Wilder werden!

Die Sozialdemokratie muss sich neu erfinden. Ihr droht nicht nur Siechtum, sondern im schlimmsten Fall der Untergang. Was also tun?

Für Zeit-Online

Die SPD hat eine schwere Niederlage eingesteckt. Aber andererseits ist sie ja auch noch ganz gut davon gekommen – man muss einfach nur das richtige Referenzsystem wählen. Die französischen Sozialisten sind bei den letzten Parlamentswahlen faktisch ausgerottet worden. Sie existieren noch, aber eigentlich nur mehr am Papier. Sogar ihre Parteizentrale in Paris müssen sie verkaufen. Die Partei ist praktisch pleite.

Die niederländische Sozialdemokratie, einst ein Stolz der Bewegung, ist mit 5,7 Prozent zu einer Splitterpartei marginalisiert. Und die griechische Pasok ist praktisch ausradiert worden. Deren Untergang hat dem neuen Trend den Namen gegeben. „Pasokisierung“ nennt man es, wenn eine Sozialdemokratie nicht nur verliert, sondern so verliert, dass von ihr nichts mehr übrig ist.

In Relation dazu steht die SPD ja geradezu noch komfortabel da.

Gegenblende, Brighton, diese Woche. Jeremy Corbyn spricht auf der jährlichen Konferenz seiner Labour-Partei, und nach seinem überraschenden Wahlerfolg vom Frühsommer ist er erstmals auch der unbestrittene Vormann seiner Partei. Niemand wetzt mehr in den Hinterzimmern Messer, um den Parteichef abzulösen. „Man hat uns gesagt, dass man Wahlen nur in der Mitte gewinnen kann“, sagt Corbyn. Und fügt schmunzelnd hinzu: „Dieser Meinung bin ich ja auch. Nur muss man eben dazu sagen, dass die Mitte nicht unveränderbar ist.“ Und dann sagt er den Satz, der den Saal zum Kochen bringt: „Wir sind der neue Mainstream.“

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Nun ist die Corbyn-Labour-Party gewiss ein Vorbild, aber gewiss auch nicht in allem. Jeremy Corbyn ist kein elektrisierender Anführer, auch wenn er im Wahlkampf dramatisch an Statur gewonnen hat und auch seine hölzerne Ausstrahlung verlor. Bemerkenswert ist, wie es der Labour-Party gelang, zu einer Bewegung junger Leute zu werden, zum Magneten aller, die wollen, dass es „irgendwie anders“ wird. Aber das wird durch das britische Mehrheitswahlrecht auch begünstigt, das dazu tendiert, dass am Ende die beiden großen Parteien beider gesellschaftspolitischer Lager in einem Duell gegenüber stehen, bei dem Kleinparteien tendenziell unter die Räder kommen (auch Liberale haben den angeblichen Linksextremisten Corbyn am Ende gewählt, nur um die konservative Anti-Europa-Partei in die Schranken zu weisen). Vor allem konnte die linke Anti-Establishment-Linie von Labour nur so gut funktionieren, weil sie in der Opposition ist. Weil Corbyn glaubwürdig einer ist, der sich mit der Eliten-Politik bisher nicht eingelassen hat. Das verbindet ihn etwa mit Bernie Sanders. Sozialdemokratien, die als kleine Koalitionspartner mitregieren, wie das die SPD tat, oder die eine Regierung anführen (wie etwa die österreichischen Sozialdemokraten), können Elemente davon kopieren, aber nicht das gesamte Muster. „Wir gegen das System“, „wir gegen die korrupte Elitenpolitik“, das geht natürlich etwas schwieriger, wenn du den Vizekanzler oder den Kanzler stellst.

Man soll nicht so tun, als könne eine Sozialdemokratie in Deutschland angesichts einer in vielfacher Hinsicht anderen Situation einfach das Erfolgsrezept von Labour kopieren. Aber man soll vor allem nicht so tun, als dürfte die SPD einfach so weiter tun.

Werdet radikaler!

