„Europa wieder Leben einhauchen“

Zum Thema Europa – can we fix it, haben der Theatermacher Milo Rau und ich für das Programmmagazin des „Steirischen Herbstes“ einen E-Mail-Dialog geführt.

Robert: Can we fix it – Wir schaffen das: Über dieses Generalthema des Steirischen Herbstes sollen wir diskutieren. Können wir das schaffen in Europa? Aber was wäre denn das „das“? Ist das nicht so eine Frage, die so inhaltsleer ist, dass sie an jeden gerichtet werden könnte? Das ist eine Frage, die kann man an Dich, an mich oder an Wolfgang Schäuble oder an Herrn Hollande richten. Alle vier würden dann sagen: Ja, das schaffen wir. Oder: Wir schaffen das nicht. Bloß, alle würden unter „das“ etwas ganz anderes verstehen. Womöglich ist das ja schon ein Teil des Problems: Diskurse, die sich nur mehr auf das „schaffen“ konzentrieren, ohne die entscheidende Frage, was denn überhaupt geschafft werden sollte, zu thematisieren – sei es aus Feigheit, sei es aus Phantasielosigkeit. Also: Willst Du „ES“ überhaupt schaffen? Und wenn ja: Was wäre das „ES“ oder das „DAS“ in diesem Satz?

Milo: Das stimmt: Europa ist ein „ES“, fast im Sinn von Lacan – etwas, das es gewissermassen „schon immer“ gibt, unabhängig vom Willen oder der bewussten Wahrnehmung der europäischen Bürgerinnen und Bürger. Ob Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Grexit oder Brexit: Man macht einfach weiter, durch alle Krisen und Widersprüche hindurch, ohne zu wissen, warum oder wohin. Diese „Natürlichkeit“ des europäischen Gefühls ist überraschend, vor allem da es völlig unspezifisch und in keiner Weise popkulturell verwurzelt ist. Als in Grossbritannien für den Austritt aus der EU gestimmt wurde, hatte ich am Tag danach ein Call-In-Radiogespräch mit dem Journalisten Alan Posener. Die Anrufer waren völlig vor den Kopf gestossen, aufgebracht, fast so, als wäre Bayern aus Deutschland ausgetreten. Die Karikaturen der folgenden Tage zeigten die Briten (und eigentlich ja die Engländer, da – wie die Medien betonten – die Schotten mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt hätten) abwechslungsweise als postpubertäre Gambler und Egoisten, ökonomische Idioten und schliesslich rückwärtsgewandte Melancholiker. Natürlich ist das eine sehr deutsche mediale Wahrnehmung, aber trotzdem zeigt die Mischung dieser drei Qualitäten, wie die EU imaginär repräsentiert wird: als paternalistische Solidargemeinschaft, für deren Führung gemeinsam mit Deutschland und Frankreich sich die Briten als zu unreif erwiesen hatten; als Verwirklichungsapparat wirtschaftlicher Vorteile, also Europa als Einheitsmarkt und grosser Trust nach dem Motto „To Big to Fail“; und schliesslich – und dies ist ebenfalls sehr deutsch – Europa als postnationale und posthistorische Absage an die ideologischen Verwirrungen des 20. Jahrhunderts. Ich denke, dass diese drei Punkte den imaginären Stand des realpolitischen und imaginären ES Europas sehr gut zusammenfassen: paternalistische Solidargemeinschaft, imperiale Freihandelszone, humanistisch überhöhte Absage an alles Politische – die drei imperialen Grundtugenden gewissermassen. Und wenn ich dann in mich gehe, und mich frage: Will ich DAS wirklich schaffen, so sehr ich die nationalen Pendants oder gar den Imperialismus des 19. Jahrhunderts ablehne, dann ist meine Antwort sehr klar: Nein. Was aber wäre ein anderes DAS oder ES? Eine andere Möglichkeit, das europäische Projekt zu denken?

