Lob des Kompromisses

Kompromisse stehen in einem schlechten Ruf. Sie seien der Feind der großen Würfe und enden im Kleinklein, heißt es. Fast instinktiv denken wir an „faule Kompromisse“. Aber das hat der Kompromiss nicht verdient. Eine Rehabilitierung.

Wiener Zeitung, Juli 2018

Wir alle kennen Menschen, die keine Kompromisse eingehen – zum Glück aber nicht viele. Jene, die man so gemeinhin „konsequent“ nennt. Sie führen ihr Leben nach strengen Regeln und Prinzipien, die sie sich selbst gegeben haben, sie sind, was man so salopp „geradeheraus“ nennt und würden nie mit ihrer Meinung hinter dem Berg halten, auch wenn sie wissen, dass daraus sofort Stunk und schlechte Stimmung folgt. Haben sie zufälligerweise einmal Freunde, überwerfen sie sich schnell mit ihnen. Ansonsten sind sie ziemlich einsam. Das Leben der kompromisslosen Leute ist nicht schön.

Und für alle anderen sind sie anstrengend.

Man hüte sich vor den Kompromisslosen. Dennoch steht der Kompromiss in einem schlechten Ruf. Er sei der Feind des Entschiedenen und daher der großen Würfe, verwässere alles, definitionsgemäß verliere er sich im Kleinklein, sorge für dröhnenden Stillstand, ja, er untergrabe sogar die moralische Klarheit, weil er meist von Menschen geschlossen wird, die bereit sind, auch einmal von Prinzipien abzugehen. „Wenn es um Kompromisse geht, taucht das Wort ‚faul‘ fast schon reflexartig auf“, formulierte die „Süddeutsche Zeitung“. Schon alleine die sprachliche Nähe von „Kompromiss“ und „kompromittieren“ weist semantisch die Fährte.

Parteien schließen Koalitionen und müssen Kompromisse eingehen, und wenn sie nicht nur Meinungsunterschiede im Detail, sondern wirkliche Haltungs- und Wertedifferenzen überbrücken sollen, setzt regelmäßig das Gejammer ein. Es könne dann ja nur ein kleinster gemeinsamer Nenner herauskommen, ein Getrippel und Gestolper. Der Kompromiss führt dazu, dass jeder etwas weniger von dem bekommt, als er will. Aber auch Lebenspartner schließen Kompromisse, nehmen auf Vorlieben und Abneigungen Rücksicht, so dass jeder von ihnen einen Teil seines Lebens aufgibt oder wenigstens nicht in jeder Situation „ganz er/sie selbst“ ist. Und, horribile, wir gehen mit uns selbst Kompromisse ein: Wir haben ein Bedürfnis nach Sicherheit, aber vielleicht auch ein wenig die Gier nach dem Abenteuer und tarieren diese Ziele gegeneinander aus, so dass statt Weiß oder Schwarz ein schmutziges Grau zurück bleibt aus Risiko und Risikovermeidung.

Aber der Kompromiss hat völlig zu Unrecht einen so sauschlechten Ruf. Er ist das, was uns weiter bringt. Er lässt das Leben erst lebbar werden. Man sieht das schon an den Kompromissen, die wir mit uns selbst eingehen. Bleiben wir bei dem erwähnten Beispiel: Ein Leben, das nur auf maximale Sicherheit abzielt, wäre nicht auszuhalten, eines, das das maximale Risiko sucht, nicht lebbar. Der Kompromiss ist kein Verzicht, sondern ein eigener Betriebsmodus. Und zwar meist der einzige, der funktioniert.

Im öffentlichen Leben ist das selten anders. Parteien, die mit 51 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit haben, tun gut daran, die eigenen Vorschläge nicht der Minderheit aufzuoktroyieren, sondern einen Ausgleich anzustreben. Und Parteien die miteinander koalieren und Kompromisse eingehen, müssen nicht unbedingt Abstriche in dem Sinne machen, dass der Kompromiss, der herauskommt, schlechter ist, als es die unterschiedlichen Konzepte der Partner gewesen wären, hätten die konsequent sein können. Simpel gesagt: Der Kompromiss ist oft besser, gerade weil auf dem Weg der Kompromissfindung Gesichtspunkte berücksichtigt wurden, die ansonsten möglicherweise gar nicht aufgetaucht wären. Gerade das ist ja übrigens auch der Vorteil des parlamentarischen Verfahrens und damit auch der repräsentativen Demokratie, also der Wahl von Parlamentariern, die dann nicht tun, was wir wollen, sondern tun, was sie wollen – oder ihre Parteien.

