Eine Art Tony Blair des Konservatismus

Angela Merkel trieb ihrer Partei die Flausen aus, das Rückwärtsgewandte, das Unzeitgemäße. Sie ist damit erfolgreich gescheitert.

Die Zeit, Oktober 2018

Es hatte schon etwas Entrücktes, als Angela Merkel ankündigte, nach dieser Legislaturperiode als Kanzlerin aufzuhören und auch nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Als wäre eine Kanzlerkandidatur 2021 noch irgendwie im Rahmen des Denkbaren gewesen. Als wäre nicht längst klar gewesen, dass Merkel nach dieser Periode aufhört. Die eigentliche Nachricht war selbstverständlich, dass sie jetzt schon den Parteivorsitz niederlegt. Und damit wohl aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht mehr allzu lange Kanzlerin bleibt. Denn seien wir realistisch: Eine Kanzlerin, die seit 13 Jahren im Amt ist und gerade wegen wachsendem Machtverfall den Parteivorsitz zurück legen musste, wird einem beschleunigten Machtverfall ausgesetzt sein. Jeder weiß, ihre Zeit in bald vorüber.

Man nehme nur für einen Augenblick an, Jens Spahn würde das Rennen um den Parteivorsitz gewinnen – eigentlich undenkbar, dass Merkel dann auch nur einen Tag länger Kanzlerin einer Union bliebe, die sich eben für das Gegenteil dessen entschieden hätte, wofür Merkel stand. Aber auch wenn Annegret Kramp-Karrenbauer die Konkurrenz für sich entscheidet, würde die Autorität von Merkel immer mehr schwinden. Eine Kanzlerin, die allgemein als Lame Duck angesehen würde, könnte die Große Koalition daher keineswegs in ruhigere Gewässer führen. Dabei ging es ja zuletzt schon rumpelig genug zu. Also auch dann kann man sich schwer vorstellen, dass Merkel noch allzu lange im Kanzleramt bleibt. Zumal ja eher naheliegend ist, dass die künftige Kanzlerkandidatin der Union ganz gern schon vor der nächsten Bundestagswahl in die erste Liga aufrücken würde wollen – auch aufmerksamkeitstechnisch gesehen. Und wenn das Hauen und Stechen zwischen den Parteiflügeln so aus dem Ruder läuft, dass jemand wie Armin Laschet als Einigungskandidat einspringen muss? Dann wäre erst recht naheliegend, dass er sein Beruhigungswerk gleich in Parteivorsitz und Kanzleramt entfaltet. Alles andere wäre einfach unlogisch.

Wie man es also dreht und wendet: Angela Merkel bleibt noch einige Monate oder sogar ein, zwei Jahre eine Kanzlerin ohne Autorität – das ist die eine Möglichkeit. Oder sie ist schon sehr viel eher auch keine Kanzlerin mehr – das ist die andere Möglichkeit. Die wahrscheinlichere.

Besonders beglückend ist keine von beiden. Nehmen wir nur die Europäische Union: der autoritäre Nationalismus gewinnt an Boden. Eine Politik der Rohheit macht sich breit, mag man sie „illiberale Demokratie“ nennen wie in Ungarn oder anders. Von Budapest bis Warschau, von Wien bis Rom werden Töne angeschlagen und wird eine Politik betrieben, wie man sie bis vor kurzem noch für unmöglich hielt. Es geht mit einer Rasanz bergab, dass einem vor Staunen der Mund offen steht. Angela Merkel als deutsche Kanzlerin erschien da zumindest noch als Bollwerk. Als eine der Zentralfiguren der europäischen Politik, die noch für Vernunft stand. Für Anstand in all dem Gehetze, für das Leise in all dem Geschrei.

