Anführerin der freien Welt? Aber klar doch!

Angela Merkel ist eine der Hauptverantwortlichen für globale ökonomische Depression und Zukunftsangst. Aber gerade deshalb hat sie jetzt eine historische Aufgabe.

Die Zeit, November 2016

„Ich habe gründlich nachgedacht“, sagte Angela Merkel Sonntag, knapp nach 19 Uhr, „und der geeignete Zeitpunkt ist jetzt da“. Und auf Nachfrage: „Ich brauche lange und die Entscheidungen fallen spät“. Doch da war längst schon klar: Angela Merkel kandidiert wieder für die deutsche Kanzlerschaft. Wirklich bezweifelt hatte das ja ohnehin niemand.

Denn im Grunde hatte sie keine Wahl.

Natürlich: Wer über zehn Jahre in diesem aufreibenden Amt ist, der muss sich die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt zum Aufhören stellen. Zumal eine Kanzlerin, die lange unumstritten über den politischen Kleinlichkeiten thronte und weiß, diese Zeit kommt nicht wieder zurück.

Doch mit der Trump-Wahl, inmitten dem Chaos, das uns erfasst hat, mit Putin, Brexit, Krieg, Zerfallserscheinungen allüberall, mit autoritären Versuchungen an allen Ecken und Enden, aber vor allem mit dem Ausfall der USA als Gravitationszentrum der liberalen Demokratie kommt sie ja unverhofft in eine neue Rolle: „Die letzte Verteidigerin des liberalen Westens“, hat sie die New York Times genannt. Mit einemmal ist eine deutsche Kanzlerin „Leader of the Free World.“ Da mag die Kanzlerin sich noch so klein machen („ehrt mich zwar, ist aber grotesk und geradezu absurd“), aber natürlich hätte ein Abwinken sie schlagartig zur Lame Duck gemacht und noch mehr weltpolitisches Chaos ausgelöst.

Aber auch aus innenpolitischen Gründen hatte sie kaum eine Wahl. Gerade weil sie, etwa in der Flüchtlingspolitik, aber ganz generell auch als Vertreterin der modernen weltoffenen Liberalität für eine Politik zu stehen begann, die in ihrer eigenen Partei genauso unter Druck geriet wie durch den rechten Wutpopulismus, hatte sie gar nicht die Möglichkeit zu kneifen – sie muss ihre Politik verteidigen. Sie hat plötzlich noch etwas zu beweisen.

Dabei ist es nicht ohne Paradoxien, dass gerade Merkel die Retterin der westlichen Welt sein soll. Denn die deutsche Kanzlerin ist ja nicht eben unschuldig daran, sondern eine der wichtigsten Verantwortlichen dafür, dass wir in eine Lage gerieten, in der wir die pluralistische Demokratie tatsächlich verteidigen müssen.

Denn die von Deutschland exekutierte Austeritätspolitik in Europa, Deutschlands Politik, die Einkommen der normalen Menschen zu reduzieren, diese Vodoo-Idee, die sich aus dem neoliberalen Mantra der Wettbewerbsfähigkeit ableitet – diese krause Idee, dass man die Einkommen der Bürger und damit die ganzer Volkswirtschaften schrumpfen muss, damit es wieder aufwärts geht -, ist ja eine der Hauptursachen für die Malaise, in der wir heute stecken. In Europa hat Deutschlands Austeritätsdiktat und die deutsche „Beggar-Your-Neighbor“-Politik acht Jahre Stagnation und Depression verursacht. Aber das hat auch Auswirkungen auf die ganze Welt: Der kräftigste Wirtschaftsraum der Welt hat nichts zur Erholung der Weltwirtschaft beigetragen, er ist als globale Konjunkturlokomotive ausgefallen.

Natürlich, Angela Merkel ist nicht die alleinige Erfinderin dieser Politik, dieser Unsinn hat viele Väter, Mütter und Paten, aber gemeinsam mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble, diesem Breschnew des Neoliberalismus, stand sie im letzten Jahrzehnt wie niemand sonst für diese Politik.

Gewiss, diese Politik, die das Wohlstands- und Aufstiegsversprechen zerstörte, mit dem der westlichen liberale Kapitalismus einstmals noch verbunden war, ist nicht die alleinige Quelle für den grassierenden Verdruss und die Zukunftsangst, von der der rechte Autoritarismus profitiert – aber sie ist die wesentlichste Quelle.

Die Frau, die führend dazu beitrug, die freie Welt an den Rande des Kollapses zu bringen, soll jetzt die Retterin der freien Welt sein? Echt jetzt?