Robert: Ich teile Deine Analyse, habe aber auch immer die Fragen des Praktikers im Kopf, wenn Formulierungen kommen, wie das „europäische Projekt zu denken“. Einerseits braucht es natürlich diese großen Pläne, aber andererseits wissen wir auch, dass die großen Pläne leicht Kopfgeburten bleiben. Erst recht, wenn es um Fragen der institutionellen Neuordnung der Europäischen Union geht. Denn natürlich sind diese institutionellen Fragen extrem wichtig, weil gerade das, was Du als politisches Projekt skizzierst, jenseits des technokratischen Projektes, ja zunächst einmal als Voraussetzung eine institutionelle Ordnung verlangen, innerhalb derer überhaupt politisch gedacht, gestritten und entschieden werden kann. Das ist aber überhaupt nicht möglich, wenn 27 nationale Player, dazu noch EU-Parlament, dazu noch Kommission, stets irgendwelche Kompromisse finden müssen. Insofern ist das Post-Politische in die institutionelle Ordnung schon eingeschrieben. Andererseits fürchte ich, dass wir die institutionelle Ordnung nicht verändern können, solange die Legitimität des europäischen Projektes in den Augen der Menschen abnimmt. Die Katze beißt sich also in den Schwanz. Um die Probleme mit dem Projekt Europa zu bekämpfen, bräuchte man eine konstitutionelle Etablierung der Union zu einem echten politischen Gefüge, andererseits ist wegen der Probleme die Legitimation dafür auf absehbare Zeit nicht zu kriegen.

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Deswegen würde ich jetzt eher sehr utopiefern formulieren: Wir haben Stagnation im Großteil Europas und eine soziale Katastrophe an der Peripherie, wir haben die Banken nicht saniert, sondern neue Regeln eingeführt, die sie einerseits auf wackelnden Beinen beließen und andererseits die Kreditvergabe an die Wirtschaft behinderten und die tonangebenden Kräfte in der Eurozone haben auch noch eine Rhetorik angeschlagen, die insinuiert, die einfachen Leute wären selbst schuld an der Krise, weil sie jahrzehntelang über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Wer eine solche Politik jahrelang exekutiert und oktroyiert – wie etwa Wolfgang Schäuble, um nur die Zentralfigur dieser Politik zu nennen -, der braucht sich nicht wundern, wenn er am Ende vor einem Trümmerfeld und rauchenden Ruinen steht. Die Austeritätspolitik muss ein Ende haben und zwar schnell. Die Konjunktur braucht einen Kickstart, die nationalen Regierungen mehr budgetären Spielraum, die EU-Kommission muss mit Institutionen wie der Europäischen Investmentbank einen Plan entwickeln, der die Union aus der permanenten Stagnation herausbringt.
Erst dann kann man wieder sinnvoll über einen wirklichen neuen Horizont für das Projekt Europa nachdenken. Aber natürlich kann man auch sagen: Man muss beides gleichzeitig tun: Das Notwendigste tun, und gleichzeitig schon für den Tag danach nachdenken. Gott, jetzt rede ich schon wie ein fader pragmatischer Politikplaner.

