgesetzt seien, sie rennen in ihrer Wut irgendwelchen Rattenfängern nach und richten ihren Frust auf noch Schwächere. Unlängst fragte ein Freund von mir, wer denn diese normalen Leute eigentlich sein sollten – und fügte dann leicht sarkastisch hinzu: „deklassierte Mindestsicherungsempfänger, die FPÖ wählen?“ Und das war von ihm keineswegs von oben herab gemeint, da er ja durchaus weiß, dass nicht jeder Mindestsicherungsempfänger FPÖ wählt, und auch nicht jeder FPÖ-Wähler Mindestsicherungsempfänger ist.

Und er hat damit einen wichtigen Punkt getroffen: Nämlich, dass die Vorstellung der „normalen Leute“ heute ohnehin eine Phantasie ist, die meist im Kopf von Leuten herumspukt, die sich selbst nicht als „normal“, sondern irgendwie anders, ein wenig privilegiert, ein wenig außergewöhnlich, äußerst individualisiert vorkommen.

Der Punkt ist nur: der herbeiphantasierte „Normale“, der kommt in der freien Wildbahn zwar im Einzelfall vor, aber „normal“ ist er sicher nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass er – oder sie – irgendeine große, homogene Schicht der Bevölkerung bildet, die schon qua Größe dieser Schicht „normaler“ ist als andere gesellschaftliche Gruppen. Die Eingangs geschilderte Karikatur des „Normalen“ mag zwar auch eine Gruppe der Gesellschaft sein, aber sicher keine, die größer als zwei bis fünf Prozent der Bürger und Bürgerinnen eines Landes ist.

blogwertDas ist ja relativ lustig manchmal: Da agieren zigtausende Menschen gemeinsam, wie in den vergangenen Wochen die Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagierten, Menschen, die sicherlich das eine oder andere unterscheidet: junge linke Studenten und Studentinnen, christliche Caritas-Helfer, SPÖ-Bezirksräte, Grüne Abgeordnete, Sängerinnen, Comedians, Journalisten, Schriftsteller, ÖVP-Stadträte von Kleinstädten, junge Migranten und Migrantinnen der zweiten Generation aus der Türkei, aus dem Iran, aus Syrien und aus Ägypten, Hausfrauen und alleinerziehende Mütter, Hippies und Bäuerinnen, Schaffner und Schwarzfahrer, Filialleiterinnen von Unternehmen, Facharbeiter aus Fabriken, Rentner und Rentnerinnen, Banker, Freiberufler und geringfügig Beschäftigte, hetero, schwul, lesbisch, sonstwie – die Liste ließe sich endlos fortsetzen -, also ganz viele Menschen, die natürlich in Lebensstil und Lebensalter recht unterschiedlich sein mögen und auch leicht unterschiedliche politische Auffassungen haben, aber auch nicht allzu sehr voneinander abweichende, jedenfalls nicht grundsätzlich und eminent einander widersprechende; in allen Umfragen zeigt sich, dass diese Menschen die Mehrheit im Land stellen, und bei den Wiener Wahlen beispielsweise werden die Parteien, die diese Menschen wählen und die auch mehr oder weniger die Auffassungen repräsentieren, die diese Menschen haben, rund 60 Prozent der Stimmen erhalten (eher mehr) – aber nie würden diese Menschen von sich sagen, sie seien die „normalen Bürger“. Als die „normalen Leute“ sehen sie immer andere an, die – verglichen mit ihnen – aber eigentlich eine recht kleine, möglicherweise sogar verschwindende Minderheit darstellen. Denn selbst unter den FPÖ-Wählern und deren Funktionären sind ja die Eingang skizzierten „Karikaturen der Normalität“ nur eine ganz kleine Minderheit, das zeigt sich ja auch an den vielen FPÖ-Funktionären, die mittlerweile selbst in Flüchtlingsunterkünfte kommen und sagen, ‚wir wollen mithelfen, aber sagt es nicht unserer Partei‘.

Kurzum: Das „Normale“ ist heute das Buntscheckige, das rund sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung ausmacht, dessen Angehörige aber nur sehr selten auf die Idee kämen, sich als „normale, gewöhnliche Leute“ zu betrachten. Zum Teil aus blöden Gründen: Wer will denn schon „normal“ oder „gewöhnlich“ sein? Jeder will doch ein einzigartiges, außergewöhnliches Individuum sein, da ist es natürlich schöner, wenn man irgendwelche anderen als normal, als gewöhnlich zusammenphantasieren kann. Zum Teil auch aus verständlichen Gründen: Es ist recht schwer, sich die „Normalität“ als buntes Flickwerk des Heterogenen und zugleich Ähnlichen vorzustellen, da in unserem Kopf das „Normale“ immer noch eher mit Homogenität verbunden ist. So ein wenig wie in den siebziger Jahren, in denen die „normalen“ Leute Gardinen vor den Fenstern hatten, und nur irgendwelche Freaks eben keine.

Aber let’s Face it: Die „Normalen“ sind wir. Ich, Du, Ihr, Sie – wir sind alle die „Normalen“, weil die Normalität heute von einer Vielfalt gebildet wird, die heterogen ist aber doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist.

Jedenfalls sind die Anderen nicht „normaler“ als wir, in keiner der denkbaren sinnvollen Bedeutungen des Wortes.

Man muss das nur einmal verstehen und dann akzeptieren: Dann tut es auch gar nicht mehr weh, „normal“ zu sein. Es ist, im Gegenteil, sogar ziemlich schön.

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Ein Gedanke zu „Die Normalen sind wir“

  1. Der „Normale“ sieht sich auch als Teil einer Mehrheit, die die „nicht Normalen“ ausgrenzt (Gutmenschen, „die da oben“, die Schwulen, die Ausländer, die Linken usw.). In diesem Sinne wäre „Normalität“ gleichbedeutend mit, „wir sind das Volk“, also die „Überzahl“, die schweigende Masse, die zwar per Definition nichts sagt, aber gehört werden will. Die „Normalität“ als Vielfalt zu beschreiben, wäre dann nicht im Sinne dieser „Normalen“, die doch ihre „Normalität“ als Gemeinsamkeit von Gleichgesinnten verstehen.

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