Wer taktiert, verliert

Alle reden über Migration und die SPD weiß nicht, was sie tun soll. Es ginge auch anders.

Gegenblende, Juli 2018

Man reibt sich die Augen: die Union zerstreitet sich um Detailfragen der Asylpolitik, der rechte Flügel der CDU und die CSU lizitieren sich immer weiter nach oben, die AfD kommt gar nicht mehr nach und freut sich allenfalls, dass sich ihre Hetzbegriffe allgemein durchsetzen, von „Asyltourismus“ abwärts. All das hat aber eine Reihe von Folgen: Zeitungen und Talk-Shows haben nur mehr ein Thema, die Fülle des medialen Getrommels steht in keinem Verhältnis mehr zur realen Problematik, mediale Wirklichkeit und wirkliche Wirklichkeit koppeln sich immer mehr voneinander ab. Alleine die übertriebene Präsenz des Themas evoziert schon das Bild der „Überforderung“ durch Migration, das die radikalen Rechten gerne zeichnen. Von der Art: Wenn viel zu viel über Ausländer geredet wird, dann müssen ja auch viel zu viele da sein. Eine andere Nebenfolge: die Progressiven kommen in all dem gar nicht mehr vor. SPD oder Grüne? Haben kaum mehr eine Chance, mit anderen Themen Gehör zu finden. Und beim Hauptthema haben sie keine Ahnung, was sie genau sagen sollen.

Aber all das ist natürlich nur eine Symptomatik für die Probleme der europäischen Progressiven im Allgemeinen und der Sozialdemokraten im Besonderen. In Österreich war der vergangene Wahlkampf ein Überbietungswettbewerb von einer ins Rechtspopulistische umfrisierten ÖVP und der rechtsradikalen Freiheitlichen, die nun gemeinsam regieren – unter einem Kanzler Sebastian Kurz, der sich grämt, wenn ihn die Financial Times „Far Right“ nennt. Die Sozialdemokraten konnten sich verglichen mit vielen ihrer europäischen Schwesterparteien dabei noch einigermaßen behaupten, blieben aber mit 27 Prozent der Stimmen deutlich zweiter.

Fast allen etablierten Mitte-Links-Parteien machen Rechtspopulisten zu schaffen, die sich als „die Fürsprecher des einfachen Volkes“ kostümieren und die Sozialdemokraten in die Rolle einer Partei von politischen Apparatschiks und der „besseren Leute“ drängen – sie stellen sich als „Establishment“-Parteien hin, die den Faden zu den normalen Menschen verloren hätten. In Frankreich wurden die Sozialisten faktisch ausgerottet, in Italien setzte es für die große Mitte-Links-Partei eine krachende Niederlage.

Daran sieht man schon: die Sozialdemokraten haben in ganz Europa nicht nur ein Problem, sondern eine Fülle von Problemen.
Erstens: die Dominanz des Themas Migration. Zweitens der Verlust an Glaubwürdigkeit als Vertretung der unteren Mittelklasse und der Arbeiterklasse. Drittens generell ein Vertrauensverlust, weil man in vielen Fragen nicht mehr weiß, wofür Sozialdemokraten jetzt eigentlich stehen. Viertens ein viel zu langes Anbiedern an den neoliberalen Zeitgeist. Fünftens ein Mangel an klaren Zielen. Sechstens ein Habitus des Staatstragenden, was gelegentlich nützlich sein kann, sehr oft aber dazu führt, dass man Sozialdemokraten als lau und feige und irgendwie eben unentschlossen wahrnimmt.

Wie kommt man da also raus?

