Wer hat die kritischere Kritik?

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz. 24. Dezember 2015

In der Wiener „Presse“ erschien diese Woche ein Gastkommentar, in dem mal wieder das Abendland untergeht. „So verkündete die evangelische Bischöfin Eva Brunne, man solle die Kreuze an der Seemannskirche in Stockholm entfernen, da sie eine ‚Beleidigung‘ für die muslimischen Mitbürger seien“, schreibt die Autorin, und man kann sich bildlich ausmalen, wie sie vor Panik bibbert angesichts von Muslimhorden, die den Westen entchristianisieren. Macht man dann ein paar Klicks im Internet, kommt man schnell drauf, wie sich die Sache wirklich verhält. Es stellt sich heraus, dass die Bischöfin das überhaupt nicht in Hinblick auf muslimische Flüchtlinge oder Migranten vorgeschlagen hat. Die wahre Geschichte ist so:

Die Kirche ist, wie der Name schon sagt, eine „Seemannskirche“. Das heißt, hier kommen – wenn überhaupt – Gläubige aus vielen Ländern her. Im Vorstand der Kirche hatte man nun die Frage diskutiert, was denn wäre, wenn Schiffe aus anderen Weltreligionen stranden, Schiffbruch erleiden, oder längere Reparaturen durchführen müssen. Daraufhin hat man als Möglichkeit erwogen, die Kirche – wie die vielen multireligiösen Gebetsräume auf Flughäfen, in Krankenhäusern etc. -, auch muslimischen, buddhistischen, hinduistischen etc. Seefahrern zur Verfügung zu stellen. Und dafür Teile der Kirche „optisch zu neutralisieren“, also christliche Symbole temporär zur Seite zu rücken. Und außerdem mit einem Wegweiser die Richtung nach Mekka zu markieren. Gescheit? Kann man diskutieren. Skandal? Sicher keiner.

Es geht in dem Kommentar weiter mit paranoider Faktenverdrehung: „Muslime klagen vermehrt, man fühle sich durch die vielen Weihnachtsmärkte beleidigt.“ Häää? Wer? Wo? Wann?

Ebenso in Wien spielte sich folgende Episode aus der Abteilung Paranoia ab. Ein Islamwissenschaftler arbeitete an einer Studie über Kindergärten, die von muslimischen Vereinen betrieben werden. Bis jetzt hat er es zu einer „Vorstudie“ gebracht, für die er fünf Kindergruppen besuchte, mit neun (!) Eltern sprach und auch noch 24 Kindergruppen googelte. Bald hieß es, es gäbe bis zu 150 salafistische Kindergruppen. Sofort war von „tausenden“ Kindern die Rede, die hier indoktriniert werden. Integrationsminister Sebastian Kurz (im Hauptberuf ist er Außenminister), sprach nach kurzer Zeit bereits von „zehntausend Kindern“. Noch ein paar Tage mediale Aufregung, und es würden wohl mehr Kinder in Dschihad-Kindergärten vermutet, als es Kinder im entsprechenden Alter gibt.

Wer dann realistisch und lebensnah einwendet, dass es wohl schon ein paar Kindergärten gibt, in denen es Probleme mit Frömmlerei und Abschottung gibt und dass das wohl schon zwanzig oder dreißig Kindergärten betreffen wird, der muss sich dann gleich der „Verharmlosung“ des „Skandals“ zeihen lassen. Merke: Wenn die Überspanntheit der Normalbetrieb ist, ist der Realismus eine „Verharmlosung“.

Aber man soll ja nicht nur auf die Anderen, also die überspannten Christenfundis, Rassisten und Muslimbasher zeigen. Ostentativen – und auch subtilen – Irrsinn gibt es bei den Linken ja selbst genug, und nicht nur bei der Aluhutfraktion, die in den letzten Jahren die „Friedensbewegung“ unterwanderte.

Ich, beispielsweise, habe mich ja auch über den schönen Wahlerfolg von Podemos in Spanien gefreut. Aber Podemos und auch der Rest der spanischen Linken haben in den vergangenen Monaten Töne angeschlagen, bei denen nicht immer sicher war, ob berechtigte Kritik nicht in alarmistische Überspanntheit umschlägt. Das etablierte System haben sie als „La Kasta“ bezeichnet, also das Zwei-Parteien-System von konservativer PP und sozialdemokratischer PSOE und das damit verbandelte, verfilzte Netzwerk der ökonomischen Eliten. Der Schlüsselbegriff, der sich dafür eingebürgert hat, war der des „Systems von 1978“.

blogwertDamit ist gemeint, dass sich die Erben des Franco-Faschismus ein neues, korruptes Zwei-Parteien-System gebastelt und somit ihre Macht zementiert haben. Damit wurde aber unterstellt, dass es überhaupt keinen Systembruch gegeben habe, dass zwischen Faschismus und dem Nach-78er-Spanien kein großer nennenswerter Unterschied bestünde. Und das ist natürlich Unsinn. Was immer man über das Spanien, etwa von Felipe Gonzales, sagen kann, es war auch eine demokratische und ökonomische Erfolgsstory – und gewiss nicht eine Fortsetzung des Faschismus mit modernisierter Fassade.

Auch das ist ein Zug der Zeit, dass wir uns die Wirklichkeit schlechter reden als sie ist. Gewissermaßen als Wettbewerb: Wer hat die kritischere Kritik!?

Angesichts dessen, muss ich zugeben, „verharmlose“ ich ganz gerne.