Milo: Ich schliesse mich deiner Analyse an: Das europäische Paradox ist, wie es sich uns aktuell präsentiert, ein institutionelles. Einerseits wird von den einzelnen Staaten und (bestimmten) nationalen Parteien alles getan, die EU-Institutionen handlungsunfähig, rein reaktiv und damit utopisch leer zu halten. Andererseits wird genau diesen Institutionen vorgeworfen, dass sie nicht souverän sind und ihnen die demokratische Legitimation fehlt. Dazu kommt die ökonomische Krise sowie die offensichtliche Zweiklassengesellschaft zwischen peripheren und zentraleuropäischen Mitgliedsländern. Es stimmt, dass man diesen Widerspruch im Endeffekt strukturell lösen muss, denn von nichts kommt ja nichts, wie man so schön sagt. Ich will die Frage nach der Legitimation des Projekts Europa aber doch noch einmal rein politisch-utopisch stellen – also im Hinblick nicht auf den Umbau der Institutionen, sondern auf ein politisches Subjekt, das Europa allein durch sein Erscheinen repolitisieren würde. Denn als verbohrter Linker scheint mir das Projekt Europa nicht nur strukturell handlungsunfähig, sondern es fehlt der Grundantagonismus, der die Frage nach dem „Wesen Europas“ von einer Feuilleton-Debatte zu einer Frage des politischen Streits machen würde. Also: Wer wäre dieses Subjekt, das gemäss dem berühmten Leitspruch „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ dem europäischen Projekt wieder Leben einhauchen würde? Ein Freund von mir, Dyab Abou Jahjah, der ehemalige Leiter der Europäisch-Arabischen Liga, hat beispielsweise vor etwas mehr als einem Jahr in Belgien und Holland eine übernationale Migranten- und Bürgerrechtspartei, das Movement X gegründet. In der Partei versammelt er linke Gruppierungen, vor allem aber die grossen Verbände nordafrikanischer Einwanderer, zentralafrikanischer Einwanderer und Migranten aus dem Mittleren Osten. Das Projekt ist noch keineswegs geglückt und steckt im Anfang, es ist aber grundpolitisch, z. B. in der Solidarisierung zwischen arabischen und schwarzafrikanischen Gruppierungen, die historisch absolut neuartig ist. Dazu kommt: Falls das Experiment glückt, wird das Movement X, immerhin im holländisch-belgischen Raum, auf einen Schlag eine der grossen Parteien sein. Und nun stelle man sich eine gesamteuropäische, migrantisch fokussierte Bürgerrechtsbewegung vor, die über den Abwehrkampf des populistischen Blödsinns ein reales Projekt europäischer Citoyenneté verfolgt. Aber wie dem auch sei und wie man die Chancen einer solchen Bewegung auch einschätzen kann (und ihren Einfluss nicht nur auf die imaginären inneren, sondern auch äusseren Grenzen Europas): Ich denke, man muss das Feuilleton-Gespräch über „Utopien für Europa“ und den nötigen Umbau der Institutionen durch eine Politisierung des Begriffs des „Europäers“ als politischem Subjekt im Sinne von Massenparteien und (vorerst) ausserparlamentarischen Bewegungen VON UNTEN HER führen, parallel zum republikanischen Umbau der repräsentativen Formate, in denen sich das dann etablieren kann.

