„Wir nehmen uns die Plätze“

Seit Ende März demonstrieren zehntausende junge Leute auf der Pariser Place de la Republique. Aber kann die „Nuit debout“-Bewegung etwas bewirken?

Für Zeit-Online, 21. April 2016

Es gibt von Slavoj Zizek eine längst legendäre Videoaufnahme, als er am Höhepunkt der Occupy-Wall-Street-Bewegung auf dem New Yorker Liberty-Plaza eine Rede hält. Da Mikrophone nicht erlaubt sind, spricht Zizek immer einen oder zwei Sätze, die dann von den hunderten Nächststehenden laut wiederholt werden – sodass auch die tausenden anderen etwas hören können. Zizek, mit seinem schweren, osteuropäischen English – stets wiederholt von einem vielhundertköpfigen Chor. Ein witziges Dokument.

„Es gibt eine Gefahr“, sagt er am Ende seiner Rede. „Verliebt Euch nicht zu sehr in Euch. Wir haben hier eine schöne Zeit. Aber vergesst nicht, Karneval ist einfach. Was aber zählt, ist der Tag danach. Wird sich danach etwas geändert haben? Ich will nicht, dass Ihr Euch irgendwann an diese Tage erinnert und das einzige, was man sagen kann, ist: ‚Oh, wir waren jung und es war großartig.'“

Nachdem die Besetzungsbewegung folgenlos versandet und in die üblichen linken Basisrituale versunken war, fragte „Le Monde Diplomatique“ ein paar Monate später: „Warum ist sie (die OWS-Bewegung) gescheitert und hat alle zunächst so hoffnungsfrohen Erwartungen krass enttäuscht? Warum versinken selbst die populärsten Aktionen der Linken früher oder später in einem Gebräu aus akademischer Rhetorik und sinnloser antihierarchischer, antietatistischer Kraftmeierei?“

Fünf Jahre später bietet die Place de la Republique in Paris ein ähnliches Bild wie Lower Manhattan 2011. Tausende Junge Leute haben nach einer Großdemonstration Ende März den zentralen Platz abends besetzt, um die Nacht über da zu bleiben. „Nuit debout“, heißt die Bewegung, was grob mit „Nachts aufstehen“ übersetzt werden kann. Zelte wurden errichtet, es gibt Vollversammlungen und politische Diskussionsrunden. „Sie haben Milliarden, aber wir sind Millionen“, steht auf einem Transparent. Ausgangspunkt der Bewegung sind geplante neoliberale Deregulierungsmaßnahmen, aber wie immer geht es längst um mehr: Gegen eine visionslose Politik des „weiter so“, gegen das Europa der Austeritätspolitik und so irgendwie für eine bessere Welt. Vergangenes Wochenende hat Yanis Varoufakis vorbeigeguckt und erzählt, dass er als Finanzminister in einem Hochhaus residierte und von seinem Büro aus auf den Syntagma-Platz geblickt hat, den zentralen Platz vor dem Athener Parlament. „Neunzig Tage lang hatten wir diesen Platz besetzt, das ist der Platz, auf den ich gehöre, nicht dieses Büro“, habe er einem Besucher erklärt, erzählt er.

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Varoufakis Geschichte ist mehr als nur ein herzerwärmendes Appercu, das die Besetzer auf der Place de la Republique naheliegenderweise gerne hören. Diese Schnurre wirft direkt die Frage der Wirksamkeit von Bewegungen wie „Nuit debout“ auf. Denn so folgenlos, wie gerne unterstellt, verpuffen solche Bewegungen auch wieder nicht. Bloß, ist die Wirksamkeit nicht leicht messbar und die Kapillaren und Umwege, über die sie ihre Wirksamkeit entfalten, sind nicht immer offensichtlich. Aber natürlich kann man auch sagen: Ohne die Occupy-Wall-Street-Bewegung wäre der erstaunliche Erfolg der Bernie-Sanders-Kampagne bei den Vorwahlen der US-Demokraten völlig unmöglich gewesen. Die Bewegung der „Indignados“ – „der Empörten“ – in Spanien wiederum war eine Zufuhr politischer Energie, die ganz erhebliche Folgen zeitigte und die Syntagma-Besetzer schufen mit ein politisches Klima, das den zweifachen Wahlsieg der linken Syriza-Partei 2015 erst ermöglichte.

In Spanien besetzten im Jahr 2011 tausende junge Menschen am 15. Mai die Puerta del Sol im Zentrum Madrids – weshalb üblicherweise von der 15M-Bewegung gesprochen wird. Damals regierte noch die sozialdemokratische Zapatero-Regierung, die aber die Austeritätspolitik nach der Finanzkrise einfach exekutierte. Die Bewegung richtete sich dagegen, aber auch ganz generell gegen das verkrustete Zwei-Parteien-System von sozialdemokratischer PSOE und konservativer PP. Kurzfristig profitierte die konservative Volkspartei vom Niedergang der PSOE. Die Basisbewegung konnte unmittelbar im Zentrum des politisches Geschehens nicht wirksam werden. Aber sie etablierte langfristige Aktivistennetzwerke und elektrisierte eine ganze Generation. Wenige Jahre später wurde die Linkspartei Podemos gegründet, die bei den jüngsten Parlamentswahlen die Sozialdemokraten beinahe einholte und auf Anhieb 20 Prozent schaffte. Noch interessanter ist aber womöglich, dass linke Basisbewegungen Wahlbündnisse schmiedeten, die in vielen großen Städten die Mehrheit gewonnen hatten, etwa in Madrid, in Barcelona und anderen Städten. Die charismatische Ada Colau etwa, die davor an der Spitze einer Bewegung gegen Delogierungen aktiv war, ist heute Bürgermeisterin von Barcelona. In vielen Regionen koalieren die bunten Bewegungsparteien schon mit der sozialdemokratischen PSOE. „Wir sind die Rebel Cities, die rebellischen Städte“, sagt Gerardo Pisarello, der Vizebürgermeister von Barcelona.

