Arbeit ist nur ein Gefühl

Arbeit? Eine Tätigkeit? Nur ein Zwang, um Einkommen zu erwirtschaften? Aber nein. Sie kann unseren Selbstwert heben, oder auch untergraben. Sie webt uns ein ins soziale Netz der Kollegenschaft, mobilisiert Eigensinn. Das Wesentliche an Arbeit ist unsichtbar.

Anfang Mai eröffnete im Museum Arbeitswelt in Steyr die Ausstellung „Arbeit ist unsichtbar“, die ich gemeinsam mit Harald Welzer kuratiert und mit dem großartigen Team des Museums realisiert habe. Die Dauerausstellung ist noch bis 2020 zu sehen und ich freue mich über jeden und jede, die den Weg nach Steyr schaffen. Gemeinsam mit Harald Welzer und Christine Schörkhuber habe ich auch den Reader zur Ausstellung herausgegeben, der im Picus-Verlag erschien. Titel ist auch hier: „Arbeit ist unsichtbar“. In diesem Text für das Magazin „Datum“ habe ich einige Gedanken aufgeschrieben, die uns bei unserer Arbeit geleitet haben – oder die uns dabei in den Kopf kamen. Link zur Ausstellung gibt es hier, Link zum Buch hier

Als ich mit neunzehn oder zwanzig Jahren ein Praktikum bei der ÖMV machte, landete ich in der Lagerverwaltung, in der man Ausgabezettel für Ersatzteile ausfüllen und bearbeiten musste. Das Lager war ein riesiger Bau voller Regale, wie ein Labyrinth angelegt, in dem sich nur die Lagerarbeiter auskannten. Sie hatten das Labyrinth so raffiniert angelegt, dass sich in der Mitte des scheinbar unübersichtlichen Wirrwarrs an Regalen ein versteckter Raum befand. Dort stand eine Couch, ein Tisch, ein paar Sportgeräte, eine Reckstange. Ich war nicht stark, aber leicht, so dass ich bei den Klimmzügen immer gegen die Lagerarbeiter gewann.

Natürlich hatten die Lagerarbeiter Chefs, doch deren Zugriff war beschränkt. Die Lagerarbeiter hätten ihnen nie gezeigt, wie man in den versteckten Raum gelangt. Es war ihr Freiraum in der Raffinerie. Mich hatten sie sehr bald dorthin gebracht. Schon als junger Praktikant wusste ich also mehr als die Chefs. Ich lernte sofort, dass ich dieses Wissen für mich zu behalten hatte.

Heute wäre so etwas völlig unvorstellbar. Längst wären Leute von McKinsey oder anderen Beratungsfirmen im Lager eingefallen. Sie hätten jeden Schritt vermessen und die effizienteste Aufstellung der Regale ausgetüftelt. Wahrscheinlich wäre das meiste automatisiert, mindestens aber hätten die Arbeiter einen digitalen Scanner, der die Ersatzteile erfasst und nebenbei die Arbeiter auf Schritt und Tritt überwacht.

In den oberösterreichischen Steyr-Werken hatte sich in den sechziger und siebziger Jahren eine schöne Usance entwickelt. Es gab im Werk eine Röhre, die nahe einer Wärmequelle lag. Arbeiter, die gerade ihr Eigenheim bauten, und deswegen am Montag nicht ausgeruht, sondern erschöpft ins Werk kamen, schliefen während der Arbeitszeit in der Röhre. Es gab ein stilles Abkommen zwischen den Kollegen, die dafür an dem Tag die Aufgaben des schlafenden Kumpels übernahmen: Jeder baute mal ein Haus – so dass das auf lange Sicht kollegiale Solidarität auf Wechselseitigkeit ergäbe. Das wurde von der Firmenleitung akzeptiert. Es war eine der Übertretungen, die offiziell verboten war und sehr wohl toleriert wurde. Denn die Firmenleitung wusste: Arbeiter, denen man so etwas einräumt, sind motivierter, und eine Kollegenschaft, die zusammenhält, leistet für die Firma mehr, wenn es einmal nötig ist.