Robert: Das, was du hier anführst, verweist uns sofort wieder auf dieses seltsame Europa als Zirkelschluss, und das noch dazu in mehrfacher Hinsicht. Was Du hier Utopie nennst, ist ja nichts anderes als eine praktische, pragmatische Notwendigkeit, nämlich die der Konstitution eines „europäischen Volkes“. Wie wir wissen, ist „das Volk“, das sich als Souverän versteht, das sich als Akteur und als eine Gemeinschaft von „Ähnlichen“ wechselseitig ansieht, ja weder etwas, was vorgängig da ist, noch etwas, was einfach so vom Himmel fällt. Im Nationalstaat war es einerseits von oben her „gemacht“ (etwa durch nationalistische Assimilationspolitik und die Erfindung eines nationalen Narrativs), aber andererseits auch von unten her hergestellt. Und dieses Herstellen von unten her ist immer ein Herstellen durch Konflikt: Die unterdrückten oder unterprivilegierten Klassen lehnen sich gegen die Eliten auf, und erst das schweißt diese Unterprivilegierten zusammen, macht sie zu etwas, was sich hinterher als das souveräne, demokratische Staatsvolk begreift. Wenn wir dieses Muster auf Europa umlegen, dann heißt das, wir bräuchten eine europäische Bewegung der Bürgerinnen und Bürger, und zwar der unterschiedlichsten Bürgerinnen und Bürger, gegen die europäischen Eliten. Gewissermaßen einen antielitären, popularen Aufstand. Nun ist es natürlich nicht unmöglich, dass das geschieht, aber wir wissen auch, mit welchen Schwierigkeiten das verbunden ist. Denn genauso wie die Elitenpolitik, sagen wir salopp, das politisch-institutionelle System noch immer sehr auf die nationalstaatliche Öffentlichkeit orientiert ist, genauso sind es letztlich die demokratischen und sozialen Bewegungen. Da müssen wir uns doch nichts vormachen. Genauso wie Frau Merkel nur deshalb eine Schlüsselrolle in Europa spielt, weil sie in Deutschland gewählt ist – weshalb das politische Terrain von Frau Merkel letztendlich immer primär Deutschland sein wird -, genauso agieren auch alle widerständigen Bewegungen in ihrem nationalstaatlichen Kontext. Der Zirkelschluss heißt also: Um ein europäisches Volk zu konstitutieren, müssten die Unterprivilegierten am europäischen Terrain agieren, weil es aber kein europäisches Volk gibt, ist ihr Terrain immer noch die nationalstaatliche Politik, ihre nationale Öffentlichkeit. Hinzu kommt ein weiteres Problem, das Du angedeutet hast – oder vielleicht habe ich es nur als Andeutung verstanden – nämlich die Tatsache der wachsenden Diversität unserer Gesellschaften. Mit Diversität meine ich ja nicht nur die ethnische Buntheit unserer Gesellschaften, sondern die wachsende Dezentrierung in vieler Hinsicht, in Lebenstilhinsicht, was die Lebenslagen, was die sozialen Milieus betrifft und so weiter. Das „demokratische, souveräne Staatsvolk“ kann man sich heute ja nicht einmal mehr in der Phantasie als einheitlich vorstellen, wir alle wissen doch längt, dass die Menschen in unserer Gesellschaft so unterschiedlich sind, dass es kaum mehr vorstellbar ist, wie sie gemeinsam handeln sollen. Es ist ja schon für politische Akteure im Nationalstaat eine riesige Herausforderung, aus tausend Milieus auf der Mikroebene der Gesellschaft so etwas wie eine „Basis“, eine „Gefolgschaft“ oder eine „Bewegung“ zu erschaffen. Wir müssen ja nur bei Deinem Beispiel bleiben: Dass es kein Kinderspiel sein wird, den nordafrikanischen Migranten und den weißen, niederländischen Automobilarbeiter zu einem „Wir“ zusammen zu schweißen, liegt ja auf der Hand. Gewiss gelingt das dann und wann, radikal Verschiedene zu einer Gruppe zusammen zu schweißen, die sich als Ähnliche ansehen, die gemeinsam an einem Strang ziehen – aber es wird natürlich mit zunehmender Diversität schwieriger. Und jetzt stellen wir uns all das auf der europäischen Ebene vor, wo noch eine Fülle neuer Differenzen hinzu kommt, Differenzen der politischen Kultur, Differenzen zwischen nationalen Zivilreligionen, Differenzen der Sprache und vieles mehr. Eine gemeinsame politische Öffentlichkeit in Europa existiert nicht. Aus all dem folgt natürlich nicht, dass das Ziel, die Konstituierung eines souveränen, demokratischen Staatsvolkes in Europa, das sich selbst als „die europäische Bürgerschaft“ ansieht, unmöglich ist, aber es ist schon klar, dass das eine grenzenlos schwierige Sache ist und weiter sein wird.

