Manche Probleme sind so riesig, dass wir über ihre Lösung gar nicht nachdenken wollen

Mein Beitrag im Reader zur General Assembly, dem Weltparlament, auf die Bühne gebracht von Milo Rau in der Schaubühne. Der Reader erschien im Berliner Merve Verlag.

Die Idee des Weltparlamentes ist eine Utopie. Aber welche eine Utopie ist das? Sie malt sich ja keine „andere“ Welt aus, sondern zunächst einmal eine andere Machtorganisation der Welt. Dass anders entschieden werde, völlig unabhängig von der Frage, wie genau die Entscheidungen dann aussehen werden. Sie evoziert oder antizipiert eine Welt in der Machtdifferenzen radikal ausradiert sind. Der stimmlose Bauer am Rande einer nigerianische Bergbaumine hätte in ihr die gleiche Stimme wie der Milliardär aus Manhattan. Aber die Utopie setzt sofort implizit voraus, dass dann Entscheidungen auch materiell anders gefällt würden. Dass eine Welt, in der die Macht anders verteilt ist, sofort eine andere Welt würde.

Aber bleiben wir zunächst beim Thema „Utopien“. Benötigen wir die überhaupt?

Die Geschichte der Utopien kennt, ganz grob gesprochen, zwei große Varianten: Die gesellschaftlichen Utopien und die technologischen Utopien.

Die gesellschaftlichen Utopien entwarfen eine Idealwelt, beginnend bei Thomas Morus‘ „Utopia“ aus dem 16. Jahrhundert bis hin zu Ernst Callenbachs „Ökotopia“ aus dem 20. Jahrhundert. Diese gesellschaftlichen Utopien haben etwas von realitätsfremden Kopfgeburten, sind „Träume von einem Himmel, der niemals auf der Erde existieren kann“ (Immanuel Wallerstein).

Utopien stehen deshalb in einem schlechten Ruf, aus verschiedenen Gründen. Sie sind etwas für phantasievolle Schwärmer. Im besseren Fall richten sie keinen Schaden an, im schlechtesten Fall motivieren sie zu Schandtaten, die gerechtfertigt werden können, weil sie notwendige Übel auf dem Weg ins Paradies sind.

Und dann gibt es noch das, was man die „anti-utopischen Utopien“ nennen kann, die sich keine Zukunft ausmalen, aber doch an eine bessere Zukunft glauben und diese für erstrebbar halten, die aber versuchen, die Tendenzen dieser Zukunft exakt in den Kräften zu erkennen, die schon jetzt in der Gegenwart wirken. Sie versuchen eine Art von Extrapolation zu sein von der Art: Gegenwart plus Dynamik ergibt Zukunft.

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Utopisch sind sie allenfalls in dem Sinn, als sie von den Dynamiken nur jene Elemente wahrnehmen, die ihnen ins Konzept der gewünschten Zukunft passen.

Die allerschwächste Form ist das, was Erik Olin Wright die „realen Utopien“ nennt. Reale Utopien sind kleine oder größere Versuche. Die Energieversorgungs-Genossenschaften in den USA sind solche Versuche, die Gemeindebauten in Wien auch, ein besetztes Haus irgendwo in Kreuzberg ebenfalls, das Pflegesystem in Kanada und Schweizer Firmen, in denen die Beschäftigten die Manager aus ihren Reihen wählen. All dieses Gelingende ist verglichen mit vielem anderen eine „Utopie“, das Wohnbausystem Wiens beispielsweise ist im Vergleich mit dem Immobilienmarkt in London eine Utopie. Würde man alle kleinen „realen Utopien“ – die ja alle irgendwo existieren – zusammen an einem Fleck verwirklichen, wäre das Ergebnis vielleicht eine „große Utopie“. Wer weiß, vielleicht, vielleicht auch nicht.

Die technologischen Utopien sind verglichen damit irrealer und realer, und sie sind nicht selten utopisch und dystopisch zugleich. Die Utopien, mit selbstfahrenden Autos, intelligenten Maschinen, Cyborgs, Robotern, die den Menschen die Arbeit abnehmen, aber die leider auch die Menschen zu kommandieren beginnen. Eine Welt, in der wir nicht mehr gehen müssen, sondern in der überall Rolltreppen fahren, wo an jeder Ecke ein selbstfahrendes Automobil steht, in das wir nur einsteigen müssen, in der das Geld abgeschafft ist und Lieferroboter uns die Güter des täglichen Bedarfs GPS-gesteuert nach Hause bringen und die dementen Omas und Opas mit Pflegerobotern spielen, die die Gestalt einer Robbe haben.

Sie sind nicht wirklich „utopisch“. Also, so utopisch eben, wie 1995 die Idee war, dass irgendwann drei Milliarden Menschen ein kleines Technologieteil im Hosensack haben werden, das schnurlos mit irgendwelchen Servern verbunden sein wird, mit dem man telefonieren, aber auch das gesamte Wissen der Welt auf einem Display von überall her abfragen kann. Kurzum, sie sind so utopisch, wie das Smartphone vor ein paar Jahren.

Die Welten, die technologische Utopien malen, sind dennoch irgendwie unbewohnbar. Dystopien sind diese Utopien zugleich auch, weil man nicht weiß, wie man in einer solchen Welt noch leben könnte: alles ist geschrubbt und aufgeräumt, in Städten gibt es keine räudigen Ecken mehr, keine Trankler, Huren, keine Drogenexzesse. Die Welten, die technologische Utopien malen, sind Welten, aus denen jedes echte Leben verschwunden ist.

Nun zurück zum Weltparlament. Dieses ist eine Utopie und auch gerade keine. Sie ist keine Utopie: Weil sie eben keine andere Welt ausmalt, sondern postuliert, dass andere Machtverteilungen zu anderen Ergebnissen führen würden, aber über diese Ergebnisse kein Wort verliert. Die Zukunft, also die zukünftigen Ergebnisse, wären offen. Sie ist die eigentliche Wahrheit des Fortschritts: Es sind die Kämpfe um Macht, die Ergebnisse verändern, es sind die kleinen Kämpfe um mikroskopische Veränderungen der Machtverhältnisse, die zum Fortschritt in der Welt geführt haben. Aber als theatralische Intervention ist das Weltparlament eine Vorwegnahme von Ergebnissen von Machtveränderungen, es ist radikal utopisch, weil es die Phantasie in die Welt bringt, was denn sein könnte, wenn sich Mikroveränderungen der Macht zu einer radikalen Veränderung von Machtverhältnissen summieren würden.

In einem Ausmaß, das wir unvorstellbar nennen können.

Unvorstellbar auch insofern, als wir uns das alles nicht einmal vorstellen wollen. Wir wollen uns nicht vorstellen, wie es wäre, wenn es so radikal anders wäre. Das Weltparlament ist die Rückseite unserer Gegenwart, das radikal andere, das so elementar anders ist, dass wir uns sogar weigern, es uns vorzustellen.

Auch, weil wir alle die Profiteure eines Status Quo sind. Manche Probleme sind so riesig, dass wir uns ihre Lösung gar nicht vorstellen wollen. Die Klimakatastrophe, die imperiale Lebensweise, die Milliarden, die Opfer dieser imperialen Lebensweise sind. Das sind Probleme, die so unlösbar scheinen, dass wir uns ihnen gar nicht widmen. Wir stecken den Kopf in den Sand und kümmern uns lieber um die Dinge, die noch irgendwie beherrschbar erscheinen.

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