Der britische Wirtschaftsautor Paul Mason weiß ähnliche Geschichten zu erzählen: „Das allererste, was ich im Alter von 18 Jahren im Labor einer Kohlefabrik gelernt habe, war, wie man granulierten Kohlenstoff mit Hilfe eines Stapels an Messingsieben sortiert und hinterher abwiegt. Die zweite Fähigkeit, die ich lernte, war, wie man die Ergebnisse manipulieren kann, weil die Maschinen zu alt waren, um akkurat zu messen. Die dritte Fähigkeit, die ich lernte, war, all das möglichst langsam zu tun. Und die vierte – und ich gebe zu, mit der hatte ich meine Mühe, war zu erlernen, wie ich all das auch noch zwei großen Bieren perfekt hinkriegen konnte.“ Die Männer, die ihn mit all den informellen Regeln vertraut machten, waren keine Schummler, sondern hätten „ganz simpel den Deal befolgt, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Industrien der entwickelten Länder herausgebildet hatte: die Kooperation zwischen den Arbeitern und die Kooperation zwischen den Arbeitern, den Vorarbeitern und dem Management.“

Einerseits hat sich seither viel verändert. Andererseits nicht. Auch heute gilt noch: Das Wesentliche an Arbeit ist unsichtbar. Wenn wir von Arbeit sprechen, stellen wir uns Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fabrik vor, Maschinen, organisierte Abläufe im Büro, Menschen, die vor dem Computer sitzen, Leute, die an irgendetwas herumtüfteln. Arbeiter schrauben, fräsen, montieren, Angestellte im Büro notieren, skizzieren, kalkulieren. Programmierer basteln Apps, Anwältinnen studieren Gesetzestexte, Kassiererinnen rechnen Einkäufe zusammen. Kurzum: Wenn wir über Arbeit sprechen oder nachdenken, dann meist über Tätigkeiten, also darüber, was getan wird. Und dazu haben wir das Bild im Kopf, dass diese Leute klare Aufgaben haben, die nicht sie sich stellen – sondern das Management für sie vorgibt. Aber womöglich ist das gar nicht das Wichtigste von Arbeit.

Wir gehen arbeiten, weil wir Angst haben, dass wir verarmen, wenn wir kein Geld verdienen. Weil wir für unsere Nächsten sorgen wollen, denen wir uns verantwortlich fühlen. Wir gehen arbeiten, weil wir die Motivation verspüren, etwas zu tun und weil wir unsere Arbeit lieben. Wir wollen unsere Arbeit ordentlich machen, für sie geschätzt, anerkannt und respektiert werden. Wir wollen ins soziale Geflecht der Kollegenschaft eingewoben sein. Wir wollen eine Arbeit, der wir Sinn zuschreiben. Arbeit gibt uns Selbstbewusstsein, genauso, wie es unser Selbstbewusstsein untergraben kann, wenn wir am Arbeitsplatz respektlos behandelt werden. Gefühle spielen am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle. Wenn wir einen Work-Flow haben, dann verspüren wir ein Hochgefühl, fühlen wir uns längere Zeit überfordert, droht Frustration, im schlimmsten Fall ein Burn-Out. Die emotionale Seite der Arbeit wird heute längst in Managementdiskursen anerkannt, „emotionale Kompetenz“ wird gefördert.
Der Traum jedes Managements ist die totale Kontrolle über die Arbeit. Zugleich ist Arbeit in Fabriken und Büros von der Kooperation der Arbeiter bestimmt. Mit Kontrolle alleine, einem System von Befehl und Gehorsam lässt sich ein Unternehmen nicht führen. Die Beschäftigten müssen kooperieren. Daraus entsteht ein Gefühl der Kollegialität, es entwickeln sich aber auch Handlungsspielräume. Die vorgegebenen Abläufe werden durch die Beschäftigten immer wieder unterlaufen und verändert, in Fabrik und Büro öffnen sich Räume, Spalten und Nischen für den Eigensinn von Arbeiter und Angestellten. Es ist stets eine doppelte Bewegung: Die Beschäftigten passen sich an die Vorgaben an, sie sind der Macht der Unternehmensleitung unterworfen, aber zugleich können sie diese Vorgaben auch abwandeln. Eine Unternehmensleitung ist gut beraten, den Eigensinn der Mitarbeiter zu achten.
Arbeit ist ein Gefühl, aber Gefühle sind unsichtbar. Die informellen Regeln am Arbeitsplatz, die akzeptierten Freiräume, die Art, wie Regeln unterlaufen werden, die Hackordnungen unter Kollegen. Das Wesentliche ist hinter den Oberflächenbildern. Ähnliches gilt für die Produkte, die hergestellt werden. Sie haben meist ein schönes, gewinnendes Design, aber die Technologie, die in ihnen steckt, bleibt ebenso verborgen wie der Produktionsprozess. Hat ein Mädchen, das 12-Stunden-Tage in der Textilfabrik sitzt, meine T-Shirts genäht? Welche Schrammen hat der Minenarbeiter, der die seltenen Erden für mein Smartphone aus dem Untergrund holte? Hat die Polizei bissige Hunde oder Schusswaffen eingesetzt, um Streiks zu brechen und die Arbeiter wieder zur Arbeit zu treiben? All das sieht man den Produkten nicht an. Unsere Arbeitswelt ist hinter blickdichte Glasscheiben verbannt.