Oft hält man die repräsentative Demokratie für schwerfällig, für einen beklagenswerten Filter, der verhindert, dass der Volkswille zum Durchbruch kommt, für einen Feind der Leidenschaften und für eine Bremse, die Entschiedenheit und Wagemut hemmt. Aber abgesehen davon, dass unklar ist, was der Volkswille überhaupt ist, und ob es wirklich der Ausdruck irgendeines metaphysischen Volkswillens ist, wenn sich der Wille von 50,5 Prozent über den Willen von 49,5 Prozent durchsetzt, so taugen ja vor allem viele Fragestellungen keineswegs für eine Ja/Nein-Entscheidung. Nehmen wir das Beispiel der Wehrpflicht, worüber vor einiger Zeit in Österreich abgestimmt wurde. Natürlich kann ich über die Frage der Wehrpflicht abstimmen. Aber wie wir aus der Praxis wissen, hängt selbst an solch einer klar umgrenzten Frage wie Wehrpflicht Ja/Nein der Zivildienst, am Zivildienst hängt die Funktionstüchtigkeit der Hilfsorganisationen, der Rettung etwa, und an deren Funktionsfähigkeit die von Spitälern und das Gesundheitssystem. Gewiss kann man das Gesundheitswesen auch anders organisieren, und gewiss gibt es dafür mehr als drei Möglichkeiten. Die allermeisten politischen Fragen sind so: Dass nicht ZWEI Alternativen zur Auswahl stehen, sondern ein ganzes Set an Vektoren beeinflusst werden kann, sodass theoretisch HUNDERT Detailalternativen entworfen werden können. Und auch die lassen sich nur entwerfen, wenn man über alle Gesichtspunkte verhandelt. Und dann ein Kompromisspaket schnürt, mit dem die meisten leben können. Die Welt ist in aller Regel zu komplex für ein unterkomplexes Dafür/Dagegen.

Aber nicht alleine das spricht für den Kompromiss. In einer Gemeinschaft, formuliert der Autor Rainer Erlinger in der „Süddeutschen“, ist es „ein Wert an sich, wenn eine Lösung möglichst viele berücksichtigt und von möglichst vielen mitgetragen wird“.

Das Widerstreitende irgendwie unter den Hut zu bringen ist der Kern der Demokratie. Einerseits lebt die Demokratie von der Entfesselung der politischen Leidenschaften, denn ohne diese wird sie lau und fad, andererseits braucht sie auch Elemente der Zähmung, da ein Gemeinwesen ansonsten im Extremfall in permanente Bürgerkriegsstimmung zerfällt.

„Der Kompromiss ist ein zweideutiger Begriff“, schreibt der israelische Philosoph Avishai Margalit in seinem Buch „Über Kompromisse und faule Kompromisse“. „Er vereinigt gegensätzliche Bedeutungen in sich.“ Mal wird er instinktiv verdammt, dann auch unbedacht gefeiert. Einen „Buh-Hurra-Begriff“ nennt Margalit das. Weil zweierlei Assoziationen mitklingen – „die positive Vorstellung, die auf menschliche Kooperation verweist, verwoben mit einer negativen Vorstellung, die den Verrat an hochgesinnten Prinzipien signalisiert. Kompromisse gelten manchmal als Ausdruck guten Willens, und bei anderer Gelegenheit empfindet man sie als Wischiwaschi.“ Kompromisse, die etwa einen Krieg beenden, werden üblicherweise gefeiert, auch dann, wenn sie eigentlich unseren Gerechtigkeitsempfindungen widersprechen, politische Kompromisse, bei denen Streitparteien beispielsweise sachfremde Themen gegeneinander abtauschen („du bekommst von uns Arbeitsmarktflexibilisierung, wenn wir von dir eine Vermögenssteuer bekommen“), scheinen uns als krumme Kompromisse, sogar dann, wenn die Ergebnisse in der Sache ganz prima sind.