Die neuen Bewegungen können also durchaus Energiezufuhren für das demokratische System sein, die Wirksamkeit entfalten. Dabei sind sie freilich nie bloße Fußtruppen linker Parteien. Selbst die neue spanische Linkspartei Podemos tut sich schwer mit den losen, fluiden Netzwerken, da sich deren Protagonisten nicht gerne vereinnahmen lassen – auch von rebellischen Linksparteien nicht. „Die 300.000 Menschen, die am 15. Mai 2011 auf über 80 Plätzen in Spanien zusammenkommen, sind ein bisschen liberal, ein bisschen links, ein bisschen internet-affin und politisch oft völlig unerfahren“, beschreibt der Berliner Autor Raul Zelik die Szenerie. Mehr noch: die meisten derer, die zusammenkommen, sind von all dem ein bisschen zugleich. Parteikader sehen anders aus.

In Griechenland war das nicht anders. Die Besetzung des Syntagma-Platzes und die Netzwerke, die daraus hervorgingen, markierten erst so etwas wie den Beginn einer modernen Zivilgesellschaft in Griechenland. Alteingesessene Parteien fanden daran überhaupt keinen Anschluss mehr, aber auch organisierte Linksparteien wie Syriza mussten den Umgang mit den antihierarchischen Bewegungen erst lernen. „Das Phänomen Syntagma vertrieb aber den Pessimismus und die ‚linke Melancholie‘, die sich über Griechenland gesenkt hatte“, schreibt der linke griechische Philosoph Costas Douzinas. Alexis Tsipras Wahlsiege sind die Folge davon.

Natürlich ist nicht gesagt, dass die „Nuit Debout“-Bewegung in Frankreich vergleichbare Resultate zeitigen wird. Vielleicht ist sie in einer Woche schon entschlafen, vielleicht aber auch nicht. Das lässt sich nie genau prognostizieren. Die Sozialistische Partei von Präsident Francois Hollande ist abgewirtschaftet, aber es steht keine modernere Linkspartei bereit, die sie kurzfristig beerben wird. Bei den Wahlen wird die konservative Rechte und die extreme Rechte die Unzufriedenheit für sich lukrieren können.

Was die Bewegungen zum Ausdruck bringen ist der Verdruss an einer abgehobenen, technokratischen Elite, die aber nicht nur abgehoben ist, sondern nichts mehr zustande bringt. Die Bewegungen sind getragen von jungen Leuten aus der gut gebildeten Mittelschicht, die viele Skills haben, und eher der fluiden Kooperation als starren Apparaten vertrauen – sowohl in Alltag und Job wie in der Politik. Die auch genug haben von einer Politik, die niemanden mehr Hoffnung zu geben vermag. Das klingt jetzt klischeehaft, ist es aber nicht: das sind, ganz schlicht, die Motive. Weder glauben die jungen Leute auf der Place de la Republique an die Vernünftigkeit eines simplen „weiter so“, noch daran, dass Maßnahmen im Stile der Hartz-„Reformen“ eine besonders smarte zeitgenössische Antwort seien. Und, was oft vergessen wird: Die Proteste spielen sich in einem Land ab, in dem nach zwei Terroranschlägen die Angst regiert und offiziell der Ausnahmezustand herrscht, ein Klima allgemeiner Bedrücktheit.

Bei allen Differenzen haben diese Proteste sehr viele gemeinsame Muster: Sie sind getragen von jungen Leuten, aus verschiedensten sozialen und auch ethnischen Milieus. Die linken Polit-Kader alten Typs sind nicht mehr dominant. Die Bewegungen sind sehr darum bemüht, keine Hierarchisierungen entstehen zu lassen und wollen neue Formen des Demokratischen ausprobieren, Formen, die nicht nur für Außenstehende oft mühsam anmuten. Es ist eine Demokratie-Party und es ist nicht immer klar, ob der Schwerpunkt jetzt auf Demokratie oder auf Party liegt. Das elementare Muster des Protestes ist immer, sich auf maximal sichtbare Weise einen zentralen, symbolträchtigen Platz einfach zu nehmen, zu erobern. Keine großen Märsche, sondern Landnahme, verbunden mit dem Aufbau einer eigenen Infrastruktur. Bewegungen, die gewissermaßen eine Adresse haben, mit der sie verbunden sind. „Wir nehmen uns die Plätze“, ist eine oft gehörte Parole. Das allein ist schon bemerkenswert: Es ist offenbar die globale Protestform unserer Epoche – das Besetzen von Plätzen. Tahrir-Platz in Kairo, Liberty Plaza in Manhattan, Admirality-Platz in Hongkong, Gezi-Park in Istanbul, Syntagma, Puerta del Sol und jetzt Place de la Republique.

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