Das Vermögen der normalen Leute

Die Sozialversicherungen und ihre natürlichen Feinde

Arbeit und Wirtschaft, Oktober 2018

Wir dürfen davon ausgehen, dass die Sozialversicherungen Institutionen sind, zu denen die Menschen keine besonders tiefe emotionale Bindung haben. Zu Kirche, freiwilliger Feuerwehr, zum Schulsystem, zu vielen anderen Institutionen, die im Alltag präsent sind, haben die Bürger und Bürgerinnen wohl ausgeprägtere Gefühle, seien sie kritisch-ablehnende, seien sie Gefühle der Zuneigung oder die gängige Mischform, die Hassliebe. Aber wer hat schon Zuneigung zur Gebietskrankenkasse? Wer zur Pensionsversicherungsanstalt? Wer zur Unfallversicherung? Wer zur Arbeitslosenversicherung? Klar, wer einmal eine Mahnung oder einen Exekutionsantrag von der SVA erhalten hat, der kennt kurze Gefühle blanken Hasses, wer einen Termin bei der PVA hat und flink und kompetent beraten wurde wird ein gutes Gefühl gegenüber einer Institution haben, die „ordentlich arbeitet“, und wer in einer gesundheitlichen Krise von der Rettung ins Krankenhaus gebracht wurde, dort bestens ärztlich betreut und sich hinterher in der Reha rundum versorgt fühlte, der wird möglicherweise sogar einen gewissen staatsbürgerlichen Stolz darüber empfinden, in einem Land zu leben, in dem all das einfach wie am Schnürchen läuft. Aber dennoch werden sich die meisten Menschen keine großen Gedanken über das institutionelle Gefüge machen, das dahinter steht. Vielleicht nicht einmal aus Ignoranz: Aber diese Dinge existieren einfach, sie funktionieren, sie sind immer schon da. Es ist auch nicht einmal so, dass die Menschen keine Ahnung haben, wie das System funktioniert. Sie wissen, dass diese Dinge bei uns „irgendwie“ staatlich organisiert sind. Also jedenfalls nicht privatkapitalistisch und kommerziell. Und die übergroße Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen finden das gut so.

Und damit reicht es für die meisten auch. Dass diese Institutionen in Selbstverwaltung organisiert sind, also nicht, wie etwa Ministerien, direkter Teil der öffentlichen Verwaltung, sondern so strukturiert sind, dass sie von den Beitragszahlern beschickt werden, davon haben sie allenfalls eine leise Ahnung – und das wohl auch die Wenigsten. Die Rückbindung der Selbstverwaltung an die Beschäftigten ist auch zu lose, wenn man diesen Begriff gebrauchen will, um auch nur irgendwie aufzufallen. Dass eine starke Vertretung von Beschäftigten in den Selbstverwaltungskörpern Folgen hat fällt ja auch nicht sonderlich auf, solange diese starke Vertretung nicht geschwächt wird. Man kann auch so formulieren: Solange das Öffentliche und Solidarische nicht privatisiert und vermarktlicht wird, fallen die Vorteile des Öffentlichen und Solidarischen nicht besonders auf.

Oder, noch einmal anders gesagt: Das historisch Errungene wird zum Gewohnten und zum Unauffälligen, solange es nicht massiv in Frage gestellt wird.

Dabei haben die Sozialversicherungen ihre natürlichen Feinde: und zu denen gehören die harten Rechten genauso wie die Neoliberalen. Denn Sozialversicherungen, so technisch-institutionell sie uns erscheinen, haben eine Philosophie, sie strukturieren eine Gesellschaft, prägen Menschenbilder und sind zugleich Ausdruck eines Menschenbildes. Denn sie sind das Herz des Sozialstaates.