Es ist nicht ohne Ironie, ja, fast ein Treppenwitz der Geschichte: es sind eher die Parteien und gesellschaftlichen Milieus Mitte-Rechts und ganz Rechts, die irgendwie aufatmen, dass Merkel demnächst Geschichte ist. Und es sind die von Mitte-Links bis ziemlich links, die jetzt eher erschrocken den Atem anhalten oder schon in Merkel-Melancholie verfallen. Wer hätte das gedacht: Eine Unionskanzlerin als heimliche Säulenheilige der Linken. Natürlich hat das mit ihrer Flüchtlingspolitik zu tun, aber nicht nur. Auch damit, dass man von ihr wenigstens keine antieuropäischen Eskapaden erwarten würde. Und dass sie keinen antiliberalen Versuchungen erliegen würde. All das, was heute nicht mehr selbstverständlich ist.

Merkel, eher von den Progressiven geachtet, von den Konservativen verdammt? Noch vor wenigen Jahren deutete recht wenig darauf hin, zumindest auf Ersteres. Da war sie das Gesicht der neoliberalen Härte in der Eurozone, jene, die als Folge der Finanzkrise, die sich in eine Staatsschuldenkrise verwandelte, das Heil in einer Austeritätspolitik suchte, die Banken, Investoren und Vermögende weitgehend schadlos hielt und die normalen Leute für die Krise bezahlen ließ – allen voran die Ärmsten in den sogenannten Krisenländern. Die Europäische Union setzte Merkel damals einer Zerreißprobe aus, indem sie das Narrativ vom fleißigen Norden und den faulen Südländern kräftig bediente. Aber schon damals blitzte gewissermaßen die andere Merkel durch: selbst bis in höchste Regierungskreise, etwa in Griechenland, hielt sich seinerzeit hartnäckig das Gerücht, der eigentliche Böse sei Wolfgang Schäuble und am Ende werde sich Merkel als konziliant zeigen. Eine Illusion, die sich nie erfüllen sollte.

Aber doch stimmt womöglich auch die Geschichte von der doppelten Merkel nicht: der Merkel vor und nach der Flüchtlingskrise. Denn natürlich modernisierte Merkel den Konservativismus. Sie trieb ihm seine sektiererischen Flausen aus, die Härte der Alfred-Dregger-Leute und die Bräsigkeit der Kohl-Jahre, seine Eigentümlichkeiten, seine Rückwärtsgewandtheit. Man kann auch sagen: seine Identität. Im Grunde machte sie nicht sehr viel anderes als die Sozialdemokraten aus der Ära des „Dritten Weges“, nur mit weniger Getöse. Im Wissen darum, dass sich Mehrheiten nicht mehr ohne die urbanen, modernen Mittelschichten gewinnen lassen, trieb sie dem Konservativismus alles aus, was diese abschrecken könnte. Damit hatte sie erheblichen Erfolg. Aber sie frustrierte die konservativen Kernschichten, so wie es die Sozialdemokraten auf andere Weise mit ihrem Kernklientel getan hatten (und auch fortwährend taten). Im Grunde erklärt das erst den regelrechten Hass, der Merkel seit dem Flüchtlingssommer 2015 aus diesen Milieus entgegenschlägt. Der hatte sich schon vorher nach und nach aufgebaut und die plötzliche Human-Touch-Kanzlerin brachte all das nur mehr zum Überlaufen. Wer „Merkel muss weg“ rief meinte im Grunde nicht nur die Flüchtlings-Merkel. Sondern die Modernisierungs-Merkel. Die Frauen-Merkel. Die Gesellschaftsliberalismus-Merkel. Die Entideologisierungs-Merkel. Das gesamte Paket.

Merkel ist erfolgreich gescheitert. Ihre Politik hatte ihre Berechtigung, sie hatte ihre Erfolge, aber sie hatte auch ihre Zeit. Betreibt man sie zu lange, setzt man die eigenen Leute einer Identitätskrise aus. Drängen sich alle in der Mitte, werden jene laut, die keppeln, dass das doch alles nicht mehr unterscheidbar sei. In diesem Sinn ist Merkels Zeit tatsächlich abgelaufen. Und das ist wahrscheinlich keine gute Nachricht.

Dass Besseres nachkommt, wirkt unwahrscheinlich.

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