„Sobald man beginnt, über die subjektive Dimension der Arbeit nachzudenken, fallen einem eine ganze Menge unsichtbare Dinge ein: Anstrengung, Ermüdung, Freude, Stolz, Kooperation, Organisation, Zusammenarbeit, Überlastung, Stress, Wut“, formuliert der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer. „Arbeit ist auch subjektive Aneignung und persönlicher Gewinn. Die Geschichte der industriellen Arbeit ist zugleich eine Geschichte der Emanzipation: Aus landlosen oder leibeigenen Bauern wurden Arbeiter in der Fabrik, und die sich seit dem 18. Jahrhundert, zuerst in England, dann in Frankreich, Belgien und Deutschland herausbildende Arbeiterklasse lernt schnell, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen: für den Zehn-, dann – viel später – den Achtstundentag, für menschenwürdige Löhne, später dann für Sicherheit am Arbeitsplatz, gegen Kinderarbeit, für Renten und vieles mehr.“

Die Frage des Unsichtbaren und dessen Sichtbarmachung war schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein Thema: Victor Adler recherchierte Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ziegelarbeiter und löste damit eine gesellschaftliche Debatte aus. Wenig später veröffentlichte der amerikanische Fotografie-Pionier Lewis Hine Porträts, die amerikanische Kinderarbeit in der Landwirtschaft, der Industrie und im Bergbau zeigten. Diese Fotoserie, die heute zum Kanon der klassischen Fotokunst zählt, rüttelte die Amerikaner auf und führte zum Verbot der Kinderarbeit. Die Pointe daran: Hine hatte den Auftrag zu dem Shooting eigens vom „National Child Labor Committee“, dessen Ziel es war, Kinderarbeit zu verbieten. Sie war also damals schon so medienkompetent wie heute Organisationen wie Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen. Bilder und somit Sichtbarmachung kann die öffentliche Meinung massiv beeinflussen.

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Seit Jahrhunderten dreht sich das Leben der allermeisten Menschen um Arbeit, da sie nur so das Lebensnotwendige erwirtschaften oder sich Wohlstand aufbauen können. Arbeit ist auf vielfältige Weise zentral im Leben. Wir haben eine Arbeitsgesellschaft erbaut, in der Arbeit zentral ist – für den einzelnen Menschen, für das Sozialsystem, für unser Selbstwertgefühl, für alles. Und in Zukunft? Für die haben wir einen verstörenden Verdacht: Während Arbeit ohne Menschen auskommt, kommen die Menschen womöglich nicht ohne Arbeit aus.

Arbeit 4.0. Automatisierung. Robotisierung. „Nehmen uns die Roboter die Arbeit weg?“ – „Wird mich ein Automat ersetzen?“ Und: „Wer oder was bin ich dann noch?“ Das sind Fragen, die sich viele Menschen stellen, vom LKW-Fahrer bis zum Anwalt. Eigentlich absurd: Maschinen können uns von der Mühsal befreien, und gleichzeitig noch mehr Stress ins Leben bringen, wenn sich die Leute um verbliebene Jobs klopfen müssen.