Der Sozialstaat hat, erstens, seine sozialtechnischen Seiten: Er strukturiert die Gesellschaft. Da er durch Arbeit finanziert wird hält er die Arbeit hoch. Er beruht auf einer Gerechtigkeitsidee der Reziprozität: Für Leistungen gibt es auch Verpflichtungen. Wer arbeiten kann, der ist dazu verpflichtet, nicht nur gesetzlich, sondern im Grunde sogar moralisch. Denn wer Leistungen aus dem Arbeitseinkommen anderer im Notfall oder in klar geregelten sonstigen Fällen – etwa im Alter – erhalten will, der muss auch etwas beitragen. Das ist nicht nur die Forderung, die hinter gesetzlichen Regelungen steht, sie ist auch so etwas wie ein untergründig wirkendes Gerechtigkeitsideal in unserer Gesellschaft. Aber das heißt auch, dass der Sozialstaat eine gewisse konformistische Dimension hat, bestimmte Lebensvollzüge als richtig, bestimmte andere als falsch bewertet. Wer sich dieser „Gerechtigkeit durch Reziprozität“ entzieht, der wird auch moralisch abgewertet, als jemand, „der anderen auf der Tasche liegt“ und so weiter.

Der Sozialstaat hat, zweitens, auch eine ökonomische Funktion, er ist ein wesentliches Instrument keynesianischer Wirtschaftspolitiken. Er sorgt dafür, dass niemand in völliger Armut aufwächst und damit – zumindest von der Idee her – jeder und jede seine Talente entwickeln kann und dass folglich eine Gesellschaft ihre Potentiale nicht verschwendet. So sorgt er für ökonomischen Fortschritt. Er sorgt auch dafür, dass in Krisen die Kaufkraft stabilisiert wird, weil Menschen, die ihre Jobs verlieren, nicht ins Bodenlose fallen; damit werden auch die Einkommen derer, die Arbeit haben, stabilisiert, weil ein gut strukturierter Sozialstaat das Wachstum von Niedriglohnsektoren eindämmt. All das führt dazu, dass die Konsumnachfrage, der wichtigste Motor von Prosperität, nicht allzu dramatischen Schwankungen unterworfen ist.

Aber die wichtigste Dimension des Sozialstaates – und hier besonders der Sozialversicherungen – ist, dass sie ein Motor der Freiheit sind. Dabei wird ihnen von ihren Feinden oft das Gegenteil nachgesagt, etwa, dass sie das Leben, die Arbeitsmärkte zu sehr reglementieren, dass sie einerseits mit vielen Verboten bewehrt sind, andererseits aber auch Anreize setzen, und da oft sogar die falschen. Dass zu viele Regeln oder auch nur die Pflichtversicherung „entmündigen“, weil sie die Möglichkeit ausschließen, sich nicht zu versichern oder am „Markt für Krankenversicherungen“ sich die zu suchen, die man am liebsten haben will. Auch dass die gesetzlichen Versicherungen die Bürger „enteignen“ wird gesagt, weil sie ja Beiträge leisten müssen, und nicht selbst entscheiden können, wem sie Beiträge zahlen – und ob sie das überhaupt tun wollen. In Wahrheit freilich ist das Gegenteil der Fall: Sie sind Institutionen der Freiheit, weil sie allen Menschen die Sicherheit geben, nicht ins Bodenlose zu fallen und damit erst die Voraussetzung schaffen, dass sich Bürger und Bürgerinnen, und zwar alle, frei entfalten können. „Was für eine Vorstellung von Mündigkeit steckt dahinter, wenn von ‚Entmündigung‘ der Bürger die Rede ist, weil diese vor weniger Schicksalsschlägen auf der Hut sein müssen?“, fragten Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs schon vor knapp vierzig Jahren in ihrem Buch „Sozialstaat und Freiheit“.