#Migration und Asyl

In vielen Sozialdemokratien gibt es diesen Reflex, angesichts der Dominanz des Themas Migration und der gegenwärtigen Stimmungslage den Kopf einzuziehen. Motto: Auf diesem Feld gibt es für uns nichts zu gewinnen. Überall nisten sich dann geniale Kommunikationsberater ein, die erklären, man solle versuchen, die Debatte auf andere Felder zu lenken, etwa die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Erfahrung zeigt zwar, dass das nahezu niemals gelingen kann, aber Spin-Doctoren werden durch Erfahrung selten klüger, sie können ja schon aus Geschäftsgründen niemals zugeben, dass sie falsch gelegen haben, also neigen sie zu der Interpretation, dass ihre Ratschläge schon richtig seien, nur eben nicht konsequent genug befolgt wurden. Aber für jeden, der nicht völlig der Deformation Professionelle erliegt sollte klar sein: Wenn beim dominanten Thema die Gegenseite die Hegemonie hat, dann muss man auf diesem Feld kämpfen, und zwar um eine alternative Haltung, eine alternative Erzählung, um eigene progressive Konzepte, darum, den Konsens wenigstens ein paar Zentimeter wieder zu verschieben. Und zwar mit Selbstbewußtsein.

Und dafür gibt es schließlich genug Gründe: Die moderne, diverse Gesellschaft ist eine Erfolgsgeschichte, aber nicht nur das – sie ist einfach unsere Realität. Wenn bei der Integration gestern etwas falsch gemacht wurde, dann muss man es eben morgen besser machen. Etwa: Indem man Einwanderern und ihren Kindern von Beginn an klar macht, dass sie zu uns dazu gehören; ihnen nicht vom Kindergarten an zu verstehen gibt, dass sie nie richtig dazu gehören werden.

Kriegsflüchtlingen muss geholfen werden, das folgt aus humanitären Prinzipien. Und am besten ist es, Einwanderung geregelt zu organisieren – und natürlich auch so, dass sie Gesellschaften nicht überfordert. Für all das braucht es Konzepte, es muss für sie gestritten werden, aber „Festung Europa“ und „Alle abschieben“ ist kein Konzept. Diese Parolen trampeln nicht nur auf den Prinzipien der Offenen Gesellschaft herum, sie machen auch jedes Problem noch größer, weil sie ein Klima schaffen, das Integration auch noch erschwert. Sozialdemokraten brauchen sich da gar nicht verstecken und den Kopf einziehen – im Gegenteil, sie müssen für die Vernunft kämpfen und streiten und überzeugen.

#Soziales
Die gute Nachricht ist, dass sich mittlerweile herumgesprochen hat, dass die Sozialdemokratie ein Glaubwürdigkeitsproblem bei den unteren Mittelschichten und der Arbeiterklasse hat. Die Sozialdemokratien der Gegenwart sind oft Mittelschichtsparteien, und ihren Führungscrews haftet zudem etwas Apparatschikhaftes an – es sind Berufspolitiker, die sich nur mehr in ihren Kreisen bewegen. Und oft haben sie sich an den politisch-ökonomischen Zeitgeist angepasst. Viele Menschen in unterprivilegierten Wohnquartieren, in den Vorstädten, in kleinen Städten, Menschen, die ökonomischen Stress erleben, haben daher das Gefühl: Ich habe Probleme, aber Ihr interessiert Euch nicht einmal für meine Probleme. Eigentlich interessiert Ihr Euch nicht einmal mehr für uns. Die große Studie des „Progressiven Zentrums“ („Rückkehr zu den politisch Verlassenen“) hat all das ebenso deutlich gemacht wie die Debatte, die sich um das Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon entspannte. Die progressiven Parteien haben in diesen Milieus ein massives Vertrauensproblem, das nicht so schnell verschwinden wird. Denn einerseits braucht der Wiederaufbau von Vertrauen Zeit, so etwas funktioniert nicht über Nacht, andererseits reicht es auch nicht, wenn man schnell drei, vier Forderungen aufstellt, die die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen ins Zentrum rückt, und drittens müsste man auch wieder vor Ort präsent sein, wozu aber mittlerweile meist die Aktivisten und organisatorischen Netzwerke fehlen. Aber auch wenn es nicht leicht ist: Die Sozialdemokraten müssen einfach wieder glaubwürdige Stimme dieser Bevölkerungsgruppen werden.

