Vorbild Linkspopulismus?

Syriza, Podemos, Corbyn, Sanders & Co: Die etablierte Linke und ihre antielitären Herausforderer. Ein Beitrag für das „Böll-Thema“ der deutschen Böll-Stifung.

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Von Oskar Lafontaine stammt das Apercu, der Populismus-Vorwurf werde meist von jenen Leuten bemüht, bei denen das Publikum bei jeder Wortmeldung schon einschläft. Man muss kein Freund Lafontaines sein, um zu finden, dass da etwas dran ist. Jeder, der versteht, diskursiv ein „Wir“ zu etablieren, gilt für jene, die dazu unfähig sind, gelegentlich schon als Populist – und auch, wer nur populär zu formulieren versteht, was ja auch mit Komplexitätsreduktion zu tun hat, wird mit dem Populismus-Vorwurf bedacht. Aber ist ein solcher ausladender Populismus-Begriff noch in irgendeinem Sinne brauchbar?

Es ist heute üblich geworden, Parteien wie Syriza oder Podemos, Kampagnen wie die von Bernie Sanders oder sogar die Labour-Führung von Jeremy Corbyn, Grassroots-Bewegungen wie Occupy Wall Street oder die von Nuit Debout linkspopulistisch zu nennen.

Nun kann man dazu drei Haltungen einnehmen: Ja, sie sind linkspopulistisch, und das ist gut so. Ja, sie sind linkspopulistisch und das ist schlecht so. Und, nein, sie sind nicht linkspopulistisch, jedenfalls in keinem sinnvollen Aspekt des Wortes,.

Die Frage ist: Worauf könnte sich der Populismus-Vorwurf eigentlich gründen, und gibt es in dieser Hinsicht überhaupt etwas, was die genannten politischen und Bewegungsprojekte gemeinsam charakterisiert?

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Nun, es ist gewiss so, dass jede dieser politischen Formationen gelegentlich etwas zugespitzt formuliert. Es kommt sogar vor, dass so überspitzt formuliert wird, dass es sogar schon fragwürdig wird, etwa wenn in Griechenland der Kampf gegen die Austeritätspolitik als Fortsetzung des nationalen Befreiungskampfs der Griechen gegen Okkupation dargestellt wird. Man kann das populistisch nennen. Aber man kann das auch nur dumm nennen – und dann die Frage anschließen, welche politische Partei nicht gelegentlich etwas Dummes sagt? Selbst die Vorsitzenden von Parteien, die gar nicht populär sind, geben manchmal Unsinn von sich, häufig sogar noch größeren. Klassische Konservative spielen oft auf viel unverfrorenerer Weise ein wenig auf der nationalistischen Klaviatur. Also, auf diese Weise kommt man nicht wirklich weiter.

Wir kommen der Sache schon näher, wenn wir bedenken, dass es sich bei allen diesen Parteien um mehr oder weniger radikale Oppositionsbewegungen handelt. Sie stellen sich als die Outcasts dar, als diejenigen, die von jenseits des politischen Establishments kommen. Politische Misstände, von der wachsenden Ungleichheit bis zur endemischen Korruption, werden mehr oder weniger präzisierten „etablierten Eliten“ angelastet. Diese neuen linken Bewegungen konstruieren also ein „unten“ gegen ein „oben“. Podemos spricht von „La Kasta“, mit der das gesamte politisch-ökonomische Establisment des Post-Franco-Spaniens gemeint ist, die Occupy-Bewegung wurde legendär mit dem Slogan „Wir sind die 99 Prozent“, womit eine imaginäre Einheit des normalen Volkes gegen das obere eine Prozent als Bild evoziert wurde.

Ein zweites und damit zusammenhängendes Indiz für die Populismus-Diagnose ist, dass auf solche Weise versucht wird, eine Einheit zu konstruieren – ein „Wir“. Die Konstruktion eines „Wir“ setzt immer die gleichzeitige Konstruktion eines „Sie“ voraus. Diese diskursive Etablierung eines Wir und eines Sie, das die umfasst, die nicht zum Wir dazu gehören, kann auf aggressivere Weise oder auf harmlosere, kaum merkbare Weise geschehen, aber das ändert nichts daran, dass die Herstellung einer Einheit immer mit Strategien des Ausschlusses verbunden ist.

Nun könnte man beide Strategien als ausreichend ansehen, um die Populismus-Diagnose zu stützen.

