Autohaus Kevin

Kühnheit statt Kleingeisterei: Natürlich muss darüber nachgedacht werden, ob ein wild gewordener Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sein kann.

taz, Mai 2019

Das muss man sich erst einmal vorstellen: Kevin Kühnert denkt darüber nach, wie eine postkapitalistische Gesellschaft einmal strukturiert sein könnte. Eine Zukunft mit vergesellschafteter, möglicherweise genossenschaftlich organisierter Produktion, in der die Demokratie vor den Werktoren nicht halt macht; in der Beschäftigte nicht nur Instrumente der Produktion sind; in der sozialdemokratische Reformpolitik sich auch nicht auf die Umverteilung von Gewinnen beschränkt, die am Markt realisiert werden, sondern die Produktion selbst beeinflusst. Wohlgemerkt: Er denkt darüber nach, er erhebt nicht einmal eine Forderung. Mehr noch: Er denkt darüber nach, weil die Interviewer ihn stur löchern. Die fragen drei Mal: Und, wie ist das dann konkret bei BMW? Als er dann höflich irgendwas zu BMW antwortet, ist plötzlich die Scheiße am Dampfen: Kühnert fordere, BMW zu verstaatlichen! DDR! Kollektivierung! Trabi! Die große Phrasendreschmaschine wird angeworfen.

Der Theatermacher Michael Herl hat das in der „Frankfurter Rundschau“ ganz richtig beschrieben: „Kühnert sagt die Wahrheit – und alle drehen durch.“

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Gewiss, Kühnert wird jetzt auch verteidigt. Hauptsächlich mit taktischen Erwägungen, wie etwa: Die SPD, kleingeistig wie sie geworden ist, muss mutiger und visionärer werden, und dafür brauche man genau solche Überlegungen wie Kühnert sie anstelle. Ein anderes lautet: Wenn die SPD provokante Thesen ins Gespräch bringt, dann ist die AfD abgemeldet. Eine dritte kommt hinzu: Alleine über Enteignungen zu sprechen ist schon sinnvoll, weil sich die globalisierten Eliten, die sich frech den ganzen Reichtum krallen, dann erschrecken – kann ja nicht schaden, wenn sie die Angst packt.

Diese taktischen Erwägungen sind ja keineswegs falsch und erinnern ein wenig an den grandiosen Karl Kraus, der einmal schrieb, dass er die ganze Idee und Praxis des Kommunismus nicht teile, „aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen… Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde“.

Ähnliche Gedanken hört man auch im Zusammenhang mit dem Berliner „Deutsche-Wohnen-Enteignen“-Volksbegehren: Allein aufgrund der Forderung werde die Frage des bezahlbaren Wohnraums in der politischen Arena plötzlich ernst genommen.

Zur Sache selbst: BMW ist jetzt sicherlich nicht das allerbeste Beispiel. Autoproduktion gehört nicht zur strategischen Infrastruktur einer Gesellschaft, es ist nicht lebensnotwendig, Autos zu besitzen. Man kann daher der Meinung sein, dass man eher andere Branchen der kapitalistischen Logik entziehen müsse. Etwa die Wohnungspolitik, die Energieversorgung, öffentlicher Verkehr, die strategische Infrastruktur wie Telekommunikation oder ähnliches, ja, auch die Finanzbranche, in der Marktkräfte ganz andere Wirkungen haben als etwa in der Güterproduktion, aufgrund des Herdentriebs von Investoren und aufgrund des irrationalen Überschwangs von überschwänglicher Hausse und depressiver Baisse, die für viele verheerende Wirkungen der Finanzmärkte verantwortlich sind.

Es braucht eher mehr Kühnheit als neoliberale Denkverbote – und kluge Überlegungen, was heute funktioniert und was nicht, und wie auf welche Weise ein revolutionärer Reformismus einen wild gewordenen Kapitalismus zähmen oder transformieren kann.

Wie man negative Effekte der Marktlogik ausschaltet, darüber kann man übrigens diskutieren: Soll man, beispielsweise, große Immobilienfirmen wirklich enteignen? Im „Roten Wien“, bis heute das bedeutendste Exempel für eine radikalreformerische Wohnungspolitik, ist man anders verfahren: Man hat die Immobilienbesitzer hart besteuert, strengste Mieterschutzgesetze erlassen, und durch die eingenommenen Steuern sehr viel zusätzlichen öffentlichen Wohnraum geschaffen. Bis heute kontrolliert die Stadt Wien mit ihren Gemeindewohnungen damit rund 50 Prozent des Marktes. Perfekte Strategie war das.

Man sollte nicht übersehen, dass bei dieser „Sozialismus“-Debatte zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Fragen aufgeworfen werden: die Frage der Versorgung der Bürger mit lebensnotwendigen Gütern, wie sichergestellt ist, dass es zu diesen Gütern einen bezahlbaren, egalitären Zugang gibt; und die Frage, wie die Beschäftigten in den Unternehmen gestellt sind, die diese Güter produzieren. Sind sie berechtigt, mitzusprechen? Oder sind sie nur Räderwerk in der Produktion? Wer sackt die Profite ein? Weitere Kompliziertheiten folgen auf den Fuß: soll das Wettbewerbsprinzip des Kapitalismus sistiert werden? Dann würde die Produktion womöglich lahmer, Druck zur Innovation fiele weg. Die Produktivität würde kaum mehr steigen, wir alle wären am Ende ärmer. Oder soll das Konkurrenzprinzip weiter gelten? Aber wie genau würde sich dann ein vergesellschafteter Betrieb von einem kapitalistischen unterscheiden? Also: Wie verbindet man radikale Freiheit und höchste Effizienz?

Schon heute gibt es in vielen Ländern Branchen, in denen genossenschaftliche Produktion gang und gäbe ist, es gibt auch Volkswirtschaften, in denen sich neue Formen der Eigentümerschaft ausbreiten. In Krisenphasen sind genossenschaftliche Firmen sogar robuster als privatkapitalistische, weil die Belegschaften mehr zusammen halten. Und die Beschäftigten fühlen sich respektvoller behandelt, was gerade in einer Zeit nicht irrelevant ist, in der sich immer mehr Menschen als Instrumente behandelt sehen, als Kostenfaktoren auf zwei Beinen, die man kommandieren und auch aussortieren kann. Regierungen sollten Sektoren der „kooperativen Produktion“ hätscheln, meint etwa Paul Mason in seinem Buch „Postkapitalismus“, sie sollten sie „unterstützen und schützen“.

Eine Sozialdemokratie, die auf sich hält, darf solche Gedanken nicht nur anstellen – sie muss das sogar.

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