Ein Gedanke zu „Wer hat die kritischere Kritik?“

  1. Vorweg:

    1.Monarchie: Franco ernennt den Prinzen Juan Carlos zum König und Nachfolger der Herrschaft.
    Die PSOE und PCE stimmen der konstitutionellen Monarchie zu.

    2. straferlass: Der Staatsapparat aus Zeiten der faschistischen Diktatur wird in den folgenden bürgerlichen Staat übernommen. Straferlässe für die Verbrechen der Franco Diktatur. Bis heute.

    3.Unteilbarkeit: Die Einheit Spaniens ist von der Armee sicher gestellt. Dies ist ein wesentliches Merkmal des spanischen Staats. Es gibt innerhalb der bürgerlichen Rechtsmässigkeit keinen Raum für ein ordentliches Selbstbestimmungsrecht der Völker.

    Das ist die Kritik an der 78er Verfassung und da kann man nicht so tun als wäre das was zum feiern – im Gegenteil. Also kann man schon, aber auf wessen Seite steht man dann?

    Das gegenwärtige Verhalten von Podemos erinnert stark an die PCE und die PSOE in den 30er und 70er Jahren.
    Einer der wichtigsten Aufgabe der Linken muss es dementsprechend heute werden, sich mit dem Weg der Prinzipienlosigkeit,welche die Reformisten auf Schritt und Tritt verfolgen, auseinander zu setzten. Um zu verhindern, dass wir uns in ähnliche Situationen bewegen. Es braucht demnach eine Analyse der politischen Grundlage dieser Parteien.
    (Ihr empfehlen sich einzureden, es ist gut so wie es ist, was war und kommen wird und diese unkritische Denkweise zu leben, ist das was nicht die gesellschaftliche lage von 90% empfängt.)

    Bemerkenswert ist nämlich der Wandel, der sich in der Linken vollzogen hat. 1977 kämpfte die PSOE noch unter dem Banner der Republik und stellte sich klar gegen die Monarchie. Ebenfalls war das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein wichtiger Bestandteil ihres politischen Programms. Jedoch anstatt die revolutionären ArbeiterInnen zu bestärken, paktierten sie 1978 mit der Bourgeoisie.
    In der Situation war deutlich mehr angelegt. Angesichts der breiten Mobilisierung und Radikalität der ArbeiterInnen wäre der Sturz des Kapitalismus möglich gewesen. Stattdessen warfen die reformistischen Führungen alle ihre Forderungen, wie sozialen prinzipen ihres programms über Bord und wurden zur wichtigsten Stütze des spanischen kapitalistischen Handel und Produktion.

    Die Hauptverantwortung für den Verrat an den ArbeiterInnen trägt hier die PCE. Sie war die grösste, einflussreichste Arbeiterpartei mit zehntausenden ehrlichen AktivistInnen. Wie die PSOE verfolgte die PCE eine reformistische Politik. Die Führungen der beiden Parteien verwiesen darauf, dass die 78er-Verfassung der einzige Garant für eine «stabile Demokratie» sei. Eine Demokratue die nicht im sinne der Arbeiter ist. Schnell hat die Führung vergessen, dass diese Demokratie blutig von den ArbeiterInnen erkämpft werden musste. Sie waren felsenfest der Überzeugung, dass eine Verfassung mit demokratischen Grundsätzen, der einzige Weg sei, um die Forderungen der ArbeiterInnen umsetzten zu können.
    Angesichts der schweren Krise, aich und vor Allem in Spanien seit 2008, stellte sich diese Ansicht, als falsch heraus.

    2011/12: In Spanien kommt es zu schweren Protesten gegen die Regierung. Aus der «Indignados-Bewegung» entsteht die linksreformistische Partei Podemos. An ihrer Spitze steht Pablo Iglesias. Der spanischen Politik wird ein junger, radikaler und frischer Wind um die Ohren gewedelt. 2014 gewinnt Iglesias sogar einen Sitz im europäischen Parlament ein Hashtag „Pablo Iglesias“ ist nach den Wahlen der Twitter Hit.
    Warum?
    Iglesias ging damals mit der spanischen Regierung hart ins Gericht. In seiner ersten Ansprache als Generalsekretär von Podemos kritisiert er die Verfassung von 1978: «Wir fordern einen konstituierenden Prozess, um die Ketten der 78er-Verfassung zu sprengen, mit allen über Wirtschaftsdemokratie und die Nationale Frage zu diskutieren.» Mit dieser Ansage greift Iglesias den Unmut der Bevölkerung auf – erreicht damit vor allem die Jugend – und richtet sich somit gegen die verhassten und korrupten herrschenden Eliten.

    Drei Jahre später: Es bricht der Konflikt in Katalonien offen auf. Podemos spricht sich gegen das Referendum und die Unabhängigkeit Kataloniens aus.
    So kommt was kommen muss, es kommt zu Problemen mit der katalanischen Sektion «Podem», welche die Durchführung des Referendums unterstützte, aber die Enthaltung vorschlug.
    In einem Interview pocht Iglesias auf das «plurinationale Spanien» und bezeichnete die 78er-Verfassung als den wichtigen «Kompromiss, der eine gute Lösung war und Spanien einte.»

    Die radikalen Worte und Angriffe von Podemos sind wie vom Winde verweht. Man verteidigt die Verfassung. Dafür büsste Podem bei der Wahl (21. Dezember 2017) in Katalonien ein, wo sie drei von elf Sitzen verliert.
    Unverweigerlich führt dieser Schlenkererkurs die Podemos in eine politische Krise, die immer noch ungelöst andauert.

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