Milo: Ja klar, ich denke auch, dass die Kreation eines souveränen europäischen Staatsvolkes ex nihilo – und im historischen Augenblick der Renationalisierung politischer Diskurse – ein phantastischer Plan ist. Was mir vorschwebt, ist deshalb die Kreation von postnationalen politischen Subjekten, von unwahrscheinlichen, zugleich durchaus pragmatisch orientierten Kollektiven wie der genannte Zusammenschluss von Migrantenverbänden mit klar definierten, bürgerrechtlichen Etappenzielen. Also kein einheitliches Staatsvolk, sondern eher basisdemokratischer Lobbyismus, der sich dem national orientieren Lobbyismus der Populisten-Parteien entgegen stellt. Ich will nicht pessimistisch klingen, aber die einzigen Vereine, die aktuell tatsächlich postnational operieren, sind die Islamisten und die Multis. Eine liberale oder gar linke Idee Europas wurde im Rahmen der Abwehrkämpfe gegen den Populismus komplett untern Tisch gefegt in den letzten 30 Jahren, und gewissermassen hinter dem Rücken dieser Kämpfe ist das imperiale europäisch Projekt entstanden. Ich habe gerade eine Reise durch den Nordirak und Nordsyrien hinter mir, wo man die Gestaltwerdung dieses imperialen Raums eindrücklich beobachten kann: Die Kurden verteidigen die nordirakischen Ölfelder mit deutschen Waffen gegen den IS, das Öl fliesst direkt in die Türkei, welches wiederum für das von Merkel geleitete Europa die Flüchtlingsströme reguliert. Die Bevölkerung jener Landesteile – ganz egal ob Jessiden, Kurden, Schiiten oder Sunniten -, soweit sie nicht zu den korrupten Eliten gehören, wird in Lagern untergebracht, die gebildete, aufstiegshungrige Mittelstandsjugend aber von den Universitäten des inner-imperialen Raums, insbesondere Deutschlands abgeschöpft. Wir beobachten das Entstehen eines komplett entpolitisierten eurasischen Wirtschaftsraums, in dem Volksgruppen und Migrantenströme je nach Notwendigkeit, gemäss Quoten oder medialer Emotion oder Aversionen verschoben werden. Wenn man sich nun vorstellt, dass gerade diese Gruppe, die von der europäischen Gesetzgebung teilweise über Generationen hinweg in halber Rechtlosigkeit gehalten wird, den polizeilichen Paternalismus Europas in einem Akt der Politisierung überwindet und ihren selbstherrlichen Gastgebern ein „Wir sind Europa!“ ins Gesicht schleudert, so wie es der Movement X in Ansätzen tut (in eindeutiger Anlehnung an die schwarze Bürgerrechtsbewegungen in den USA der 60er und 70er Jahre): Dann wird die Debatte darüber, was ein „europäischer Bürger“ im Zeitalter der Globalisierung sein kann, auf einer postnationalen Ebene wieder aufgenommen, nämlich geleitet von der Frage nach der politischen Teilnahme und ihrer institutionellen Verankerung von „Angekommenen“. Wie diese institutionell und rechtlich neudefinierte Bürgerlichkeit neben einer quasi-universalistischen Ebene regionale, kulturelle, religiöse, also traditionell kodierte Teilaspekte in sich tragen kann (und muss), ist die Frage.

Robert: Ich bleibe hier skeptisch. Wenn ich das pointiert oder auch polemisch zuspitzen darf: Dann haben wir einerseits postnationale kosmopolitische Eliten – eine globale Oberklasse – an der Spitze der Hierarchien und eine postnationale Widerstandsavantgarde von unten, die nichts verlieren kann, weil sie nichts zu verlieren hat, als ihre Ketten. Aber dazwischen haben wir die große Mehrheit der autochtonen Bevölkerungen, aber sogar jene Zuwanderer, die Neuankömmlinge als Konkurrenz sehen, dazu auch viele Leute, die aus einer Vielzahl von Gründen verunsichert sind und die durch eine Politik der Angst in die Arme der Rechten läuft. Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Projekt zu entwickeln, das diese Milieus gewinnt, dann fliegt uns der ganze Laden um die Ohren und dann steht auch die postnationale heterogene Bürgerlichkeit auf schwankendem Boden. Die Ambition, einen progressiven hegemonialen Block zu bilden, der autochtone Arbeiter, das neue Dienstleistungsproletariat, das sich bedrängt fühlt, der Zuwanderer, der liberal-humanistische Eliten und vielleicht auch noch zehn andere Milieus umfasst, und der im zugleich nationalen und europäischen Rahmen die Protagonisten des politischen Establishments als Gegner definiert, diese Ambition können und dürfen wir nicht aufgeben. Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, kleinere Brötchen zu backen, ich fürchte nur, kleinere Brötchen sind nicht backbar.

