Nikos Chilas und Winfried Wolf beschreiben klug und luzide die vergangenen sechs Jahre des griechischen Dramas. Falter, September 2016
Im Januar 2015 hat Alexis Tsipras die Wahlen in Griechenland triumphal gewonnen und ein halbes Jahr lang war er ein Hoffnungsträger der europäischen Linken. Auch nach der Wende vom Sommer – als er nach einer Nacht brutaler Verhandlungen vor dem Diktat der Eurozonen-„Partner“ – kapitulieren musste, blieb seine persönliche Popularität hoch und die Griechen bestätigten seine linke Syriza-Partei bei den darauffolgenden Neuwahlen. Immerhin hatten der Premier und sein Team gekämpft wie die Löwen und Tsipras neue Politgeneration hatte wenigstens Glaubwürdigkeit, was sie von allen Rivalen unterschied. Erst jüngste Umfragen zeigen, dass es mittlerweile verdammt schlecht um die Syriza-Regierung steht: Nur mehr 16 Prozent der Griechen würden sie heute wählen, die Konservativen liegen bei 24 Prozent – sofern die Zahlen stimmen. Die Griechen haben ihre letzte Hoffnung verloren.
Nikos Chilas und Winfried Wolf beschreiben in ihrem Buch „Die Griechische Tragödie“ fesselnd, wie es dazu kommen konnten – wie sich das Drama entfaltete, das Griechenland an den Rand des Bankrotts brachte, ein ganzes Land zum Versuchskaninchen im neoliberalen Austeritäts-Laboratorum wurde, wie die griechische Zivilgesellschaft in der Rebellion erwachte und Tsipras Syriza-Bündnis aufstieg – und sich danach die Zähne ausbiss an Schäuble und Co. Selbst jene, die das in groben Zügen alles kennen, erfahren in diesem Buch bemerkenswerte Details, aber auch viel über die langen, politkulturellen Prägungen Griechenlands.
Nikos Chilas, der viele Jahre in Wien lebte und nun seit rund 25 Jahren renommierter Deutschlandskorrespondent verschiedener griechischer Medien ist (erst des Staatssenders ERT, seit 1999 der Tageszeitung „To Vima“), ist nicht nur ein brillanter Kenner der griechischen Innenpolitik, sondern auch ein humorig-geistreicher Kommentator. Winfried Wolf, seit 50 Jahren fixer Bestandteil der deutschen radikalen Linken und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der „Linkspartei“, ist wiederum ein präziser Analytiker ökonomischer Zusammenhänge. Ein produktives Autorenteam.
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Austerität kommt vom latenischen „austeritas“, was soviel wie „das finstere Wesen“, „das Düstere“, aber auch „das Strenge“ heißt. Die Autoren beschreiben, wie die Austerität ab 2010, die vorgab, die griechischen Strukturen zu „modernisieren“ – etwas, was zweifelsohne Not täte -, in Wirklichkeit alle Strukturen zerstörte, ohne neue zu etablieren. Die ökonomischen Strukturen, die politischen Strukturen, die Identität gewachsener Parteienblöcke. Die sozialdemokratische Pasok-Partei, die mit großer Mehrheit regierte, wurde gezwungen, gegen alles zu stimmen, wofür sie stand. „Wir schämten uns dafür“, wird ein Minister zitiert, aber nach einigen Malen „haben wir die Sache immer wieder gemacht, ohne eine Spur von Scham zu verspüren“. Die Folge war der Untergang der Pasok.
In einem gewissen Sinne wurde eine Partei der demokratischen Linken – Pasok -, durch eine neue – Syriza – ersetzt. Aber zugleich ist diese Substitution Teil (und Produkt) eines Modernisierungsprozesses. In luziden Passagen schildern die Autoren das griechische Klientelsystem, das nicht nur eine Form der Korruption ist, sondern mehr noch eine vormoderne Form der Repräsentation – der Pate repräsentiert seine Schutzbefohlenen. Diese politische Rückständigkeit erklärt sich auch durch das kurze Jahrzehnt der Militärdiktatur von 1967 bis 1974, das das Land von der westlichen Moderne abschloss: von Hippies, Studentenrevolte, Frauenbewegung, Prager Frühling und all den Modernisierungsbewegungen der 60er und 70er. Eine lebendige Zivilgesellschaft hat es daher bis zum Absturz in die Krise nicht gegeben. Sie entwickelte sich erst mit den Protesten gegen die Austeritätspolitik, mit den Besetzungen des Syntagmaplatzes, mit den Stadtteilinitiativen und den Netzwerken der solidarischen Ökonomie, die in den vergangenen Jahren entstanden sind. Diese Bewegungen sind der zivilgesellschaftliche Unterbau von Syriza geworden, auch wenn sich die post-kommunistische Partei selbst mit diesen Basisnetzwerken schwertut.
Eingehend diskutieren die Autoren Tsipras „Scheitern“ (so es denn eines ist): Hätte er Druckmittel in der Hand gehabt? Oder war er der Brutalität der europäischen „Partner“ wehrlos ausgesetzt? Hätten Tsipras und seine Leute Möglichkeiten gehabt, mehr Unterstützer in Europa gewinnen? Oder waren sie, umgekehrt, zu feig und fehlte ihnen die Courage dafür, den Konflikt in aller Härte auszukämpfen? Welche „Waffen“ dafür hätten sie in der Hand gehabt? Und ist es überhaupt eine „Niederlage“, wenn man seine Ziele nicht innerhalb von einem Jahr erreicht, sondern eben auch Rückschläge hinnehmen muss? Oder ist es, wenn schon, dann nicht viel mehr die Niederlage europäischer Sozialdemokraten und anderer Progressiver, die weitgehend unfähig sind, eine Gegenposition zum herrschenden Austeritätsblock in ihren Ländern aufzubauen?
Die Autoren sehen Tsipras und Syriza als definitiv gescheitert an, aber dieses Urteil fällen sie wohltuend maßvoll. Auch wenn man ihnen da nicht in allem folgt, ihre Beschreibungen sind stets informativ und klug. Wie all das weiter geht, wird man sehen, auch im Kontext einer Europäischen Union, die in der Finanzkrise ein „jeder gegen jeden“ als Maxime etablierte, eine Maxime, die bei der darauffolgenden Herausforderung, der Flüchtlingsthematik, letztlich erstmals den Totalkollaps der EU denkbar gemacht hat.
Fliegt die Union auseinander, wird eh alles anders als man denkt.
Nikos Chilas/Winfried Wolf: Die griechische Tragödie. Promedia Verlag, Wien, 2016, 228 Seiten, 17,90.- Euro