Man weiß, was technologisch möglich ist oder bald sein kann. Kollaborative Roboter werden nicht mehr, wie die „dummen“ Automaten in den Fertigungsstraßen der heutigen Autoindustrie, einfach programmierte Montageschritte erledigen. Sie werden mit Menschen zusammenarbeiten, diese mit Sensoren „beobachten“ und dann fähig sein zu entscheiden, was der „Kollege“ von ihnen will. Sie werden durch unser Verhalten und andere Feedback-Daten lernen und sich verbessern. Schon heute gibt es Bauroboter, die tausend Ziegel in der Stunde verlegen und ein Haus im Rohbau in drei Tagen fertig stellen. Die Textilindustrie wandert aus Billiglohnländern wieder zurück in die Metropolen, weil Automaten auf ihre Lebensdauer gerechnet nur vier bis fünf Euro pro Stunde „kosten“, also bald billiger sind als Arbeiterinnen in Bangladesh. Rechtsanwälte, Journalistinnen, Röntgenärztinnen, sogar Chirurgen – alle Arbeiten, die einigermaßen routiniert funktionieren, können theoretisch von Software oder Hardware erledigt werden.

Schon jetzt gibt es gigantische 3-D-Drucker, die Häuser oder auch Brücken „ausdrucken“ können. Womöglich werden wir unsere Lieblingswaren so bald selbst produzieren können. Wir laden eine Vorlage aus dem Netz herunter, bearbeiten sie so, wie wir das wollen und geben dann den Befehl „print“ ein – und beim nächsten Copyshop, der dann auch ein 3-D-Druck- und Fräseshop sein wird, wird das Ding ausgedruckt – vom Autoersatzteil bis zur Lego-Figur.

Was man nicht weiß, ist, wie sich das auf die Arbeitsmärkte der Zukunft auswirkt. Wird es so sein wie zuvor, dass der Niedergang alter Branchen zu mehr und besseren Jobs in neuen Branchen führt? Oder wird es diesmal anders sein? Wird der Arbeitsmarkt radikal gespalten werden – gute Chancen für Top-Ausgebildete, die der digitale Kapitalismus braucht, und nur Peanuts oder Überflüssigkeit für alle anderen?

„Den Maschinen die Arbeit, uns das Vergnügen“, wäre natürlich auch eine mögliche Haltung. Nicht mehr nur Phantasten denken heute über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ nach. Bill Gates fordert eine „Robotersteuer“ und fügt scherzend hinzu, die Automaten würden sich wenigstens nicht empören, wenn man sie besteuert. Eine Arbeitszeitverkürzung auf zwanzig Stunden in der Woche scheint langsam nicht völlig irreal. Warum auch nicht? Zwischen 1850 und 1950 wurde die Arbeitszeit von achtzig auf vierzig Stunden reduziert, seither blieb sie ziemlich stabil.

Was aber passiert, wenn Arbeit als das Zentrale aus dem Leben verschwindet? Die Pointe ist ja: Selbst wenn wir Einkommen anders erwirtschaften – die Lohnarbeit ist ersetzbar, das Unsichtbare an der Arbeit aber nicht. Das Selbstwertgefühl, der geheime Raum, das Wissen, dass Kollegen einen schlafen lassen. Die Identität, die wir aus dem Beruf generieren. Wir müssten unsere Tage völlig neu strukturieren. Wir bräuchten neuen Ansporn, etwa um uns zu bilden. Chefs im herkömmlichen Sinne gäbe es keine mehr. Und damit auch keine Macht, die durch den Zwang zur Lohnarbeit entsteht. Arbeit wäre wirklich freiwillig. Und wir könnten so kreativ sein, wie wir wollen. Ungewiss ist, ob wir das überhaupt sein würden – vielleicht würden wir in völliger Gleichgültigkeit versinken.

Wir müssten eine ganz neue Form des Zusammenlebens mit Maschinen erlernen. Vielleicht würde es uns mehr Zeit und Möglichkeiten geben, vielleicht würde es uns abhängiger und kontrollierbarer machen. Und neuen Stress ins Leben bringen, von dem wir jetzt noch gar nichts wissen. Schließlich starren wir heute schon stundenlang ins Handy.

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