Im Grunde ist ja die Demokratie, wie wir sie kennen, konstituiert von Kompromissen und der Abfederung des Entschiedenen, und nicht nur, weil sich Regierungspartner zusammen raufen müssen. Erfolgreiche Demokratien sind die, die mit Liberalität, Minderheitenrechten, Rechtsstaat und einem gewissen Laissez-Faire des „leben und leben lassen“ untrennbar verbunden sind und eben nicht mit der plebiszitären Diktatur der Mehrheit über die Minderheit.

Und vielleicht brauchen sie sogar den entfernten Verwandten des Kompromisses, nämlich den Konsens. Beim Konsens sind sich ja alle Konfliktparteien – die dann natürlich gar keine mehr sind – über das Richtige einig, beim Kompromiss behalten sie unterschiedliche Auffassungen über die optimale Lösung. Aber der Kompromiss braucht in aller Regel einen subtilen Konsens, etwa den Konsens darüber, dass zivilisierte Leute Meinungsunterschiede in Debatten, Verhandlungen und eben im Finden von Kompromisslösungen schlichten sollen und man die Leidenschaften nicht zu sehr anstacheln solle. Der polnisch-amerikanische Politikwissenschaftler Yascha Mounk hat in seinem Buch „Der Zerfall der Demokratie“ das Geheimnis erfolgreicher Demokratien der Nachkriegszeit zu entschlüsseln versucht und drei Faktoren unterstrichen: einen raschen Anstieg des Lebensstandards, der generelle Zuversicht nach sich zieht; eine gewisse Homogenität der Bevölkerung, sodass sich die Bürger als Ähnliche sehen; und einen gewisser Konsens, der die Differenzen absteckt oder eingrenzt, was aber auch die Fähigkeit voraus setzt „extreme Ansichten an den Rand zu drängen“ und Unversöhnlichkeit und Polarisierung zu vermeiden. Mounk: „Trotz aller Unterschiede zwischen linken und rechten Parteien lag der Politik ein breiter Konsens zugrunde.“

Das Herdentier Mensch muss auf andere Rücksicht nehmen, wenn es einigermaßen glücklich durchs Leben kommen will. In der modernen Massengesellschaft erst recht, wir können „ganz wir selbst“ nur um den Preis der Dissoziation sein, unsere Ziele aber zugleich nur verwirklichen, wenn wir uns mit anderen zusammentun und damit an sie anpassen. Um die Freiheit zu verwirklichen müssen wir sie zugleich ein Stück aufgeben. Das ist jenes „Unbehagen in der Kultur“ über das Sigmund Freud so fulminant geschrieben hat. Zwischen dem realen Ich und unseren „prinzipiellen“ Werten wird stets ein Graben sein. Avishai Margalit meint deswegen, dass der Kompromiss im philosophischen Diskurs viel zu wenig Beachtung erfährt. Schließlich sagen unsere Kompromisse, die wir eingehen, doch viel mehr über uns aus als unsere Ideale und Normen. „Ideale können uns etwas Wichtiges darüber sagen, was wir gern wären. Kompromisse aber verraten uns, wer wir sind.“

Natürlich sollen wir nicht jeden Kompromiss eingehen, und meist haben wir ein ganz gutes Gespür dafür. Politische Kompromisse können nicht eingegangen werden, wenn sie unsere Werte zu stark kompromittieren. Kompromisse im Leben werden dann unerträglich, wenn sie sich zu etwas summieren, was wir ganz elementar als „falsches Leben“ empfinden.

In einer solchen Situation kündigen wir den Kompromiss vielleicht auf – oft buchstäblich, indem wir etwa den Job kündigen. Aber im Grunde beenden wir auch dann nicht den Kompromiss. Wir ersetzen nur den einen durch einen anderen. Einen, der uns zu sehr verbog durch einen lebbaren.
Dem Zwang zum Kompromiss entkommen wir aber nicht. Und das ist auch gut so.

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