„Ich möchte eine europäische Kuh sein“

Martin Caparrós über den Hunger, das „größte lösbare Problem der Welt“.

caparrosZiegeldick und packend – es ist eines der bemerkenswertesten Bücher der Saison. Martin Caparrós Buch „Der Hunger“, das unlängst im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Caparros erzählt von Müttern und Familien aus dem Niger, trifft Verhungernde in Kalkutta, beschreibt aber auch die politischen Folgen des Hungers in der Geschichte. Er sieht sich an der Weizenbörse von Chicago um. Ja, er dreht das seltsame Wort „Hunger“ selbst hin und her, das sowohl chronischen Hunger und Unterernährung meint, als auch ein Gefühl, das jeder von uns zwei Mal am Tag hat, als auch metaphorischer die Begierde, den Heißhunger. Er versucht die Verheerungen des Hungers so akkurat als möglich zu beschreiben, nicht zuletzt, weil Phrasen wie „der Hunger in der Welt“ mittlerweile so sehr zum Gemeinplatz wurden, dass sich niemand mehr die Mühe macht, sich wirklich Konkretes darunter vorzustellen, sodass es sogar längst möglich ist, jene, die den „Hunger in der Welt abschaffen“ wollen, als Gutmenschen ins Lächerliche zu ziehen. Caparros Buch ist nicht nur deshalb so brillant, weil er die Orte der Verheerung besucht hat, sondern weil der argentinische Intellektuelle auch so eine großartiger Stilist und Denker ist, der vermag, das, was er gesehen hat, in grandiose Sätze und Gedanken zu transformieren.

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Der „Hunger in der Welt“ ist heute schon so ein Schlagwort, sie nennen es auch ein Klischee. Jeder kennt jemanden, der an Krebs erkrankt ist oder starb – aber niemand kennt jemanden, der hungert. Sie kämpfen richtiggehend damit, den Hunger zu beschreiben. War das Ihr Ziel, diese Wand der Ignoranz zu durchbrechen?

Caparros: Deswegen wollte ich mit so vielen Hungernden wie möglich sprechen. Weil der Hunger etwas ist, was wir uns ja gar nicht vorstellen können. Ich wollte sogar etwas tun, was ich dann nicht tat, nämlich selbst hungern – für eine Woche oder zwei. Aber es war mir schnell klar, dass alles, was ich tun könnte, mir nie erlauben würde, wirklich zu realisieren, wie sich jemand fühlt, der hungert und nicht weiß, wo er morgen und übermorgen oder in einer Woche etwas zum Essen herbekommt.

Sie sagen an einer Stelle, wären Sie mutig, dann hätten Sie in das Buch keine einzige Zahl hineingeschrieben – weil schon Zahlen wie „900 Millionen Menschen hungern“ eine solche Abstraktion darstellen, dass man gleich die Ohren zuklappt.

Caparrós: Deshalb habe ich viele Menschen gefragt, wie es ist, zu hungern. Und manche sagten, sie fühlten sich zum Verrücktwerden, andere wiederum völlig irritiert, andere wiederum depressiv. Es gibt offensichtlich kein Muster. Sehr bemerkenswert fand ich, dass die Wenigsten sich vorstellen können, wie sie aus dieser Lage herauskommen könnten. Gut, manche hatten eine Vorstellung eines individuellen Ausweges, aber kaum jemand hatte eine Idee für eine kollektive Lösung dieses Problems, also für eine generelle Abschaffung oder Überwindung des Hungers.

Welche Art von individuellen Ausweg?

Caparrós: Nun, irgendeinen Job zu finden, wegzugehen…

Viele der Hungernden, die Sie beschreiben, etwa in der Provinz, am Land, können sich nicht einmal vorstellen, in eine der Städte wie Bombay oder Delhi zu gehen. Schon dafür bräuchten sie ein paar Dollar, um es zu schaffen.

Caparrós: Nun, es gibt natürlich einige, die das versuchen. Aber es ist tatsächlich im allgemeinen so, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie eigentlich gar nichts tun können. Extreme Armut und Elend rauben einem schlicht auch die Vorstellungskraft. Ich habe eine Frau gefragt, was sie sich denn wünschen würde, wenn sie einen Wunsch frei hätte, von einer Fee oder einem Zauberer? Und sie sagte: Eine Kuh. Ich erwiderte: Nein, was würdest Du Dir so richtig wünschen? Da sagte sie: Zwei Kühe. Da müsste ich nie wieder hungern.

Das meistverbreitete Muster von Hunger – wie würden sie das beschreiben?