Die belgisch-britische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe macht sich seit Jahren für einen solchen Populismus stark – sie meint, dass sogar gerade ein solcher Populismus der Kern des Politischen ist. Die Alternative wäre eine entpolitisierte Technokratenpolitik, die die kommunikativen Fäden zu den normalen Menschen verliert, und damit gerade für jene politischen Pathologien verantwortlich ist, die sie beklagt, wenn sie auf den verdammungswürdigen Populismus mit den Fingern zeigt.

Populismus ist nicht eine politische Logik unter einer Reihe verschiedener politischer Logiken, er ist, wenn man ihn richtig versteht, „die politische Logik“. Die technokratische Logik ist nicht eine alternative politische Logik, sondern sie ist eine unpolitische Logik, die den normalen Leuten keinen Platz mehr in der politischen Arena zugesteht, sondern auf verwalterische Weise über stummgemachte Bürger herrscht. Das begründet die seltsame Verwandtschaft des Pragmatismus mit dem Autoritarismus. Der Pragmatismus braucht keine Bürger, die sich beteiligen, weil die nur stören würden. „Wir müssen Populismus als den Weg betrachten, die Einheit einer Gruppe erst zu konstituieren“, schrieb Mouffes langjähriger Partner, der jüngst verstorbene argentinisch-britische Philosoph Ernesto Laclau in seinem Buch „On Populist Reason“ („Über populistische Vernunft“). Das Volk, das der Populismus adressiert, existiert nicht bereits, es wird durch ihn erst erschaffen. Oder zusammengeschweißt, um das salopp zu sagen. Der Populismus spricht nicht alle Bürger an, also den populus, sondern vor allem die plebs, die Unterprivilegierten, die bisher nicht gehört werden. Aber er ist mehr als das, er ist eine politisch-rhetorische Operation, die postuliert, dass „die plebs der einzig legitime populus ist“ (Laclau), und die die demokratischen und die sozialen Rechte der normalen Leute gegenüber den Eliten und den Oligarchen artikuliert. Populismus ist „die Stimme derer die aus dem System exkludiert sind“. Er stiftet relative Identität unter heterogenen Gruppen, den Gruppen jener, die sich angesprochen fühlen. Populismus, so verstanden, ist eine widerständige (gegen-)hegemoniale Strategie gegen die Hegemonie der neoliberalen Postpolitik. Laclau: Nur der Populismus „ist politisch; der andere Typus bedeutet den Tod der Politik.“

Der deutsche Populismus-Forscher Jan-Werner Müller sieht das in gewisser Hinsicht genauso, aber zugleich exakt andersrum, denn er meint, dass dies noch lange nicht ausreicht, um eine Populismus-Diagnose zu erstellen. Eine Art Konfrontationspolitik gegen etablierte Eliten sei doch nicht Populismus, sondern eine normale Oppositionsstrategie. Wäre das schon Populismus, „stünde jeglicher Dissens mit den Mächtigen immer sofort unter Populismusverdacht“. Und auch „nicht jede Konstruktion eines Kollektivs ist Populismus“, meint Müller.

Beides – eine radikale Oppositionsstrategie gegen die herrschende Kaste und die Etablierung eines „Wir“ der einfachen Leute – sei doch genau das, was die europäische Sozialdemokratie getan hatte, bevor sie selbst zum Establishment wurde. Oder überspitzter formuliert: Es ist genau die Strategie, die sie so erfolgreich machte, dass sie selbst zum Teil der Elite wurde, weshalb diese Erfolgsstrategie jetzt nicht mehr richtig funktioniere.

Man könnte also auch sagen, was diese Bewegungen auszeichnet ist das, was die etablierte Linke verloren hat: Nämlich oppositionellen Schwung, Leidenschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl. Und vor allem: Das Selbstbild, eine Kraft entschiedener Veränderung zu sein.

Betrachtet man die Dinge näher, dann gibt es natürlich Schwierigkeiten und Grenzen dieser popularen Strategien. Erstens: Diese Bewegungen konstituieren ein „Wir“ völlig heterogener Milieus, sozialer Gruppen und Aktivistenzirkel. Es ist ein pluralistisches „Wir“, das sich gegen Homogenisierung gleichsam sträubt. Ein progressives „Wir“ in post-konformistischen und dezentrierten Gesellschaften. Es ist gewissermaßen eine Antwort auf ein Problem, vor dem heute alle progressiven Kräfte stehen: Wie bringt man völlig unterschiedliche Menschen dazu, sich als „Ähnliche“ zu betrachten, die gemeinsam an einem Strang ziehen?