Ja, soll sie, so eigenartig das klingen mag.

Denn was werden wir in den nächsten Jahren erleben? Erstens Gesellschaften, die scharf nach rechts driften oder von extremistischen Scharfmachern regiert werden – die USA, Ungarn, die Türkei, Polen sind da nur Vorboten.

Zweitens, Politiker, die sich opportunistisch arrangieren werden, nicht wirkliche Autoritäre, aber solche, die dem autoritären Trend nachgeben werden – sagen wir, nur zur besseren Illustration, die CSU-Version des Konservativismus, sowie schlimmere Spielarten dieses Kapitulantentums.

Und drittens jene, die hier nicht mitmachen und auch nicht wackeln, die die liberale, pluralistische Demokratie verteidigen werden. Deutschland ist das wichtigste Land Europa, und in Deutschland wiederum ist nicht absehbar, wer realistischerweise Angela Merkel in dieser Rolle ablösen soll. Klar, Sigmar Gabriel könnte mit Glück ein rot-rot-grünes Bündnis mit ein paar Mandaten knapp über dem Durst zimmern und dann in staatsmännisches Format hinein wachsen – aber seien wir uns ehrlich, das ist nicht extrem realistisch.

Also ist es Merkels Rolle. Bloß: Diese Verteidigung wird nicht gelingen, wenn man zugleich die Politik der Massenverarmung fortsetzt. Merkel wird wirtschaftspolitisch vom rechten Rand dorthin rücken müssen, wo sie gesellschaftspolitisch schon steht: ins vernünftige Zentrum. Jeder weiß mittlerweile: Austerität funktioniert nicht. Sie wurde acht Jahre erprobt: Die Folgen sind fatal. Schäubles Vodoo-Ökonomie hatte ihr Rendezvous mit der Realität. Zu unser allem Schaden.

Mein Verdacht ist: Merkel weiß das längst. Merkel weiß längst, dass die Austeritätspolitik eine katastrophale Fehlentscheidung war, dass ihr Finanzminister Europa an den Rande des Kollaps geführt hat und dass diese Politik damit auch große Verantwortung für die globale Stagnation hat. Denn Merkel ist weder eine Idiotin noch ein ideologischer, doktrinärer Sturschädel. Daher weiß sie: Wer sie fortsetzen will, ist ein Feind der pluralen Demokratie und trägt zu ihrer Zerstörung bei.

Merkels Problem ist freilich: Sie weiß, dass sie mit dieser Politik identifiziert wird, sich mit dieser Politik identifiziert hat. Und dass deswegen ein Kurswechsel mit dem Eingeständnis verbunden wäre, grob falsch gelegen zu sein. Und das ist für Politiker, wie man weiß, keine leichte Sache. Daher sind Kurswechsel in der Regel ja auch leichter mit Regierungswechsel hinzukriegen.

Aber wenn jemand die Kunst beherrscht, die Politik langsam, aber sukzessive zu verändern, sie pragmatisch so zu adaptieren, dass man irgendwann das Gegenteil von dem tut, was man zuvor getan hatte, aber ohne jede dramatische Geste, so als wäre eigentlich gar nichts Bemerkenswertes vorgefallen – dann ist dieser jemand Angela Merkel.

Noch einmal könnte sie sich verdient machen: Indem sie den neuen, ohnehin schon entstehenden Anti-Austeritäts-Konsens genauso adoptiert und zu ihrer Sache macht, wie sie das schon mit Thematiken wie Atomausstieg, Schwulen- und Lesbenrechten, Frauengleichstellung und anderen Themen hingekriegt hat, die nicht zu den ureigensten christdemokratischen Anliegen gezählt haben. Indem sie also den deutschen Konservativismus vom wirtschaftstheoretischen Traumland (oder besser: Albtraumland) in die Realität führt.

Angesichts des moderierendem Politikstils, der Merkel fast immer (mit Ausnahme der Flüchtlingspolitik) charakterisiert hat, wird gewiss nicht zu erwarten sein, dass sie zur „Anführerin“ der westlichen Welt in dem Sinn wird, als dass sie auf mutige Weise voranstürmt – sondern eher, dass sie einen Konsens herbeimoderiert und Anstöße aufnimmt, die von anderen kommen – von anderen „Führern“, aber auch von der Wirklichkeit.

Wenn sie das auch diesmal schafft, dann kann sie tatsächlich zur Retterin der freien Welt werden.

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