#Liberalität
Man hat den Eindruck, dass es bei den progressiven Parteien nichts Gutes gibt, das nicht gleich mit etwas Schlechtem einher geht. Es ist ja gut, dass man einsieht, dass die Vertretung derer, die sich „als Vergessene“ fühlen, zur Kernaufgabe der Sozialdemokratien zählt. Leider ziehen daraus nicht wenige Spitzfindige den Schluss, dass man in der Vergangenheit „zu liberal“ gewesen sei. Man habe sich um die Rechte von Minderheiten gekümmert, Migranten verhätschelt, Homosexuellen die Ehe erstritten, den Feminismus zelebriert, sich aber zu wenig um die Probleme der Stahlarbeiter und Paketboten und Aldi-Verkäuferinnen gekümmert. Ergo: Man müsse den liberalen Klimbim ablegen und wieder volkstümlicher werden. Ein, Verzeihung, strunzdummer Gedankengang. Denn erstens tut er so, als könne man nur das eine oder das andere tun – die sozialen Interessen der unteren Schichten vertreten oder die demokratischen und emanzipatorischen Prinzipien hoch halten. Und zweitens ist dieser Gedankengang von dem Fehler infiziert, der die Sozialdemokraten erst in diese Malaise brachte: dass man seine Aussagen und Haltungen an angebliche Wünsche einer vorher definierten Zielgruppe anpasst. Zielgruppenkommunikation ersetzt dann Grundsätze, und weil das jeder spürt, gibt es ja eben das Glaubwürdigkeitsdefizit.

Sozialdemokratien, die erfolgreich waren, waren aber immer zugleich Kraft der sozialen Gerechtigkeit als auch Kraft von Modernisierung und Demokratisierung. Sie waren aber auch immer heterogene Bündnisse aus, wie man früher gesagt hätte, Arbeiterklasse und städtischen demokratischen Mittelschichten. Und vor allem sind sie einem Weltbild gefolgt, und waren deshalb auch glaubwürdig. Kurzum: Man kann in verschiedenen Milieus glaubwürdig sein. Nein, genauer: Wenn man grundsätzlich glaubwürdig ist, dann ist man es in allen Milieus.

#Ambitionierte Ziele
Die radikale Rechte hat ein Ziel: Sie will den Pluralismus zurück drängen, nicht nur im engen politischen Sinne sondern auch in den Lebenswelten, weniger Diversität, weniger Rücksichtnahme auf Subgruppen, weniger Pluralismus auch in den Konventionen. Sie präsentieren sich daher auch nicht wie ihre Vorfahren als Antidemokraten, sondern als Demokraten. Ihre Botschaft tarnt sich sogar demokratisch: Wir wollen endlich, dass die Mehrheit wieder den Ton angibt. Die radikale Rechte will den Geist von 1968 austreiben und träumt von einer „konservativen Revolution“ (Alexander Dobrindt). Man kann dieses Ziel für verrückt oder verdammenswert halte, aber es ist immerhin ein Ziel. Die Progressiven haben heute eher einen Mangel an klar konturierten Zielen: Sehr viel an Wohlfahrtsstaatlichkeit ist erreicht, und Sozialdemokraten haben oft sogar an der Demontage der Wohlfahrtsstaatlichkeit mitgewirkt. Ganz generell fühlen sie sich in einer Phase der Defensive, wo der Ton dann eher auf dem Verteidigen des Erreichten liegt. Das ist zwar notwendig, und in einer Zeit, in der in ganz Europa ein Angriff auf die liberale Demokratie rollt, erst recht, aber die Defensive ist natürlich noch kein Ziel, für das Menschen glühen würden. Ein solches Ziel könnte sein: Die Diktatur von ökonomischen Druck und wachsender Konkurrenz brechen. Sicherheit ins Leben – vom Wohnungsmarkt bis zur Arbeitswelt bis zu den sozialen Sicherheitssystemen.

Progressive Parteien, die wieder Mehrheiten gewinnen wollen, brauchen also, knapp gesagt: Eine klar erkennbare Identität. Nichts ist toxischer, als wenn sie als Establishmentparteien erscheinen, von denen man dann auch nicht einmal mehr weiß, wofür sie stehen. Und natürlich brauchen sie das Spitzenpersonal, das ihre Prinzipien glaubhaft verkörpert. Und sie müssen auf jedem Themenfeld für ihre Prinzipien einstehen – wer hier übertaktiert, hat schon verloren.

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