Zweitens: Mitte-Links-Parteien, wenn sie auch nur annähernd mehrheitsfähig sein wollen, müssen ein breites Spektrum unterschiedlicher Milieus aneinander binden, und das ist gar nicht so einfach. Eine populäre, simplifizierende Rhetorik erleichtert es möglicherweise, das eine Milieu zu gewinnen, stößt aber das andere zugleich ab. Insofern ist eine zu grob zugeschlagene Schwarz-Weiß-Rhetorik objektiv für linke Bewegungen nicht unbedingt ein Königsweg zum Erfolg – ganz anders als etwa für rechtspopulistische Formationen.

In jedem Fall sind die neuen linken Bewegungen natürlich Bündnispartner für klassischen Mitte-Links-Parteien, auch wenn sich das von Land zu Land anders darstellt: Gerade da, wo man direkt und hart um Wähler konkurriert, neigt man dazu, sich mehr als Gegner denn als Partner zu sehen – etwa in Deutschland oder auch in Spanien. In Ländern, in denen die neue Linkspartei de fakto die anderen Mitte-Links-Parteien ersetzt hat, wie etwa in Griechenland, sieht das signifikant anders aus. Corbyns Labour-Party wiederum hat ihre sehr eigenen Probleme und in den USA muss die Demokratische Partei jetzt die politischen Energien, die Bernie Sanders weckte, für den Wahlsieg von Hillary Clinton nutzen – auch keine leichte Operation, anti-elitäre Leidenschaften auf die Mühlen einer Elitenpolitikerin zu lenken. Im europäischen Konzert ist die Syriza-Regierung längst Partner jener Sozialdemokratien, die links vom Mittelweg stehen und auch etwa der portugiesischen Linksregierung.

Vor allem aber sind diese Partei-Bewegungen ein Exempel, von dem man etwas lernen kann: Sich akzentuierter zu arktikulieren, weil man mit vorweggenommenen Kompromissen und kleinmütiger Vernünftigkeit kaum jemanden begeistern wird; dass Glaubwürdigkeit überhaupt der höchste Wert ist; dass man Parteien wieder zu Bewegungen machen muss; und dass man als linke Partei als Kraft der Veränderung angesehen werden muss, und nicht bloß als Partei der Verwaltung oder gar der Perpetuierung des Stillstands.

2 Gedanken zu „Vorbild Linkspopulismus?“

  1. Sehr gut beschrieben.
    Die gefährliche Variante des Populismus ist diejenige , die dasselbe tut wie der „Eliten-Populismus“ , die Bedienung dessen , was der Wille und die Interessen des populus zu sein scheinen , ohne daß Überzeugungen dahinterstehen , da tauchen dann ganz schnell Leute auf , die vor allem Karrieristen sind und völlig wertefrei.

    Das kann ganz schnell in den Konformismus führen , auch von links , und vielleicht ist die Gefahr mittelfristig sogar größer von links , da gibt es schon auch Kräfte , die nicht viel mit liberalem Denken anfangen können.

    Progressive brauchen da gar nicht von „ähnlich“ zu sprechen , „kooperationsbereit“ reicht völlig , die mitunter chaotische Vielfalt war immer eine Stärke der Progressiven , wenn sie nicht in die Spaltung führt.

  2. Zusammenfassend gab Chianciano ein Bild des oppositionellen Aufbruchs innerhalb einzelner Länder als auch in der übernationalen europaweiten Koordination. Angesichts der ungelösten sozial-ökonomischen Krise, den immer deutlicheren Tendenzen der EU-Desintegration und der autoritären Machtzentralisierung in Brüssel/Berlin, kommt dieser Aufbruch von links sehr spät – vor allem angesichts des rechten Vormarsches in vielen Ländern –, ist programmatisch noch im Fluss und organisatorisch dispers. Aber er ist vielfältig sichtbar und wächst. In der gegenwärtigen Phase geht es um einen politischen Minimalkonsens, der die verschiedenen Kräfte in einer offenen solidarischen Debatte zusammenbringt, sichtbar und handlungsfähig macht. Der Kampf gegen das Korsett des Euro hat sich auch in Chianciano bei aller Vielfalt der Strömungen und Länderspezifika als diese vereinheitlichende Plattform herausgeschält. Die noch in diesem Jahr unter ähnlicher Zielsetzung stattfindenden Konferenzen in Kopenhagen und Paris bestätigen, dass sich endlich etwas bewegt in der europäischen Linken.
    https://makroskop.eu/2016/09/ein-wettlauf-mit-der-zeit/

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