Caparrós: Jedes Jahr sterben 9 Millionen Menschen an Hunger – das heißt, an Ursachen, die mit dem Hunger verbunden sind. Das heißt natürlich nicht, dass sie schier „verhungern“, so wie man verhungert, wenn man dreißig Tage gar nichts isst. Sie sterben, weil sie Krankheiten bekommen, die einen ordentlich genährten Menschen nichts ausmachen würden. Das weitest verbreitete Muster ist somit, dass Leute chronisch über lange Zeit viel zu wenig oder viel zu schlechte Nahrung zu sich nehmen. Sie haben manchmal etwas, dann wieder nicht, dann wieder etwas mehr. Gewiss, in manchen Situationen ist der Hunger Folge einer Not, einer Ausnahmesituation. Aber das ist nicht die Regel. In vielen Gegenden, etwa in Indien, ist Hunger und Unterernährung fast schon ein üblicher Habitus, es ist Normalität, und, so schrecklich das klingt, die Menschen adaptieren sich daran.

Der Hunger ist Alltag…

blogwertJa. Sehr häufig sind auch Fälle wie diese: Mütter, die glauben, sie würden ihre Kinder ordentlich ernähren, indem sie ihnen Hirsebälle oder Reisbälle geben, das heißt, Hirse und Reis mit Wasser vermischt – und das täglich. Und das ist natürlich absolut nicht ausreichend, es hat nicht genügend Kalorien, nicht genügend Nährstoffe. Die Kinder sterben daran, aber die Mütter wissen nicht einmal, dass ihre Kinder nicht ausreichend ernährt werden. Wenn man diesen Müttern das dann sagt, sind sie so enttäuscht, und auch beschämt.

Frauen und Männer hungern ohnehin anders, nicht wahr?

Caparrós: Natürlich: Mütter kümmern sich. Väter gehen oft weg. Es gibt Gender-Hunger. In vielen Familien ist es so, dass die Frauen nichts zu essen bekommen, wenn es zu wenig Essen gibt. Ich habe in China etwa mit einem Mann aus einer sehr armen Familie gesprochen, der mir erzählt hat, dass er immer etwas zu essen bekam, aber seine Schwestern nicht. Ich sagte, Deine Schwestern müssen Dich hassen! Er guckte mich an, er verstand nicht, was ich meinte und fragte: Warum? Es ist in vielen Orten total akzeptiert, dass die Frauen nicht essen, wenn es zu wenig essen gibt.

Was auch heißt: Wenn Mütter zu wenig essen, haben sie zu wenig Milch, also essen die Babys auch nicht.

Caparrós: Ja, und das führt zu schrecklichen Zwangslagen. Eine Mutter in Indien berichtete, dass sie eigentlich essen müsste, um ihr Baby mit Muttermilch versorgen zu können. Wenn sie aber isst, kann ihr größeres Kind nichts essen. So weiß sie nicht, was sie tun soll.

In diesen Gegenden, in denen viele Frauen sieben Kinder haben, von denen aber durchschnittlich drei sterben, sei, so schreiben Sie, „jeder Erwachsene ein Überlebender“, also jemand, der nur durch Zufall, eine Laune der Natur davongekommen ist.

Caparrós: Es war wahrscheinlich der beschämendste Moment für mich, als ich in einem Spital in Niger mit einer alten Dame sprach, also, sie wirkte wie eine alte Dame, aber sie war natürlich nicht sonderlich alt, da sie ein kleines Kind hatte. Sie erzählte mir, dass sie sechs oder sieben Kinder hatte, von denen nur drei überlebten. Ich fragte sie, ob sie denn damit rechnete, dass einige ihrer Kinder sterben würden. Sie war von dieser Frage so betroffen, und sagte: „Natürlich nicht – wenn Du Kinder zur Welt bringst rechnest Du doch nicht dass sie sterben.“

Wir denken spontan, wenn wir von Hunger sprechen an „Nahrungsmittelmangel“, dass das Problem also eines des Mangels ist. Dabei, so schreiben sie, sind die Ursachen des Hungers nicht Mangel, sondern Eigentumsrechte und Handel.

Caparrós: Der Grund ist, dass die Nahrungsmittelproduktion nur auf die reichen Märkte ausgerichtet sind. Was das Essen betrifft, etwa Fleischproduktion für europäische Märkte. Und alle Nebenaspekte: Eine Tankfüllung Ethanol enthält so viel Mais, dass man ein Kind ein Jahr ernähren könnte. Dazu kommen noch einige Nebenaspekte, wie die Subventionen der Nahrungsmittelmärkte in Europa etwa. Ich habe mit einem Inder gesprochen, der sagte, in meinem nächsten Leben möchte er eine europäische Kuh sein – weil jede europäische Kuh wird jeden Tag mit 2,50.- Euro subventioniert. So viel Geld wird er nie sehen! Gleichzeitig, wenn wir in Frankreich den Strom andrehen, benutzen wir das Uran, das zu Spottpreisen aus Niger von französischen Firmen gefördert wird.

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