Sozialdemokraten müssen heute wieder ein gehöriges Stück radikaler werden. Das fällt ihnen gewiss extrem schwer, weil das Unradikale gewissermaßen zur DNA der zeitgenössischen Sozialdemokratie gehört. Sie hat sich antrainiert zu moderieren, unterschiedliche Milieus, aber auch unterschiedliche politische Zielgruppen zusammen zu halten. Sie hat sich jahrzehntelang etwas darauf eingebildet, für „vernünftige“ Politik zu stehen, was in der Praxis heißt, kaum mehr etwas zu verkünden, was irgendjemanden provozieren oder aufregen könnte. Man soll darüber auch nicht lästern. Das war das Erfolgsrezept der Sozialdemokratien.

Aber heute verlangt der Zeitgeist in praktisch allen Ländern etwas anderes. Die Wähler wollen Veränderung, kein weiter so. Gewiss haben sie auch keine Lust auf Abenteuer, aber der fade Mittelweg, bei dem alle einschlafen, wird niemanden vom Sessel reißen. Und schon gar nicht der sozialdemokratische Verteidigungsdiskurs, der in den letzten Jahrzehnten eingerissen ist: „Wählt uns, denn mit uns wird es langsamer schlechter“, kann schon ein paar Wähler mobilisieren. Aber viel mehr als 20 Prozent eher nicht.

Sozialdemokraten sind seit Jahrzehnten derart involviert in alle staatlichen Institutionen auf allen Ebenen – von der Gemeinde über das Land, vom Bund bis auf die europäische Ebene -, dass die Akzeptanz von Sachzwängen zu ihrer zweiten Natur geworden ist. Aber genau das steht radikalen Antworten im Weg. In dem Moment, in dem man die Sachzwänge aber aus dem Kopf gelöscht hat, „ist es aber ganz einfach, sich eine Zukunft vorzustellen, in der der Staat die normalen Menschen und den Planeten verteidigt, und nicht die finanzielle Elite“, schrieb der linke britische Starautor Paul Mason vergangene Woche im „Guardian“ – mit deutlichem Verweis auf die deutsche SPD.

Diese Notwendigkeit zur Radikalität, wohlgemerkt, ist jetzt gar kein Ratschlag, der voraussetzt, dass der, der ihn bringt, selbst ein Radikaler ist. Überspitzt formuliert: Radikalität ist aus schieren Marketinggründen notwendig. Wer wagt, gewinnt, sagt das Sprichwort. Für die Sozialdemokratien des 21. Jahrhunderts gilt: Wer nichts riskiert, geht unter.

Partei der Hoffnung werden!

Wir leben in einer Ära multipler Unsicherheiten und es gibt kaum Gesellschaften, in die sich nicht eine Grundstimmung der Angst hineinfrisst. Das verbindet auch so unterschiedliche Länder wie die USA und Großbritannien oder Österreich und Deutschland. Die Quellen dieses Unsicherheitsgefühls sind der ökonomische Neoliberalismus und seine Folgen, die Finanzkrise, niedriges Wachstum, stagnierende Löhne, steigende Lebenshaltungskosten (etwa explodierende Mieten), prekäre und unsichere Arbeitsverhältnisse. Aber das ist nur eine der Quellen eines grassierenden Unsicherheitsgefühls. Andere sind der rasante Wandel, Digitalisierung, Automatisierung, Robotisierung, die Revolutionen am Arbeitsmarkt, und die damit verbundene Zukunftsungewissheit, die endemisch wird. Jeder Automobilarbeiter weiß, dass seine Qualifikation ein Ablaufdatum hat, jeder Buschauffeur fürchtet, dass demnächst ein selbstfahrendes Auto seinen Job überflüssig machen kann. Vielleicht sind diese Ängste ja übertrieben – aber sie sind vorhanden.

Die Traditionssozialdemokratie führt auch dagegen einen Abwehrdiskurs. Aber gerade das etabliert Botschaften und eine Rhetorik, die niemanden begeistern können. Eine Jammerlinke wird aber keinen Blumentopf gewinnen können.