Milo: Das gefällt mir: Die grösstmöglichen Brötchen backen, weil kleinere eben nicht backbar sind! Womit wir auch wieder bei unserer Ausgangsfrage wären: Was ist eigentlich dieses ES, das wir schaffen müssen, wenn wir von Europa sprechen? Und ich denke nach unserem Gespräch: Das ist eben das milieuübergreifende Projekt eines progressiven hegemonialen Blocks, einer politisch schlagkräftigen Solidargemeinschaft, die sich den transnationalen Wirtschafts- und Technokrateneliten und ihrem exklusiven Projekt „Europa“ mehrheitsfähig entgegenstellt. Wie kann das grosse gesellschaftliche Projekt des Nationalstaats – nämlich die Solidargemeinschaft, also der Wohlfahrtsstaat – ins 21. Jahrhundert übersetzt werden? Wie ist es möglich, sowohl die autochtonen, als auch die zugewanderten Anteile des globalen Dritten Stands – verstehe er sich nun prekär-entwurzelt oder humanistisch-traditionell – ihrer „wahren“ politischen Lage, also der realen Angewiesenheit aufeinander auszusetzen? Was sind die praktischen Organisations- und institutionellen Materialisierungsformen einer solchen „neuen Klasse“? Lobby-übergreifende Vereinigungen in der Art einer Volksfront? Oder eher kommunitaristisch herauszubildende, grenzübergreifend wirksame Parallelstrukturen zu den nationalstaatlichen Solidargemeinschaften, wie man sie z. B. in den Kurdengebieten in Nordsyrien oder im universalistischen Lokalismus der Zapatisten in Südmexiko antrifft? Wie können überhaupt im 21. Jahrhundert transnationale politische Strukturen jenseits von Weltbank, OECD und TTIP, aber auch jenseits basisdemokratischem Rousseauismus aussehen, die sich nicht auf archaische Clanlogiken oder ethnische Identität berufen? Was sind mythenkräftige Beispiele für ein utopisches Gegen¬projekt zum traditionsblinden Weltmarkt, die nicht in djihadistische oder sezessionistische Extremismen verfallen? Das sind, meines Erachtens, die Fragen, die die Debatte über das WAS eines europäischen Wirs antreiben müssen. Und zwar, da die Realität Europas ja seit bald einem halben Jahrtausende eine globale ist: über die Grenzen Europas hinaus!

Ein Gedanke zu „„Europa wieder Leben einhauchen““

  1. nur eine kleine Bemerkung am Rande zu diesem tollen(!) beitag. während u nachdem ich europäische Ethnologie, ehemals “Volkskunde“ studierte, u wir den volksbegriff so wunderbar kritisch dekonstruierten wundere ich mich stets, u häufig mit Abscheu, wenn die Kanzlerin u überhaupt so viele Menschen noch von volk reden. rein sprachpolitisch wäre schon viel gewonnen hielte man sich ausschließlich an den Vorschlag Brechts u redete nur noch von Bevölkerung. (das genaue zitat: “Wer in unserer Zeit statt V o l k Bevölkerung und statt B o d e n Landbesitz sagt unterstützt schon viele Lügen nicht.“)
    mit solidarischen grüßen!

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