Mit der Pflichtversicherung ist ein Recht verbunden: Ein Recht, Leistungen zu beziehen, wenn man die dafür nötigen Voraussetzungen erfüllt. Diese sind standardisierbare Voraussetzungen, keine persönlichen. Du hast Deinen Rentenanspruch, wenn Du lange genug einbezahlt hast und ein gewisses Alter erreicht hast, und nicht deshalb, weil Du irgendjemandem sympathisch bist oder hübsch aussiehst. Der Anspruch ist also von persönlichen Eigenheiten unabhängig, oder anders gesagt: Er steht einem beinahe anonym zu. Er steigert Autonomie und ist gerade das Gegenteil von Patronage oder Paternalismus. Es ist ein Recht und kein Gutdünken.

Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel hat schließlich auf noch einen weiteren wichtigen Aspekt des Sozialversicherungssystems hingewiesen, indem er Gedanken darüber anstellte, welche Rolle Finanzvermögen (und andere Vermögensarten) in unserer Gesellschaft spielen: sie geben Sicherheit. Und mit der Sicherheit geht Autonomie einher. Wer vermögend ist, ist gegen Widrigkeiten abgesichert, kann also auch etwas wagen. Und genau diese Rolle spielen die Sozialversicherungen für jene, die nicht vermögend sind – oder besser, die bisher nicht vermögend waren. Sie sind eine eigene Art von Vermögen. Castel: „Kann es so etwas wie ein Vermögen geben, das nicht privater Natur ist und doch einer Person zugeschrieben wird, das also sozial ist, aber privaten Nießbrauch offen steht? Dieser Stein der Weisen… hat sich schließlich finden lassen. Es sind die Leistungen der Pflichtversicherungen: ein Vermögen, dessen Ursprung und Funktionsregeln sozialer Natur sind, das aber die Funktion eines privaten Vermögens erfüllt.“

Diese Ansprüche des Einzelnen aus Sozialversicherungen sind, so Castel, „eine andere Eigentumsform, die nicht wie Geld zirkuliert und sich nicht wie eine Ware tauschen lässt.“ Das ist schon ein seltsames Eigentum, eine eigene Art von Vermögen. Es gibt mir die Sicherheit, dass ich mein Leben auch dann in Würde weiter führen kann, wenn mich eine schwere Krankheit ereilt, und ich weiß als 45jähriger schon – ungefähr -, dass ich später einmal eine Rente beziehen werde, die eine bestimmte Lebensführung erlauben wird (vielleicht nicht die selbe, wie ich sie jetzt führe, vielleicht schon, das variiert). Es ist ein Vermögen, das ich aber, im Unterschied zum Geld am Sparbuch, nicht heute schon ausgeben kann, und ich kann es, anders als etwa eine Immobilie, nicht heute schon einem anderen für einen bestimmten Gegenwert übertragen. Ich kann es nicht handeln.

Aber es hat dennoch genau die Wirkung, die früher allein die Vermögenden genießen konnten: es sichert ab und bietet daher die Möglichkeit, Risiken einzugehen, sich zu erproben, nicht in jedem Moment auf maximale Sicherheit achten zu müssen.

Was aber ein Vermögen ist, auf das spitzen immer auch andere. Vermögen kann man auch enteignen. Man kann sie oder Teile davon anderen zuschanzen. Und nicht zuletzt darum geht es immer auch bei der Reform von Sozialversicherungen. Ich kann, beispielsweise, die Beiträge zur Krankenversicherung öffentlichen Spitälern zugute kommen lassen oder davon einen Teil abzwicken und Privatkliniken von Schönheitschirurgen rüber schieben. Ich kann die Sicherheit, die die Arbeitslosenversicherung bietet, absenken, wenn ich ein Interesse an Arbeitnehmern habe, die sich unsicherer fühlen (weil sie sich dann vielleicht mehr gefallen lassen oder niedrigere Löhne akzeptieren).

Die Sozialversicherungen sind das Vermögen der normalen Leute und sie haben natürliche Feinde, die man daher am besten nicht im Kreise der normalen Leute suchen sollte.

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