Owen Jones, der britische Blogger, Aktivist und Guardian-Kolumnist, hat dazu schon im April sehr gescheite Sachen gesagt, um die Labour-Party auf einen bestimmten Ton in der Wahlkampagne zu stimmen. „Was haben Ronald Reagan und Spaniens radikale Podemos Partei gemeinsam?“, schrieb er. „Wenig, mögen sie annehmen. Ersterer war ein dogmatischer Ideologe, der die freien Märkte wüten lassen wollte; die zweiteren sind, teilweise, eine direkte Rebellion gegen dieses Dogma. Aber beide definierten ihre gegensätzlichen Philosophien auf ähnliche Weise: mit Hoffnung, Optimismus und Ermächtigung.“

Reagans Mantra war „Morning in America“. Der Podemos-Anführer Pablo Iglesias sagt: „Wir repräsentieren nicht nur die Stimme der Wütenden, sondern die Stimme der Hoffnung.“ Und fügt hinzu: „Wann war das letzte Mal, dass Ihr mit Hoffnung gewählt habt?“ Barack Obamas atemberaubend schneller Aufstieg vom No-Name zum Präsidenten war ohnehin von der Formel „Hope“ begleitet. Bernie Sanders spielt auf eine ähnlichen Klaviatur. Aber wir können auch in der weiteren Geschichte zurück blicken, etwa der Nachkriegslinken. Progressive Parteien haben nie gewonnen, wenn sie gesagt haben: „Es ist alles so furchtbar. Und es wird wohl noch furchtbarer.“ Sie haben dann gewonnen, wenn es ihnen gelang, den Nebel des Depressiven wegzublasen, wenn sie Hoffnung, Realitätssinn und Selbstermächtigung verbinden konnten. Soll heißen: Hoffnung, dass die Zukunft mehr Chancen bietet. Ein Programm, das nicht illusionär wirkte. Und die Botschaft, dass das gelingt, wenn jeder und jede mitmacht, also aus ihrer und seiner Passivität erwacht. Und wenn sich diese Botschaften in einem Zeitgefühl verdichten: Zusammen können wir eine besser Welt – oder zumindest ein besseres Land – schaffen.

Progressive werden nichts zuwege bringen, wenn sie Klagelaute ausstoßen – sondern wenn sie Hoffnung inspirieren. Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Christian Kern, der gerade einen recht schwierigen Kampf um seine Wiederwahl führt, hat das zu seinem Amtsantritt vor einem Jahr in der Formel in Richtung Publikum zusammen gefasst: „Ich will nicht Ihre Ängste nähren, ich will Ihre Hoffnungen nähren.“

Bekämpft den Funktionärsgeist!

Eine Sozialdemokratie, die sich neu erfinden will, muss eine Botschaft finden, die über das Bestehende hinaus geht. Sie muss den Mut zu Forderungen haben, die auch noch jemanden empören können. Sie braucht einen positiven Spirit der Hoffnung. Sie braucht eine Idee, eine eigene Interpretation der Zukunft. Und sie braucht ein Personal, das darin glaubwürdig ist. Und zwar mehr davon als bloß einen Vorturner, der den Spitzenkandidaten macht.

Denn das ist vielleicht das Hauptproblem der Sozialdemokratien: der Funktionärsgeist. Sie ist auf allen Ebenen von Menschen geprägt, die die Zwänge des Parteiapparats und die Logiken der Verwaltung als zweite Natur verinnerlicht haben. Dieser Menschentyp ist zu dieser gewissen Wildheit, die man heute bräuchte, einfach unfähig, schreckt aber auch noch alle anderen ab, die dazu fähig wären. Er ist eine Mühle, und wer sich in diese begibt, läuft Gefahr, in ihr umzukommen. Eine Erneuerung der Sozialdemokratien ist unmöglich, ohne politisch Engagierte in die Partei zu holen, die von diesem Geist frei sind. Mehr noch: Die Macht des Apparats und der Trägheit muss gebrochen werden. Wer glaubt, dass das ohne Konflikt geht, hat schon verloren. Denn die vielen kleinen Amtsträger, denen es kaum um etwas anderes geht, als ihre Jobs zu verteidigen, werden sich mit Zähnen und Klauen verteidigen. Auch um den Preis des Untergangs ihrer Partei.

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